23.9.

Kurz dauert die Überfahrt im kleinen Motorboot und man erreicht die Insel Jerolim, die einst für ihren Nacktbadestrand berühmt war. Den Strand mitsamt den darauf im Sonnenschein lagernden Nackten gibt es noch immer. Die Amo Bar im Kiefernwäldchen scheint unverändert seit den siebziger Jahren. Mit grellen Farben bemalte Bruchstücke von Ästen und Brettern sind Wegweiser oder Hinweisschilder, denn gerade die Freikörperkultur braucht Reglement. Ein dicker, aufrecht in den felsigen Inselgrund gerammter Stamm trägt ein Schild mit der Aufschrift Nudists Welcome since 1896. Der Stamm, der durch ein ovales Loch aus diesem Schild herausstößt, ist an seinem oberen Ende kuppelhaft abgeschmirgelt, dazu noch auf der Mitte dieser Kuppelform suggestiv eingekerbt und mit blutroter Farbe überschüttet. Auf einer weiteren Hinweistafel sind die Grundregeln der FKK festgehalten. Beispielsweise geht es um eine angemessene Kultur des Schauens: »A certain curiosity is natural. But don’t ogle!«

Wer das nicht einhalten will oder kann, findet noch jede Menge anderer Buchten auf dieser Insel, die insgesamt nicht groß ist, so dass sie sich in zwanzig Minuten zu Fuß umrunden läßt. Das Meer ist dort überall von sehr guter Qualität. Und Äugeln darf man hier nach Herzenslust. Wenn gerade kein Schiff heranfährt, gibt es nichts zu sehen, was an die Gegenwart erinnern könnte. Man liegt unter einer krummen Kiefer auf einem weißen Felsen und schaut auf die benachbarte Insel, die aus krummen Kiefern und weißen Felsen besteht. Keine Stromleitungen, keine Abfallkörbe, keine anderen Menschen. Man schaut auf das ewige Wasser, in den ewigen Himmel, und ich träume dann gern von der Zeit vor 2400 Jahren, als die Abgesandten von der Peloponnes hier zum ersten Mal anlandeten. Vielleicht gab es um einiges mehr Vögel, auch noch andere Arten, und das klare Wasser in der Bucht war vermutlich noch derart voll gesteckt mit Fischen, es wimmelte, aber die Felsen waren schon genau so kantig und von Milliarden Sonnenstunden ausgebleicht. Die Boten wurden ausgesandt, um die Insel zu erkunden. Manche kamen nie wieder zurück. Das Land wurde vermessen und auf eine Karte eingezeichnet. Der Kapitän war in einen Seeigel getreten und in der darauffolgenden Nacht wurde ihm das Bein abgesägt. Damals gab es noch keinen Trinkwasseranschluß auf der Insel, also gab es einige barsche Kommandos in altgriechischer Sprache, die Segel wurden gesetzt.

Bei der Rückkehr in den Hafen von Hvar ließen wir die Schuhe aus und gingen barfuß an der ewigen Stadtmauer entlang. Die Steinplatten dort sind über unzählige Jahre von unzähligen Schritten zu Fußschmeichlern poliert. Beim Gehen über diese Platten im Abendlicht kommt man von allein in eine Christoph Ransmayr Welt: man sieht die glänzenden Leiber kapitaler Thunfische, die auf diesem Weg zerlegt worden sind, und auch das viele Blut, das von diesen Steinen gewaschen wurde. Körbe, überall Körbe und Füße. Brände an den Hängen über der Mauer, brennende Schiffe, Schattenspiele in der Nacht. Man hört die Wellen. Man sieht den Mond.