25.10.

Seit ein paar Tagen kauft sich Daniel nun jeden Morgen die Zeitung. Er hat keine Ambitionen, Deutsch zu lernen, hat aber durch das Anschauen meiner Exemplare die Arbeit der Frankfurter Bildredaktion zu schätzen gelernt. Klar, die Bilder aus dem Sportteil funktionieren auch ohne Worte. Ihn interessiert das Foto auf der jeweiligen Titelseite. Als dort vor ein paar Tagen auf gelbem Grund ein knallroter Hahn im Schablonendruck zu sehen war, wollte er gar nicht genau wissen, um was es in den Zeilen darunter ging. Das Bild aus dem gelben Cornflakeshahn und den schwarzen Frakturbuchstaben, die den Kopf darüber bilden, wirkte auf ihn stark genug im Sinne einer Nachricht. Gestern früh war an dieser Stelle ein hässliches Nagetier abgebildet. Es stand auf seinen kurzen Hinterbeinen und hielt sich, wie es schien, an einem danebenstehenden Beil fest. Es fiel mir schwer, zu erklären, worum es in dem zugehörigen Kurztext ging. Und selbst, als ich es einigermaßen erklärt hatte, schüttelte er noch ungäubig den Kopf. Ich frage mich, welchen Eindruck er wohl von der Zeitung bekommt. Beziehungsweise: was er einst seinen Stundenten an der kalifornischen Kunsthochschule über das Leben hier erzählen wird, wenn er mit den Souvenirs seines Deutschlandaufenthaltes zurückgekehrt sein wird: dem Ring, bestehend aus in fünf Jahren übereinandergeklebten Werbeplakaten, der von einer sogenannten Litfaßsäule geschält wurde; einer Sammlung von 60, 70 Titelseiten der Frankfurter Allgemeinen mit Hahn, Marder und wer weiß, was noch alles kommen wird bis Weihnachten (er bleibt noch bis zum zweiten Advent). Wenn ich ihm etwas erzähle, macht er sich nie Notizen. Die Informationen erreichen ihn meist ohne Zusammenhang, weil ihn der auch nicht zu interessieren scheint. Er lacht viel, findet halt vieles exotisch (so ähnlich wie das absurde Wetter, wenn es, wie gestern und heute vermutlich auch wieder, einfach mal regnet von weit vor Sonnenaufgang bis in die Nacht.) Und trotzdem, ich denke, so würde ich das machen, könnte sein Studienaufenthalt zu noch krasseren Ergebnissen führen, wenn man ihm für die Dauer seines Aufenthaltes das Internet verbieten würde. Am besten ganz wegnehmen! Dass er sich vollkommen den Bildern und der ihm unverständlichen Sprache ausgeliefert fände. Er forscht ja über die RAF. Und als sich in Sachsen der Islamist in seiner Zelle an seinem T-Shirt erhängte trotz Überwachung, hat ihm das extrem fasziniert. Da ergaben sich für ihn, er war gerade von einem durch die American Academy organisierten Rundgang in Stuttgart-Stammheim zurückgekehrt, aufregendste und ergiebigste Parallelen. Und gleich am nächsten Tag studierte er das Titelbild meiner Ausgabe der Zeitung – ich habe leider vergessen, was dort zu sehen gewesen war –, um sich sozusagen ein Bild zu machen. Und wenig später kaufte er sich dann seine eigene Ausgabe, um für seinen Bedarf ausschneiden zu können. So fing das bei ihm an.