24.7.

Eigentlich müsste das Ypsilon mein Lieblingsbuchstabe sein. Wo ich gehe, finde ich kleine und größere Astgabeln. Diejenigen, die ganz genau meiner Vorstellung eines Ypsilons entsprechend geraten sind, stecke ich ein und lege sie nachher zu den anderen auf die Fensterbank. Aber mein Lieblingsbuchstabe sieht anders aus. Ich kenne auch niemanden, dessen Vorname mit einem Ypsilon beginnt. Muss heißen: Kenne auch niemanden mehr.

Alles liegt wie unverrückbar hier, alles wird zum Exponat, kaum hinter meine Tür gebracht. Wie dieses Buch, das aufgeschlagen zwischen anderen liegt und dem ich, im Vorübergehen, flüchtig, einen Satz entnehme, den ich zwar kannte, aber nicht so, und dann sozusagen automatisch zurückkehren muss, um den ganzen Rest zu lesen. Eine Falle, wenn man so will, die ich mir selbst gestellt, denn wer hat denn dieses Buch dahin gelegt? Und darin steht, bekanntlich:

»Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsere Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist, wir wissen’s aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
wenden wir um und zwingen’s, daß es rückwärts
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.«

Ein Boot, vermutlich, machte ein Geräusch wie mein Telefon, wenn es auf der weichen Unterlage meines Notizbuches liegt und mit dem Eingang einer SMS vibriert – täuschend ähnlich.

Ein Kirschblatt hatte drei große Löcher, Fraß vermutlich, durch deren sonnenlichtgrünen Passepartout ich das Blau des Himmels sehen konnte (wie in der Erfindungslegende der Brezel by the way) – ist das jetzt zu geschraubt; am I trying to hard, wie Irina einst es mir vorwarf, dabei aber retrospektiv argumentierend à la: Ich hatte gedacht, you are.

Und über allen offenen Wunden steht der Geruch von Blut, einer – natürlich –: mineralischen Note mit (für uns Menschen) extremer Sillage.

Und wenn man, wenn ich: so bin? In Wirklichkeit, im RL *setzt einen Gedankenstrich*, auf der Suche nach einem gelungenen Ausdruck, nein: dem gelungenen Ausdruck für jemandes Haar, las ich mich in Loslabern fest (ohne sic) und stellte erneut, wie vor einiger Zeit schon mit dem roten Buch, fest, dass irgendetwas – schwerwiegend klingt immer so dramatisch negativ, es klingt nach Krebs und weißen Blutkörperchen, aber es gibt wohl auch eine positive Konnotation – schwerwiegendes sich in mir getan haben muss, gehirnlich, denn selbst Loslabern, das ich seinerzeit nie ansprechend gefunden hatte, konnte mit einem Mal singen, war wohl erwachsen geworden. Oder halt ich.

Ich kann es – natürlich, wie ich mir innerlich gütig zunickend feststellen will – exakt beziffern, wann ich noch nicht erwachsen war (aber auch nicht mehr jugendlich, von daher aus altersfaschistoider Sicht, die mittlerweile jedem oktroiert scheint: in limbo): 1987. Da war ich nach Jahreszahlen knapp Jugendlicher und in dem Zeitraum war erschienen Kiss Me Kiss Me Kiss Me. Da muss man gar nicht groß synästhetisch veranlagt worden sein, um ermessen zu können, was das bedeutet haben mag. Es gab ja, um von Kriegszeiten zu erzählen, damals nur wenige Fachgeschäfte für Schallplatten, in denen ein sogenanntes Vorhören möglich war. Vorhörvorrichtungen wurden erst mit Rave und Techno eingeführt, als die Zahl der zunächst wöchentlich, dann aber bald täglich aus Detroit und Chicago und bald auch schon Frankfurt am Main und Berlin hinter der Mauer hereinbrandenden Maxisingles, 12inches (unter Technikern gesprochen) derart fluthaft sich gebärden sollte, vor allem White Labels darunter, dass es ohne eine Möglichkeit, da in der Rille zu forschen unmöglich geworden war, überhaupt noch Käufe zu tätigen; überhaupt noch so etwas zu entwickeln wie »eigenen Geschmack«.

Und so kaufte ich damals halt, wie andere ihren Liebling schüttelten, dieses Doppelalbum aufgrund dieser Fotografie dieser Lippen: unscharf. Aufgrund dieses Titels, in einer Art handgemalter Comic Sans: Kiss me Kiss me Kiss me. Vor allem aber natürlich und wegen der Band, The Cure, wegen Robert Smith. Zuhause dann, beim Anhören: Loyalitätskonflikte. Wörtlich: Darf ich das? Darf ich das gut finden? Mit jedem einzelnen Stück, besonders hart aber mit How Beautiful You Are war hier etwas zerbrochen worden, zerbrach, woraus zuvor die Verbindung der Freunde dieser Band zu ihrer Band bestanden hatte. Einfacher ausgedrückt: Das war nicht mehr dieselbe Band. Beziehungsweise: doch, aber jetzt ging es dieser Band scheinbar um etwas ganz anderes. Und das hieß anscheinend auch: um neue Freunde der Band.

Heute, ich bin jetzt 45 Jahre alt, kann ich mich vor so ziemlich jeden hinstellen und aussagen: Kiss me Kiss me Kiss me ist mein Lieblingsalbum von The Cure. Das ging lange Jahre nicht. Lange Jahre musste ich das insgeheim denken, das Album insgeheim gut finden. Es sogar: insgeheim hören. Vor allem How Beautiful You Are.

Erwachsenwerden ist anstrengend, es erfordert Verantwortung und Pflichtgefühl. Es macht dick und es macht alt. Aber es gibt halt auch gute Seiten.

How Beautiful You Are.