22.3.

Neulich las ich in einem Gespräch mit Pamela Rosenkranz, dass Menschen die Farbe Blau deshalb so schön finden, schöner als andere Farben, weil sie evolutionsbiologisch auf eine angenehme Wahrnehmung dieser Lichtwellen programmiert sind. Das leuchtete mir sozusagen ein, wenngleich ich mich frage, weshalb es dann im Altgriechischen kein Wort für Blau gibt. Gerade da, im alten Griechenland, war doch von Natur aus extrem viel blau. Möglicherweise, aber unwahrscheinlich bleibt es, war für diese Generationen die Allgegenwart von Himmel und Meer selbstverständlich, beziehungsweise war das Wetter beinahe immer gleichbleibend gut, sodass sie nur bei Gewitter und Nacht die Farbveränderung beschreiben mussten oder wollten. Kleider in dieser Farbe gab es dann halt einfach nicht, oder sie waren himmlisch oder meerhaft gefärbt (so wie im Deutschen von etwas behauptet wird, es sei orange.)

Draußen, unter blauem Himmel, saß ich auf dem Walter-Benjamin-Platz und aß eine Matjesmuschel. Das hatte ich mir jetzt schon wochenlang vorgenommen, seit ich im Schaufenster der Lehrbäckerei dort die Schiefertafel auf einer winzigen Staffelei entdeckt hatte. Darauf stand, in einer den Kreidestrich nachahmenden weißen Tinte: „Neu! Matjesmuschel“, sowie der Preis. Es gibt viel zu selten Innovationen auf dem Sektor belegter Brötchen. Vor zwei Jahren führte die Bäckereienkette Steinecke den Brögel ein, einen Hybrid aus Brötchen und Bagel, der mit Amaranth bestreut serviert wurde. Aber belegt wurde der dann wenig innovativ, aber immerhin war es ein Brötchen mit Loch und das gab es zuvor halt noch nicht. Die Matjesmuschel wiederum ist ein vergleichsweise von Grund auf neu gedachtes belegtes Brötchen. Schon das im Namen angekündigte Brötchen gibt es solo nicht. Es ist tatsächlich geformt wie eine Muschel, wie man sie vom Markenzeichen der Tankstellenkette Shell erinnert (oder, wenn man älter ist, aus dem Eiscafé, als dort in den Eiscafés noch geraucht werden durfte und auf den Marmortischplatten waren die Schalen von Jakobsmuscheln aufgestellt, als Aschenbecher, weil das Aschen in die Schalen von Jakobsmuscheln als etwas typisch Italienisches galt). Diese gebackene Muschel aus Teig wird quer aufgeschnitten, sodass ein typisch muschelhaftes Aufklappen der beiden Hälften möglich ist. Dieses Muschelmaul, aus der Sesamstraße erinnert man das Klappern des niedlichen Muschelchorgesangs, wird dann, eventuell vom Erfinder der Matjesmuschel selbst, mit zwei Filets vom Matjeshering gestopft. Darauf liegen, sorgsam zum Symbol der Olympischen Spiele arrangiert, in feine Ringe geschnittene Zwiebeln. Keine Butter. Was ich begrüße. Dafür aber leider Salat. Eine Unsitte, was soll das? Es ist reine Augenwischerei, dass aus jedem, wirklich jedem, sogar aus Wurstbrötchen oder solchen mit einer Scheibe Käse, wo es nun wirklich kein Salatblatt mehr braucht, um den Wohlgeschmack noch zu heben, trotzdem noch eines heraushängt (oder, noch schlimmer: kräuselt, denn mittlerweile scheint der sogenannte Lollo Bionda den Eisbergsalat und auch Rucola aus der Poleposition im Salatpflanzengame und so weiter und so fort). Ich zupfte das Grün aus der Muschel und warf es in einen Aschenbecher aus Kruppstahl, den Hans Kollhoff, wie alles auf und an und um den Walter-Benjamin-Platz herum für die Ewigkeit entworfen hatte. Aber leider, das würde ich ihm selbst natürlich niemals sagen, altert sein Walter-Benjamin-Platz wirklich schlecht. Mittlerweile wirkt sein innerstädtisches Gepräge auf mich wie die Stalinallee, früher. Bloß halt noch dazu viel zu niedrig, eng und kurz. Mit einem Wort: missraten. Aber gut, das Grundstück war halt auch von seinem Schnitt her viel zu schmal und kurz für Hans Kollhoffs Visionen von einem innerstädtischen Quartier. Von daher trifft den Architekten nur eine geringe Schuld. Die Leute nehmen den Platz auch noch immer nicht gut an. Ich war dort der einzige, der auf der neorational gestalteten Piazza in der Sonne saß. Mit meiner Matjesmuschel. Dann kamen die weißen Wolken zurück.