2.12.

Das Schönste am Reisen finde ich, gleich nach dem Aus-dem-dabei-aus-dem-Fenster-schauen, dass ich vorher noch alles aufessen muss, was ich an leicht verderblichen Nahrungsmitteln zuhause auffinde. Das Reisen selbst kommt viel weiter hinten, ungefähr auf Platz sieben. Wie Rainald Goetz schrieb, ist nicht etwa weniger mehr, sondern mehr ist mehr. Und ganz genau so finde ich, dass nicht der Weg das Ziel ist, sondern das Ziel ist das Ziel.

Da es draußen mittlerweile nicht mehr bloß regnete wie in den Tagen zuvor, sondern nach Sonnenaufgang auch noch angefangen hatte zu stürmen, gedachte ich die auf der Anrichte versammelten Zutaten zu einer stärkenden, betont winterlichen Speise zusammenzurühren.

Das Konzept solcher Resteverwertung mit Pfiff fand ich einst in Peter Fischers Schlaraffenland nimms in die Hand, einem »Kochbuch für Kooperativen und isolierte Einzelfresser«. Aber auch wenn Adelige zu Besuch kommen, kann mein Feuertopf des Rotchinesischen Pflügersgesellen* auf den Tisch (den stilechterweise kein Tischtuch bedeckt). Adelige lieben, lieben und lieben nichts so sehr wie Erzählungen von Armut und Vertreibung. Und was ist eine gut gekochte Speise denn anderes als eine Erzählung. Heißt es nicht, wenn etwas sehr gemundet hat, und alle satt und glücklich sich das vorgestreckte Bäuchlein reiben: »Ein Gedicht!«. Na gut, vielleicht noch in den Fünfzigerjahren, als Johannes Mario Simmel Es muss nicht immer Kaviar sein geschrieben hatte. (Ich habe es neulich erst wieder durchgeschaut; die Rezepte, die ich als Kind noch märchenhaft verschlemmt fand, wirken heute einfach bloß noch bizarr und beinahe eklon: »man nehme drei Pfund Speisestärke«, so geht das immer los.)

Am Vorabend der Abreise (für Adelige: am Vorabend der Vertreibung aus dem Stammschloss, in dem Jahrzehnte später ein Penny eröffnen würde) erhitze ich alles an kleingeschnittenen Zwiebeln und sonstigen Würzpflanzen, die entweder nicht in den Kühlschrank dürfen, oder aber darin nicht lange genug ausharren könnten, ohne zu Schleim zu zerfallen. Öl oder dergleichen nicht vergessen. Ich versuche hier das Wort »Anschwitzen« zu vermeiden. Dazu nach einiger Zeit (glasig klingt, finde ich, ebenfalls schauderhaft) alles an Wurzelgemüse und Karotten. Grund: siehe Würzpflanzen. Fleischbrühe angießen. Aber nicht zu einer Suppe verlängern, sondern allenfalls knapp bis an die Oberschicht der Gemüsewürfel. (Im Französischen spricht man sinnigerweise von einer court bouillon; alas, die haben halt auch das Kochen erfunden – übrigens sogar die Pizza! Eingedenks der sattsam bekannten Tatsache, dass die Nudel in China erfunden wurde, stehen die in kulinarischen Dingen meiner Ansicht nach maßlos überschätzten Italiener sozusagen mit leeren Händen da. Tja!) Hier hinein werfe ich handvollweise getrocknete Chilischoten aus Szechuan. Es ist die einzige Spezialzutat. Und es müssen unbedingt diese sein. Zu der Zeit, da Peter Fischer sein Kochbuch verfasste, waren übrigens solche herrlichen Dinge in Deutschland nur extrem schwer aufzutreiben. Schon Kapern, auch Oliven, stellten die Nachkochenden solcher Rezepte vor logistische Probleme. Manche Stellen lesen sich von daher wie Aufrufe zur Beschaffungskriminalität. Also ähnlich wie bei Simmel, bloß geht es halt mit Bolzenschneidern los. Die Schoten quellen in der court buillon rasch auf und werden weich. Sie geben einen rauchigen Geschmack ab und sind viel weniger scharf als gefürchtet. Und ihre Schärfe wirkt wärmend (fühlt sich an, kann ich nicht mehr hören!!!), deshalb müssen es unbedingt diese Chilischoten sein, sonst kann man das Zeug lieber gleich wegwerfen. Was schade wäre, außerdem Geldverschwendung. Den Herd ausstellen, wer’s sicher mag, kann jetzt auch schon die Hauptsicherung rausschrauben (man weiß übrigens tatsächlich nie, und niemand kennt seine Zukunft). Adelige lieben Kerzenlicht. Gerade wenn es lauter unterschiedlich kurz abgebrannte sind. Wie gesagt: Reste, Armut, Flucht und Vertreibung (wenn man das ganz oft hintereinander vor sich hinsagt, sieht man die Dampflok förmlich schon vor sich; und es wird Winter und kalt, und wie!)

Auf die heiße Suppe lege ich eine frische Leberwurst und eine Blutwurst. Ich rate zu denen vom Schlachter Haase auf der Hauptstraße, die nicht nur andauernd Goldmedaillen damit gewinnen (und zwar sogar in Frankreich!!!), sondern auch wirklich sehr köstliche Würste, tja: Stopfen? Mengen? Schlicht verkaufen? Deckel drauf, dann platzen die Pellen schon nach kurzer Zeit, die nehme ich raus und mische extreme Mengen kleingeschnittener (nicht gehackter) Petersilie – unters Volk hätte ich beinahe geschrieben. Mit extrem meine ich extrem. Das Mischungsverhältnis graubraun und grün sollte eins zu eins betragen, sonst schmeckt es nicht so wie bei mir. Ebenfalls extrem pfeffern. Salz wie jeder will.

Das Gericht sieht übrigens nach herrischem Durchrühren genauso aus, wie es schmeckt: genial gut. Na ja, dann hat man wenigstens was, worauf man sein Heimweh kaprizieren könnte, wenn dann das Ziel erst mal erreicht ist. Und das Ziel will erreicht werden – durchaus ein Umstand, dessen Merkwürdigkeit eigens bedacht werden sollte. Aber, auch das lernt man von Adeligen: Kochen kann man überall. Und mit allem. Oder wie es der Adelige ausdrückt, wenn er sich die Hände gewaschen hat: Seife ist ja sowas Schönes.

* Den Titel habe ich in Anlehnung an eine sogenannte Beilwetzers Fuhre geschöpft, die mir vor vielen vielen Jahren einmal auf einer Reise im schönen Melsungen serviert worden war.