28.10.

Wir saßen, wie so oft in letzter Zeit, zu Mittag im Mainhattan, einer gutbürgerlichen, zudem preiswerten Stube, die in der Hessischen Landesvertretung am Potsdamer Platz eröffnet hatte. Wir, das waren Heinrich Holzberger – genannt Heiko –, Erik Niedling und ich, sowie gestern zum ersten, aber wohl nicht letzten Male noch der, wie es heißt, frisch gebackene Direktor des Landesfunkhauses Thüringen, Boris Lochthofen, Sohn des einzigen über die Landsgrenzen Thüringens hinaus bekannten Schriftstellers Sergej Lochthofen.

Unseren ansonsten für brisante Unterredungen dieser Art üblich gewordenen Treffpunkt, das Birdhouse in der Heidestrasse nahe dem Studio Niedlings, hatte Lochthofen aus nachvollziehbaren Gründen abgelehnt: Dort wurden einem Thüringer als zu farblos erscheinende Würste Berliner Machart aufgebraten. Im Mainhattan hingegen – it was the time of the season, wie The Zombies es schon zu singen wussten – gab es herrlichste Wörscht.

Boris Lochthofen, dabei seine Wörscht schneidend, dass es nur so quietschte, hörte sich mein Lamento mit gemischten Gefühlen an: dass es ausgerechnet sein Vater, Sergej Lochthofen, nicht in den ohnehin zu kurz geratenen Wikipediaeintrag Schriftsteller aus Thüringen geschafft hatte – aktuell bestand der Artikel aus ca. acht Nennungen, darunter noch Doubletten und sog. Enten – schien ihm, schien auch mir das eine nur. Aber, so Lochthofen, und hierbei gab ihm Erik Niedling, derweil eine Zigarette drehend, recht: Damit nicht genug. Beziehungsweise: Von dort aus müsste es halt in Zukunft, naher Zukunft übrigens, noch sehr, sehr viel weiter gehen.

Ich sah das im Übrigen ganz genau so und sprach deshalb die Wahrheit ganz gelassen aus: »Thüringen – sowohl der Freistaat, wie auch die kulturelle Sphäre ist hiermit übrigens gemeint – hat lange, viel zu lange im Schatten Sachsens vegetieren müssen. Aber Sachsen«, und hierbei machte ich dem Bembeljung in seiner Schürz‘ ein Zeichen, uns die Gerippten noch ein weiter’s Male vollzufüllen, »Sachsen, da wirst du beipflichten müssen: Das hat sich von selbst erledigt«.

Das Wort vom failed state hing schwer im Luftraum über uns, es hing dort, aber keiner von uns (obwohl nun außer mir drei Thüringer am Tisch, die fühlten es) hatte es nötig, diese Tatsache zudem noch auszusprechen.

Boris Lochthofen nickte. Allein das war ja schon ein großartiger, ach was, es war ein dem Nobelpreis würdiger Romananfang: »Boris Lochthofen nickte« – dagegen konnte »Ilsebill salzte nach« einpacken! Und dennoch, es geschah ja wirklich, es war gar kein Roman, in dem wir als Figuren zu Papier gepresst dort sitzend uns finden mussten, im Mainhattan; wir befanden uns dort in Wirklichkeit, man schrieb den 27. Oktober 2016 und Boris Lochthofen sprach: »Ich brauche jetzt ganz schlicht und einfach deine Hilfe, Joachim«.

Wahrheitsgemäß entgegnete ich »Gern, Boris«. Schließlich hatte mich Erik, hatte mich sogar Heinrich im Vorwege zu diesem Treffen gebrieft. Ich kannte mich aus, was das Imageproblem Thüringens betraf; die Umfragen unter den Bundesdeutschen, bei denen mit unschöner Regelmäßigkeit beinahe sämtliche Befragte ausgerechnet das Bundesland Thüringen entweder nicht zu kennen vorgaben, es vergessen hatten oder sogar noch hinter das Saarland verdrängt: Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht und konnte nun sozusagen Thüringen. Von daher »ist es aus meiner Sicht doch ziemlich einfach, Boris. Zudem uns die sogenannte Zeit zuarbeitet. Es gibt ja vor allem zwei Kernkompetenzen des sympathischen Ostzwillings meiner Herkunftssphäre Baden-Württemberg: Würste und Frauen. Von daher rate ich zu einer Kampagne mit dem argumentativen Fundament Ficken und Grillen – das allerdings zunächst unausgesprochen bleibt. Es schwingt lediglich mit, bleibt subkutan, subsonisch auch. Wir wissen das. Unsere Kunden ahnen das. Aber mehr ist da nicht«.

»Sehr gut.«

»Ja. Darüber aber werden wir einen argumentativ unangreifbareren Brückenkopf errichten. Dabei geht es um all das Gute, das Wahre, kurz: um all das, wofür wir, wofür hier Erik, Heinrich, du, Boris, und schließlich auch ich das Bundesland Thüringen und seine kulturelle Sphäre lieben wollen und bereits lieben: die Zitadelle auf dem Petersberg – mitten in Erfurt! –, größer noch als die in Mainz. Überhaupt, dass man in Thüringen so gut skilaufen kann – auch wenn es häufig Nebel hat; aber gerade das, ein Langläufer nebliger Loipen! Die Nougatspezialitäten von Viba in Schmalkaden. Es ist alles da in Thüringen, sogar Weimar.«

»Tja. Aber halt auch Björn Höcke«, gab Boris Lochthofen zu bedenken.

Wir nickten. Doch auch hierfür gab es eine Lösung. Und ich malte ihm die Sächsisch-Thüringischen Befreiungskriege aus, an deren Ende der Freistaat Thüringen von der Zitadelle auf dem Petersberg aus neu ausgerufen würde. Mit Weimar als Exklave und kultureller Hauptstadt, Erfurt als faktischer Hauptstadt und dem für das nun bekannteste Bundesland von allen gültigen Slogan »Thüringen, Land der weißen Weste«. Flankierend, besonders wirksam in touristischen Belangen käme »Weite, Näher: Thüringen« zum Einsatz. Und eben dort, am Fuße des Petersbergs, den der preußische König einst als Nagel im Fleisch der Thüringer gehalten hatte, würde dann in den ehemaligen Hallen des Heizkraftwerks nach dem Vorbild des Berghain zu Berlin, das Sergej Lochthofen Zentrum für Kunst und Literatur eröffnet. Ein Konzept lag so gut wie schlüsselfertig vor.

Zu den Schwachpunkten des Mainhattan gehört die frühe Schließzeit um 15 Uhr. Wir hatten uns schließlich (!) gerade erst warm geredet. Der Bembeljung‘ aber leerte nun geräuschvoller als nötig den Wörschtkessel, außerdem wurde über Gebühr geschrubbt und gedöns‘. Wir zahlten fürs Erste und verabschiedeten uns. Kurz ging die Überlegung dahin, dass wir uns nach der Thüringer Landesvertretung vertagen sollten, aber selbst Heinrich riet dann letzten Endes davon ab, da die dortige Wurstbraterei noch früher als die Hessische schlösse. Also blieb bloß noch Dunkin‘ Donuts.