24.8.

Was der Schöneberger Wilhelm Furtwängler über die atonale Musik gesagt hatte, gilt andersherum für meine Liebe zur Kleingartenanlage: »An der Hand des Kleingärtners geht man wie durch eine unvorhersehbare Melodie. Am Wege ziehen die merkwürdigsten Klänge und Töne die Aufmerksamkeit auf sich. Selber aber weiß man nicht, woher man kommt und wohin man geht. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Macht elementaren Seins ergreift den Hörer.« Wir gingen dort gestern Abend durch eine Welt, die sich unter einer Autobahnbrücke entlang des begradigten Spreeufers bis über die Schleusenanlage hinaus und in den Schloßgarten Charlottenburg hinein erstreckt. Und zwar ziemlich lang und schmal, dabei, begünstigt durch den vielen Regen in diesem Sommer, so üppig verwachsen, dass von den Autos auf der Brücke hoch oben so gut wie nichts mehr zu hören war. Von der Melodie dieser Gärten deshalb umso mehr. Oder wie es in den Marmorklippen heißt: »Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die  Bilder lockender hervor. Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach.«

Auf einer Lichtung kam uns ein Mädchen entgegen. Die kehrte, kaum dass sie uns erblickt hatte, um und rief ihren hinter einem Gebüsch wartenden Freunden zu: »Da kommen zwei!« Die hatten auf dem Süllrand des Flusses eine Reihe von Senfeimerchen aufgebaut, in denen sie Setzlinge vom Sonnenhut feilboten. Dazu, in einem ausgespülten Honigglas, ein paar Stengel eines Krautes, das uns der Junge als Schokoladenminze verkaufte. Jan kaufte davon drei, ich einen Sonnenhut. An der Pforte eines anderen Grundstücks läutete ich eine kleine Glocke, so wie das angeblich die Buddhisten tun, wenn sie vor die Tür treten, um der Natur ihr Eintreten anzukündigen. Es erschien hier ein freundlicher Mann, der mir ein Glas seines Honigs verkaufte, »Vor zwei Tagen erst abgefüllt«.

Das wurde uns von den Fachleuten, die vor der Tunnelklause tagten, bestätigt. Die Wirtin, die angeblich selbst Bienen hielt, neidete mir das schöne Glas, insbesondere den mit Blütenbildern bedruckten Deckel, den ihr Imkerkollege mir draufgeschraubt hatte. Man saß dort auf Monoblocstühlen und auf gepolsterten Fässern und wenn Frank Castorf dabei gewesen wäre, dann hätte er die Klause originalgetreu nachbauen lassen für seine Inszenierung der Marmorklippen, deren erste Szene vor der Tunnelklause stattfinden müsste, bevor dann die in Basler Fetzentracht verkleideten Maskenträger ihren Auftritt bekämen. Ein fröhlicher Greis, der Willy Millowitsch ähnlich sah, allerdings ohne die Brille, dafür mit doppelt soviel weißem Haar, hatte bereits eine Flasche Doppelkorn intus. Die leere Flasche stand neben ihm auf dem Tisch wie zum Beweis. Das wahre Asset der Tunnelklause aber war der namensgebende Tunnel, der uns dorthin geführt hatte. Er windet sich stollenhaft durch den Pfeiler der Autobahnbrücke hindurch. Betätigt man den im Kraut verborgenen Lichtschalter nicht, wird es nach wenigen Metern stockdunkel. Man ertastet sich den Weg zum Licht – und steht dann endlich doch auf dem Vorplatz der Klause, inmitten der Szenerie. So als ob die auf einen gewartet hätten.

Beim Bezahlen am gelb beleuchteten Tresen wurde mir von einem der dort Stehenden aus einer Schale, gefüllt mit rosafarbenem Schaumgummi, angeboten. Die waren wie hunderte kleiner Pilze geformt. Ich scherzte, ob ich dann nach dem Vertilgen des Pilzchens zu schrumpfen begänne, bis ich in den Kaninchenbau passte? Eine Schlaumeierei, die natürlich unbeantwortet blieb. Und es war, wie gesagt, andersherum.

»Freilich ist nicht zu leugnen, dass hiermit ein bestimmter Ton im Lebensgefühl des modernen Menschen angeschlagen ist.« So Jan, Furtwängler zitierend, und der wiederum, damals, zur atonalen Musik.