22.10.2019

Aufgrund eines Missverständnisses mit meinem Friseur trage ich mein Haar seit gestern im Stil der Zeit. Zunächst war ich von meinem Anblick befremdet, als ich meine Brille wieder aufsetzen durfte, und mich mit der neuen Frisur im Spiegel sah. Dann aber fiel mir auf, dass ja alle um mich herum: die Friseure in der Goldenen Schere inbegriffen, aber dort auch die noch in den Friseursstühlen sitzenden Kunden, die noch  Wartenden mit ihren Telefonen beschäftigten und beinahe sämtliche männliche Passanten, die draussen vor den grossen Fenstern des Salons die Münchener Strasse hinauf- oder heruntergingen, einen Haarschnitt dieses Typs wie es früher noch geheissen hatte sporteten. Endlich also war ich zum Teil einer Bewegung geworden. Zwar bloss einer Männerbewegung, dafür aber einer altergruppenübergreifenden. Von daher: immerhin.

Am Vortage waren wir vor dem Gang hinunter ans Mainufer noch vor einer Weinstube auf dem Römer herumgelungert, weil man von dort aus, so Friederike, sehr schön die Menschen beobachten kann. Vor allem waren es Männer aus Südamerika, die, das faszinierte mich wie eh und je, mit ihrem beneidenswert dichten wie dicken und rabenblauschwarz schimmernden Haar prunkend, sich auf der Stelle hin in alle Himmelsrichtungen drehten und anschauen liessen wie Figuren eines Glockenspiels. Dann trat mit einem Mal ein Mann aus unseren Gefilden auf und blieb, auch er, wie um sich uns zu zeigen, in einer Pose verharrend stehen und schlug die Hälfte seines wollfarbenen Mantels auf wie die Seite seines Buches, raffte die hinter seinem linken Arm mit dessen daran befestigten Hand, die ihm jetzt als Agaffe nützlich wurde, die er, um den Faltenwurf zu gürten, in die linke Hosentasche seiner Blue Jeans schob. 

Dieser Mann war das Bild des deutschen Mannes zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aus modischer Sicht, selbstverständlich. Sein grau meliertes Haar war natürlich in eben dieser Frisur geschnitten, die auch mir am nächsten Tage geschnitten werden sollte. Allerdings ahnte ich davon am Vortage noch nichts.

Jetzt hat ja der Bayerische Jungbauernbund seinen Jungbauernkalender präsentiert. Er ist wie in jedem Jahr natürlich in zwei Ausführungen erhältlich, streng segregiert nach Jungbäuerinnen und Jungbauern. Die weiblichen Bauern interessieren mich persönlich ungleich mehr, es gibt auch eine schöne Forstwirtin zu sehen!, aber für die Ästhetische Theorie der Männerbewegung sind freilich die Jungbauern wichtig. Man glaubt nämlich bloss, vor allem ich, wenn ich mich an mein Heimatdorf erinnere, dass Jungbauern irgendwie allenfalls interessant verwachsene, in jedem Fall vor allem natürliche Burschen waren und sind. Der Jungbauernkalender zeigt auf jedem Blatt ein am ganzen Körper glatt rasiertes, im Grunde überpflegtes, an den Bauchmuskeln legosteinhaft modelliertes Mannsbild mit eben dieser Frisur, wie sie jetzt alle tragen: Jungbullen, Identitäre, Migranten und ich. Einer der Jungbauern macht splitternackt, im Adamskostüm ohne Feigenblatt, auf seiner von der Sonne verwöhnten Weide einen Doppelaxel wie das tote Murmeltier neulich, um einen Apfel vom Zweige zu drehen. Dabei spannt er den Glutaeus maximus auf allernatürlichste Weise. Zum Anbeissen schaut das aus. In der sogenannten Landlust findet so etwas nicht statt. 

Abends waren wir in «Joker». Joaquin Phoenix tanzt grandios.