27.5.

Von jeder Pflanze wollen wir wissen können, wie sie heißt. Doch was ist mit den Industriegebäuden? Gefällt mir eines gut, zum Beispiel im Vorübergehen oder -fahren, oder wie vorgestern, als wir am Abend noch im Strandbad Griesheim, am Mainufer dort unter der Eisenbahnbrücke gesessen hatten, durch Beobachtung, Anschauung, ganz einfach, weil es mir unnahbar (in jenem Falle durch den Strom des Flusses zwischen uns) bleibt, ich aber später schon noch wissen will, wie denn die stille Dame, der verstockte Herr, also um wen es sich gehandelt hatte. Und im Falle Griesheim und im Gegensatz zu Damen, Herren oder Pflanzen: was dort im Inneren hergestellt?

Ein Kraftwerk war es sicher nicht. Obwohl dort auf dem Dach des Hauptgebäudes zentral ein feister Schlot, gedrungen, durch die Decke ging. Davor aber ein Bottich, von seinen Ausmaßen her im Klärwerksformat, dafür bloß einer, wohingegen für ein Klärwerk braucht es deren zwei (getreu dem Spruch im Lutherjahr: »Wenn zwei von Euch Bottichen in meinem Namen auf einem Grundstück beieinander stehen, dann bin ich, ist Euer Klärwerk hier«). Es half alles nichts. Zudem die Fassade von Bottich wie Bau in den mutmaßlich Achtzigerjahren mit einer pudrigen Grafik nach Fernand Léger besprüht worden war; perfiderweise in genau den Pastelltönen und sogar exakt solchen Farbverläufen, wie wir sie dann an jenem Frühsommerabend am Himmel hoch über Griesheim bei schwindendem Tageslicht erkennen konnten. Es handelte sich bei dieser Fassadenbemalung also um eine saisonale Camouflage?

Und die hatte sich wer ausgedacht? Die Mume ja wohl nicht. Wobei: Auch den zweiten Tag verbrachte ich nahezu ununterbrechbar auf meinem Beobachtungsplatz, um ja keinen der raren Momente zu verpassen, in denen sich dieser seltene Vogel auf dem benachbarten Balkon zeigen würde. Und dafür, für meine in unermesslich vielen Stunden der Bläßhuhnbeobachtung geschulten Zähigkeit in Sachen Ausdauer und Geduld, wurde ich über den Lauf des gestrigen Tages hinweg auch dementsprechend belohnt. Nämlich reichlich. Und in der Üppigkeit nur mit der legendären Traube aus Kanaan noch zu vergleichen, die immerhin damals, laut Luther, von zwei Juden geschultert werden musste, so groß war die mit süßen Beeren überreich besteckte Staude. Wobei die Menschen halt damals auch noch nicht so groß gewachsen waren wie heute. Als legendenfähiger Maßstab könnte da dies Beweisfoto dienen, das die Axel Springer AG vorgestern vom Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten A.D., Barack Obama, beim CEO der Aktiengesellschaft, Mathias Döpfner, zeigte: Obama, auch von der Hautfarbe her, aber vor allem halt auch körpergrößenmäßig als Platzhalter für die von Luther beschriebenen Einwanderer an der Grenze Kanaans, Döpfner hingegen: ganz heutiger postlutherianischer Phänotyp, der in der Bibel nicht mehr beschrieben ward. Die mythische Traube selbst war freilich nicht mit abgebildet worden, aber man kann sie sich dazudenken. Oder mitten hinein.

Gut, aber was also geschah mit und um die Mume herum? Ich zitiere aus meinen handschriftlichen Aufzeichnungen: »Am Ende des Tages wurde fuhrenweise Sperrmüll im Hinterhof zerlegt, dass es nur so krachte (wenig überraschenderweise). Die Mume saß abseits auf einem Hocker, der ihr dorthin gebracht worden war. Vom Balkon herab hielt ihre Enkelin im säulenförmigen Kleid aus Batist, vielleicht war es auch ein Gobelin – auf jeden Fall ein in Vergessenheit geratenes und infolgedessen auch ungebräuchlich gewordenes Material –, die Verbindung zwischen der häuslichen Feuerstelle und dem Schauplatz des Geschehens – einer zerlegerischen Leistung! –, indem sie in der unverständlichen Sprache hin und wieder dort hinunter rief. Die Mume selbst, es war auch mit des Fernrohrs Hilfe nichts weiter zu entziffern, reagierte auf diese Rufe nicht.

Uns Übrigen, der Hinterhof ist ziemlich weit, die wir des Bulgarischen nicht mächtig waren, blieb davon lediglich der Ohrenschmaus. Und vom Zerspahnen der Sofagarnituren drang schon bald ein feines Rieseln bis an unsere Ohren hinauf, als deren Füllmaterialien sich auf den Zementbelag des Innenhofes ergießend zu verflüchtigen drohten, wie um zu flüchten vor den Schlächtern dieses Sofamonsters, das sie bis eben noch beherbergt hatte. Die Häscher der Sofagarniturenauspolsterungsfüllmaterialien freilich hinterher.

Sie suchten ihr Heil in der Flucht!

Wie aber waren diese Bulgaren hierher nach Frankfurt gelangt? Was trieb sie an? Auch hier wiederum, beziehungsweise: Erwies sich meine ursprüngliche Faszination für diese Dame, die vorzugsweise in Grün oder halt gleich ganz in Lila auftrat, von sozusagen schlafwandlerischer Treffsicherheit geleitet. Jahrzehntelange Erfahrung in der wenig vermittelbaren Kunst der Recherche haben mich sensibilisiert in meiner Fähigkeit zur Ahnung. Genau so war es nämlich: Die Mume stellte für viele solcher Rätsel den Schlüssel dar.

Und deshalb schweigt sie derart beharrlich und viel.«

Nachts fuhren wie so oft die hinfälligen Lastwägen vor, um die Früchte der zerlegerischen Leistung aufzuladen. Man kennt die Hersteller dieser Fahrzeuge nicht. Kein Autoquartett enthält ihre Karten. Teilweise waren die ausgeschlagenen oder -schossenen Scheinwerferhöhlen mit Kerzenlichtern besteckt. Blakend, natürlich.