23.8.

In der Nähe der Redaktion war ein Friseursalon eröffnet worden, der mein Zutrauen geweckt hatte. Trotz seines Namens, der in Leuchtbuchstaben über dem Eingang befestigt war: One Million. Was sich ohnehin als Abkürzung heraustellte, denn quer über den großzügig bemessenen Blechsockel des Empfangstresens im schattigen Hinterzimmer stand er vollends ausgeschrieben als The House of One Million Hairstyles. Was in Anbetracht der ungefähr in Millionenstärke dort beschäftigten Friseure und deren Frisuren übertrieben wirkte, denn die Frisuren der Friseure dort im Reich der vielen Frisuren waren sämtlich identisch. So wie auch draußen, bei den übrigen Männern in dieser Altersgruppe: Sie zeigten die Frisur ihrer Ära, die Frisur Shahak Shapiras, bloß halt in dunkleren Farben.

Dementsprechend ratlos betastete der mir zugeteilte Friseur dann mein Haar, in dessen seidenzarte Struktur sich kein Scheitel einrasieren lässt. Auch war seit meinem letzten Friseurbesuch im Frühling einige Zeit vergangen. Ich sah also so aus wie Peter Handke, wenn er sich im Wald mal so richtig verspätet hatte.

Aus dem opulenten Soundsystem mit seinen allüberal in den Winkeln des Gründerzeitstucks verborgenen Lautsprechern tönte die Stimme von Haftbefehl, der seinen Text über die Parallelen vortrug. Mein Friseur war eher vom schweigsamen Typ, wie es mir lieb ist. Um ihm zu bedeuten, wie und vor allem wo er zu schneiden hatte, bediente ich mich einer Verständigungstechnik, die mir vom Feuergeben in diesen Kulturen vertraut gemacht worden war: Man reicht dem Habibi die Flamme des Feuerzeugs mitsamt einer die Flamme vor dem Wind bergenden, um die Flamme gekrümmten Fläche der freien Hand, er neigt sich mit seinem papierosy der Flamme zu und klopft dann mit den Fingerspitzen zweimal sacht auf die bergende Hand, wenn er sich an dem geborgten Feuer gütlich getan. Der ganze Vorgang hat wortlos vor sich zu gehen. Eine Geste der Brüderlichkeit, des reinen Gebens und Nehmens. Und so klopfte ich dann auch jeweils zweimal mit den Fingerspitzen auf seine Scherenhand, wenn er meinem Gefühl nach genug abgeschnitten hatte von einer Strähne. Nach einigen Malen, so rasch erreichten wir das Plateau wortloser Verständigung, schnitt er dann ganz in meinem Sinne und bedurfte keiner Korrekturen mehr. Die Haarschneidemaschine, an den übrigen Plätzen surrten die ohne Unterlass, blieb in ihrer Ladestation vor dem Spiegel. Es stehen dort jedem Friseur gleich zwei davon zur Verfügung – eine ist im Betrieb, die andere lädt schon nach – weil die Frisur unserer Ära eine Maschinenfrisur ist.

Danach gönnte ich mir in dem seltsamen chinesischen Restaurant namens Selig das Gericht mit dem Namen Böser Chinese, von dem einem die Kellner dort immer abraten wollen, indem sie ein Schweppes-Gesicht machen, weil es angeblich viel zu scharf ist, was aber nicht stimmt. Man sitzt dort in einem extrem langen, extrem schmalen Gang zur unendlich weit entfernten Küche mit dem Rücken zur Wand und schaut auf lauter gerahmte Bilder von Mao Tse-tung. Dokumentiert sind diverse Momente aus seinem Leben, nichts Großartiges: Mao beim Angeln, Mao beim Warten, Mao trinkt Tee. Der Böse Chinese besteht aus einer Schüssel, in der ein zerhackter Karpfen in einer siegellackfarbenen Brühe schwimmt. Man fischt die Stücke heraus, die Brühe lässt man stehen. Sie schmeckt extrem gut, enthält reichlich Sternanis, weswegen man vom sumpfigen Eigengeschmack des Karpfens nichts mehr mitbekommt. Durch den hohen Anteil diverser Pfeffersorten in der Brühe, fangen einem bald die Lippen an zu prickeln, als hätte man eine seltene Droge genommen. Scharf, aber nie zu scharf, sodass man immer nur weiter schlürfen will, um die hypnotische Wirkung des Gerichts weiter auskosten zu können. Im Prinzip ist es eine kulinarische Interpretation der Lieblingsfoltermethode von Maos letzter Ehefrau, des Lingchi, besser bekannt als der Death by a Thousand Cuts.