27.1.

An der speziell schönen Sprache der Wetterberichte mag ich das »feine Regenband« am liebsten. Schon in der gestrigen Nacht zog eines vorüber, heute, kurz nach Mitternacht, noch eines und jetzt ist es beinahe schon wieder so warm wie an Heiligabend. Die Kirschblüte war da ja bereits, wobei ich gar nicht weiß: Können die auch zweimal hintereinander? Dann würde es sich, wie ich seit gestern weiß, um einen infrannualen Rhythmus handeln, so nennt es die Chronobiologie: mit einer Frequenz unterhalb der eines Jahres; da deren Schwingung wiederum für eine zweite Blüte innert eines Jahres von ihrer Dauer her unterhalb der eines halben Jahres bleiben müsste: infrannual. Wenn Kirschbäume, wie ich vermute, nur einmal im Jahr zur Blüte gelangen können: circannual. Stundenlang könnte ich mich mit diesen herrlichen Worten beschäftigen! Es gibt auch noch ultradiane Rhythmen! Dazu meine Dauerlieblinge mega, giga und feines Regenband – kaum ist es vorbei mit der Kälte, bekomme ich supergute Laune. Das ist ja bei objektiver Betrachtung, zu der ich fähig bin, leider, auch dubios.

Allerdings drangen dann gestern kurz vor der Mittagszeit die ersten unschönen Geräusche durch die von mir im Überschwang der Frühlingsgefühle weit aufgerissenen Fenster – ein lautes Schaben, durch kurzes Echo vervielfacht. Im Grunde unnötig, schaute ich trotzdem vom Küchenbalkon aus hinunter: Mit gleich zwei kleinen Baustellen vor dem Haus eröffneten die Stadtwerke die Saison. Es wird, das bildet hier traditionell den Auftakt, ein Abschnitt des Trottoirs erst aufgerissen, dann wird ein hüfthohes Loch gegraben. Da alle Menschen die geilen Sprüche und somit auch die schon sprichwörtlich gewordenen Umgangsformen der von den Berliner Stadtwerken beauftragten Bauarbeitern kennen und nur noch mehr lieben lernen wollen:

– Guten Tag. Entschuldigung, was graben Sie denn da für ein Loch? (Ich)

– Das werden Sie schon noch sehen, sagte der Mann mit der Schaufel.

Der andere sagte gar nichts. Es sind ja immer zwei. Der eine macht was, der andere schaut zu. An der zweiten Grabungsstelle, schräg gegenüber: identisches Szenenbild. Morgen kommt, das kenne ich schon: die Dixie-Toilette. Zwanzig Meter weiter stehen auf einer der letzten Brachen bereits die Baufahrzeuge bereit, um ein ernsthaftes Loch auszuheben. Es wird also demnächst nicht etwa infra-, sondern ultralaut hier vor meinem Haus. Und das würde einen Frühling und Sommer hinter geschlossenen Fenstern bedeuten. Nicht nur, um dem Baustelleninferno zu entgehen, ziehe ich angeblich schon bald wieder um. Schon allein deswegen kann ich der larmoyanten Bitte meiner Mutter nicht nachkommen, sie doch endlich mal zurückzurufen. Sie zählt nämlich mit (Umzüge) und dabei geht es ihr nebst der Anzahl (18 and counting) wie einem Chronobiologen vor allem um die Frequenz. Infrannuales Umziehen führt zu einem Anheben ihrer Klage, was ich uns beiden ersparen nicht nur will, sondern vor allem auch kann, denn meine Mutter ruft mich aus Prinzip nicht an, solange ich kein Festnetz habe.

Vor allem weiß ich ja noch gar nicht, wohin ich genau ziehen werde – am liebsten ja dorthin eigentlich, wo ich zuvor – also im Herbst letzten Jahres – gewohnt habe, aber diese Gegend ist ja auch nicht mehr sicher, denn jetzt soll dort die Hauptstraße in David-Bowie-Straße umbenannt werden. Wie sollte ich dann das meiner Mutter erklären, dass ich, kaum hätte sie zum x-ten Mal mit ihrem Lamy-Kugelschreiber mit beleuchtbarer Spitze (dasselbe Modell setzt Gerhard Stadelmaier effektvoll in der Dunkelheit der Zuschauerräume ein, bloß um dann auf Anfragen hin nicken zu können: »Gewiss, ich bin Kritiker von Beruf«) eine hinfällige Anschrift ihres einzigen Sohnes ausgestrichen, die neue notiert, schon wieder ein teurer Anruf vom Mobiltelefon: »Nein, die heißt jetzt bloß anders, wohnen tue ich noch immer dort.« Selbst das Band zwischen Kind und Mutter ist nicht endlos strapazierfähig. Von daher – und dennoch: Dort, in der Hauptstraße, hat es mir extrem gut gefallen. Auch wegen des Souterrains dort in der Akazienstraße. Und des malerischen Gemüsegroßhändlers am Eck, wo es eine Sondersorte Radieschen gab, so groß wie zwei Fäuste. Also eigentlich kugelrunde Rettiche, aber nicht so sehr scharf. In der Früh wurden dort gigantische Schütten aus weißer Pappe vor dem Geschäft abgestellt, die voller Äpfel waren. Auf der Rückseite dieser Pappschütten stand immer in schwarzem Filzstift: »Haupt«. Da steht jetzt bald »David Bowie«, das ist schon ganz schick, aber auch ein bisschen traurig: ein household name.

Die E-Mail meiner Mutter fand ich erst Tage nach ihrer Zustellung in meinem Spam. Ich fand das peinlich, gleichzeitig aber auch irre literarisch. Ich fragte mich, ob ich mit diesem Satz in Klagenfurt abräumen dürfte, denn so, wie ich die Lage einschätzen muss, würde das dort goutiert: »Gestern ist meine Mutter gestorben, vielleicht war es auch vorgestern«, lautet in etwa der erste Satz im Fremden von Albert Camus. »Die E-Mail meiner Mutter fand ich erst Tage nach ihrer Zustellung in meinem Spam«: Joachim Bessing. Ich habe mir dann gleich noch mal Jörg Fauser in Klagenfurt auf Youtube angeschaut. Aber nur die Jurydiskussion: »Sie gehören hier nicht her.« Hart auch Walter Jens. War eigentlich eins zu eins das Script für den hohlen und beleidigenden Vortrag Meike Feßmanns im letzten Jahr anlässlich der Lesung von Ronja von Rönne. Im Prinzip der blanke Revanchismus. Toll dabei auch die schamlose Feigheit des eleganten Hubert Winkels.

Na ja, egal. Man muss ja nicht hingehen.