23.1.

Etwa in der Mitte von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wird ein Telefon eingeführt. Und mit dem Apparat wird dem System der Qualen, das der Erzähler sich gebaut hat, eine zusätzliche Funktion hinzugefügt: Warten neben dem Telefon. Warten auf einen Anruf von Albertine.

Wobei das Warten auf einen Rückruf, nach der Bitte auf einen Rückruf, sich noch quälender anfühlen kann, als auf einen Anruf, der von sich aus nicht kommt oder kommen will. Qualia der Qual, ein ozeanisches Thema.

In der allerersten SMS, die, Jahrzehnte sind es mittlerweile, verschickt wurde; einfach bloß, um die Leistungsfähigkeit des Trägersignals von Mobilfunkfrequenzen zu testen, stand »Happy Christmas« – was denn auch sonst!

»Hallo!« wäre noch denkbar. Oder »Hey!«

SMS sind inzwischen selten geworden, dadurch auch wertvoll. Wie Postkarten. Meine allererste E-Mail-Adresse bestand aus einer vier Zentimeter langen Zahlenkombination@compuserve.com. Vor zwei Jahren hatte ich Heimweh nach dieser Adresse, aber sie ließ sich nicht mehr reaktivieren. Compuserve gehört heute zu AOL. Eine bei AOL hatte ich zwischendurch auch mal. Die coolste E-Mail-Adresse, die ich kenne, gehört Ralf Hütter.

Auf der Party von Dandy Diary in diesem Lagerhaus in der Voltairestraße, das ich zuvor noch nie wahrgenommen hatte, was mich nicht wunderte, weil diese Straße gleich hinter dem grässlichen Kaufhaus mit der roten Fassade verläuft, zog ich irgendwann mein Telefon heraus, um nach der Uhrzeit zu schauen, da sagte eine Person mir gegenüber: »Hä – was ist das denn? Damit kann man ja gar nicht bloggen!«

Dafür hat das 6310 aber Infrarot!!!

Gestern ist es mir wieder einmal runtergefallen, und seither klackern hinter dem Gehäuse im Hörmuschelbereich losgebrochene Teile, sobald ich das Gerät schüttele.

Schüttele ich es halt nicht mehr.

Beinahe schlimmer, nein: viel schlimmer als ein Anruf, der nicht kommt, ist der Anruf von Falschen. Also von Anrufern, auf deren Anruf man nicht wartet. Qualia des Anrufes: Mag er auch noch so nett gemeint, noch so erfreulich von seinem Inhalt her, von seiner Ausdehnung über die Gesprächszeit gemessen – es bleibt die falsche Person, die mich anruft; ich hatte mich nach dem Anruf einer anderen Person, nach ihrer Stimme gesehnt. Das Sehnen nach dieser Person und ihrer Gegenwart, transportiert und vermittelt durch ihre Stimme, hat die Intensität meiner Qual bestimmt. Auch deren Beschaffenheit, die Qualia der Qual, die charakteristisch geworden ist für mein Warten auf einen Anruf dieser Person; unverwechselbar durch meine Erinnerungen an all die vorhergegangenen Telefonate mit dieser Person.

Die geliebte Stimme. Im Nachhinein erhellt sich bei mir eine Fotografie davon, ein historisches Dokument, das zugleich vage bleibt, weil es allein in seiner Gänze fassbar geworden ist und nicht etwa in Partikeln, den einzelnen Lauten oder Sätzen. Wie Sämtliches in meiner Erinnerung, besteht auch die Erinnerung an Telefongespräche jeweils aus Bildern.

Telefonate mit der Muse bestehen aus Ringen in hellem Blau und Beige. Ich weiß, das kommt daher, dass wir einmal sechzehn Stunden am Stück telefoniert haben und irgendwann war ich körperlich so am Ende, obwohl ich natürlich unbedingt weiterhin empfangen wollte und auch etwas senden, aber über sechzehn Stunden: Wenn man da keine Energieriegel zu sich nimmt und

a) viel zu wenig

und

b) dann auch noch das Falsche trinkt,

dazu

c) die Hormone das Gehirn dergestalt grillen, dass

es irgendwann schlapp macht, beziehungsweise: knipst es dann einen Bildschirmschoner an. Effektiv ist es ein Wahrnehmungsschoner und in dem Fall war das ein Kaleidoskop aus beigen und hellblauen Ringen, deren Formen sich mein Gehirn von den Lochverstärkungsringen geliehen hatte, diesen Aufklebern, mit denen man bei oft benötigten Papieren die Lochungen durch selbstklebende Ringe aus weißer Polyurethan-Folie verstärkt.

Aus derart willkürlichen Geistesblitzen, aus Farbe und Form entsteht dann also eine Urszene, die mein Verhältnis zu einer anrufenden Person fürderhin prägen wird.

Für Dich, sagt die Muse, soll es Fantastillionen hellblauer und beiger Ringe regnen

Dir sollen noch krasseste Wunder begegnen

Die sogenannte Welt, auch deine, soll sich gefälligst mal umgestalten

Und ihre Sorgen für sich behalten

Auf der Party des Zeitmagazins traf ich Frédéric Schwilden, der ja in echt so aussieht wie Marcel Proust auf den Gemälden. Insbesondere wie auf jenem von Jacques-Émile Blanche, das als Postkarte auf meinem Schreibtisch vor mir steht und mich ansieht. Am Morgen nach dieser Party wurde mir aber klar, dass von den einst noch sehr vielen Dingen beinahe nichts mehr übrig geblieben ist, wovon ich Marcel Proust gern erzählen würde. Außer: dass es mit einem Telefon zum Herumtragen nicht etwa besser würde mit seinem Warten auf Albertine. Den letzten Satz könnte man eventuell streichen, aber ganz unwichtig wäre es für Proust eben doch nicht: es würde eventuell sogar noch schlimmer dadurch.