22.7.

Eigentlich hatte ich die Kritik der zynischen Vernunft zur Hand genommen, weil es dort im zweiten Band, im 12. Kapitel des historischen Hauptstückes, um die Hochstapelei geht, und ich mir davon Hinweise zur Erklärung des Falles dieser SPD-Frau Hinz versprach, war dann aber sozusagen im Vorbeiblättern weiter vorne hängengeblieben. Auf jene Weise, wie es mir manchmal geschieht, dass ich tatsächlich wie im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel jemanden oder etwas erkannt zu haben glaube, zwar längst schon weiter bin auf meiner Wegstrecke, aber der flüchtige Eindruck haftet und will sich behaupten, mich für ihn einnehmen, sodass ich dann anhalte, umkehre, und an die Stelle zurückkehre, um mich vergewissern zu können. Und so auch in diesem Fall.

Dort stand: »Für das türkische Volk darf man es fast als ein großes Glück betrachten, daß die Zeit seiner schleichenden Erkrankung plötzlich in einer so furchtbaren Katastrophe abgekürzt wurde, denn im anderen Fall wäre die Nation wohl langsamer, aber um so sicherer zugrunde gegangen…
Es ist dann schon ein – freilich bitteres Glück –, wenn das Schicksal sich entschließt, in diesen langsamen Fäulnisprozeß einzugreifen, und mit plötzlichem Schlage das Ende der Krankheit dem von ihr Erfaßten vor Augen führt … Denn darauf kommt eine solche Katastrophe öfter als einmal hinaus. Sie kann dann leicht zur Ursache einer nun mit äußerster Entschlossenheit einsetzender Heilung werden.«

Dazu Peter Sloterdijk: »›Bitteres Glück‹: Dies ist der schärfste Ausdruck der völkischen Dialektik. Politischer Sadismus in medizinischen Metaphern? Pathologischer Zynismus in politischen Metaphern? Schon in der Geburtsstunde der Republik sind ganz rechts und ganz links die politischen Chirurgen in Stellung gegangen und schleifen die ideologischen Messer, mit denen man dem türkischen Patienten das Krebsübel herausschneiden will. Beide interessieren sich kaum für den aktuellen Zustand der Türkei. Sie blicken in die Zukunft und träumen von dem Tag, an dem die große Operation stattfinden kann.«

Der gesuchte Eintrag »Zur Naturgeschichte der Täuschung. Von deutscher Hochstapler-Republik« enthielt dann folgende Analyse: »Es erwies sich in jenen Jahren als allgegenwärtiges Existenzrisiko, daß hinter allem soliden Schein das Haltlose und Chaotische auftauchte. Eine Umwälzung vollzog sich in jenen Tiefenbezirken kollektiver Lebensgefühle, in denen die Ontologie des Alltags entworfen wird: ein dumpfes Gefühl von der Unfestigkeit der Dinge drang in die Seelen ein, ein Gefühl des Substanzmangels, der Relativität, des beschleunigten Wechsels und des unfreiwilligen Flottierens von Übergang zu Übergang.
Diese Aufweichung des Gefühls für das Zuverlässige mündet in eine kollektiv verbreitete Angstwut gegen die Modernität. Denn diese ist der Inbegriff von Verhältnissen, in denen alles eben nur ›verhältnismäßig‹ erscheint und auf Wandel angelegt ist. Aus dieser Angstwut formt sich leicht eine Bereitschaft, sich von diesem unbequemen Weltzustand abzuwenden und den Haß gegen diesen umzuformen in ein Ja zu gesellschaftlich-politischen und ideologischen Bewegungen, die die größte Vereinfachung und die energischste Rückkehr zu ›substantiellen‹ und zuverlässigen Verhältnissen versprechen. Hier begegnet uns das Ideologieproblem von einer sozusagen psycho-ökonomischen Seite. Der Faschismus und seine Nebenströmungen waren ja – philosophisch gesprochen – zu einem guten Teil Vereinfachungsbewegungen. Aber daß gerade die Marktschreier der neuen Einfachheit (gut – böse, Freund – Feind, ›Front‹, ›Identität‹, ›Bindung‹) ihrerseits durch die moderne und nihilistische Schule der Rafinessen, des Bluffs und der Täuschung gegangen sind – das sollte den Massen erst viel zu spät klarwerden. Die so einfach klingenden ›Lösungen‹, das ›Positive‹, die neue ›Stabilität‹, die neue Wesentlichkeit und Sicherheit: das sind doch Strukturen, die im Unterirdischen noch komplexer sind als die Kompliziertheiten des modernen Lebens, gegen die sie sich wehren. Denn sie sind defensive und reaktive Gebilde – zusammengesetzt aus modernen Erfahrungen und Leugnungen derselben. Die Antimoderne ist womöglich moderner und komplexer als das, was sie ablehnt; auf jeden Fall ist sie trüber, dumpfer, brutaler, zynischer.
In einer so ›verunsicherten‹ Welt wuchs der Hochstapler zum Zeittypus par excellence heran.«

Ich schaute auf und blinzelte in die Sonne. Bauschig, bläulich, beinahe brav saßen die quadratisch geformten Wolken nebeneinander wie Buchteln in ihrer Form. Ein Hund, dem Klang seiner Stimme nach war’s ein Hündchen, empörte sich in einem Staccato, elf Minuten lang. Dann war entweder jemand gekommen, ihm zu helfen, oder er war verendet (ich konnte das durch die Hecke nicht sehen). Die Kinder betraten die Terrasse mit Xylophon und Batteriegitarre, mit Ukulele und mit einer Rumbarassel, um ein Konzert zu geben. Ich ging lieber schwimmen. Jagte das Blässhuhn auf Augenhöhe, woraufhin es sich in einer fish or cut bait-Panik dazu entschließen musste, vor mir davon zu fliegen. Ich verfing mich in Wasserpflanzen, die legten sich wie ganz lange, klebrige Finger um meine Knöchel.

Milena schenkte mir einen Aal.