25.6.

Eine Leerstelle in der Abfolge von Tagen wie die mit Silber gefüllte Lücke im Gebiss des Oberkellners, bei der man sich bei jedem Hinschauen fragt: Was war geschehen?

Eine durch aggressive Bazillen verursachte Halsentzündung hielt mich über zwei Tage lang hingestreckt. Erst kratzte es, dann tat es weh und ich bekam Fieber. Schließlich fielen mir von Hegel die beiden Vornamen nicht mehr ein. Als Kurort hatte ich mir den Rasen auf einer Verkehrsinsel ausgewählt, wo ich, im Schatten zweier Palmen, dem Meer zumindest nahe sein konnte. Das Wasser war warm, ab und zu tauchte ich für eine Weile dort ein, um meine Atemwege mit Salzwasser zu spülen. Ansonsten lag ich dort und las im letzten Band der Tagebücher von Ernst Jünger, wo er, da war er schon über hundert Jahre alt und beinahe tot, auf Sardinien, den letzten Strandurlaub in seinem Leben genießt. Und er beschreibt, wie seine Frau den Wellen des Tyrrhenischen Meeres entsteigt und auf ihn, den im Sand lagernden, den Tagebuch führenden Greis, zustrebt. Ihre Fußabdrücke in dem Strand sind längst verweht. Seine Sätze nicht. 

Vorgestern fingen sie hier dann mit Aufbauarbeiten an für die aufwendigen Feierlichkeiten zum 20-jährigen Jubiläum der Strandpromenade. Zwanzig Jahre – als ich, da war ich 19 Jahre alt, zum ersten Mal nach Cagnes-sur-Mer gekommen war, wie hatte es da hinsichtlich Promenadensituation ausgeschaut? Mir fehlt die Erinnerung. Ich hatte in einer Pension gegenüber des Hippodroms übernachtet, die hieß La Gelinotte, Schneehuhn. Es gibt sie nicht mehr. 

Wie schon vor ein paar Tagen in Nizza bezeugt, wo in einer schweißtreibenden Mammutaktion unter blauestem Himmel hunderte von pneumatischen Pfosten in den Boulevard des Anglais betoniert werden, um die Strandpromenade für den Nationalfeiertag abzusichern, so wurden dann auch in Cagnes in Rot und Weiß gestreifte Betonquader quer über Radweg und Spazierzone abgeladen. Bald war somit ein vom Verkehr abgeteiltes Stück Asphalt entstanden, das ich von meinem Platz auf der angrenzenden Verkehrsinsel aus gut überblicken konnte. Als ich aus einem Schläfchen erwachte, tanzte dort ein Greis, vielleicht hieß er Maurice, in Cuban heels auf Rollerblades eine Choreografie zu einer Melodie, die nur er hören konnte, weil sie in seinen Kopfhörern entstand. Ein anderer, er war mir dort schon mehrmals aufgefallen, rollte auf seinem von unsichtbarem Aggregat angetriebenen Einrad vorbei. Er ist stets ganz in Weiß gekleidet und an dem elektrischen Einrad, das hier auch die Strandpatrouille benutzt, ist bei ihm noch eine kleine Flasche mit Sauerstoff befestigt, von der ein transparentes Schläuchlein bis hinauf unter seine Nüstern führt. Zu dem auf  Rollerblades tanzenden Altersgenossen schaute er aber nicht hin.   

Nach einem Ausflug zu dem von Pinien umstandenen Antibes, wo es ja im Grunde herrlich wäre, vor allem geruchlich, wenn es die am winzigen Strande sich aalenden Briten nicht gäbe, stand alles bereit für die Feier, die, weil der runde Jahrestag des Jubiläums in die Hochsaison fiel, in jedem der für den hiesigen Tourismus entscheidenden Monate noch einmal wiederholt würde. Beim Aperitiv in der Petit Bar kam an jenem Abend, der mit einem Feuerwerk über blinkenden Minnie-Mouse-Ohren ein vorläufiges Ende fand, der Betreiber der Autoreperaturanstalt Verdun an unseren Tisch und verabschiedete sich mit Handschlag. Uns erzählte er, dass schon seine Eltern sich in Cagnes-sur-Mer kennengelernt hatten. Er selbst war hier geboren worden. Und nun war ihm in den letzten Tagen aufgefallen, dass er uns, wo auch immer er uns begegnet war, gerne gesehen hatte. Er hieß uns damit herzlich willkommen. Und Jean, der Wirt, wies uns darauf hin, dass es im Käseladen um die Ecke heute eine Platte im Sonderangebot gäbe: die ganze Platte für nur 10 Euro. Er schaute uns an: viel ist das nicht.

Heute, am Anfang des letzten Tages wird von den Alpen her ein weißes Tuch in Richtung des Meers vom Himmel gezogen, der sich, comme d’habitude, sonnig und blau zeigt darunter, als hätte er sich bloß zugedeckt.

Morgen ist mein Geburtstag. Ich werde circa eintausend Jahre alt.