29.5.

Zwei Tage lang hatte die Stadt unter dem Joch von 30° Celsius gelegen. Am Samstag hatte ich, auf meinem Rückweg vom Erzeugermarkt, eine längere Pause einlegen müssen auf dem schattigen Streifen vor dem Café Plank, aber außer mir selbst und der Bedienung, die es im Inneren des aus Sandstein gemauerten Hauses noch etwas angenehmer hatte, war dort auf der Kreuzung von Münchner und Moselstrasse, wo es an allen anderen Samstagen bisher, vor allem im Winter, so belebt wie nur irgendwo hergegangen war, nichts los. Theoretisch war mir das klar, aber nun hatte ich es in der Anschauung vor Augen geführt: Heroinkonsum und Hundstage vertragen sich nicht.

Dann, als ich schlurfenden Schrittes, gerade so, als hätte ich selbst am lahmlegenden Saft der Schlafmohnkapsel genippt, die dritte Etappe meines Heimweges angebrochen hatte, kam ich weiter vorn auf der Moselstrasse in das temporäre Freiluftbüro eines Telefonshops, dessen Besitzer sich einen auf Rollen montierten Chefsessel in den Schatten vor seinem Geschäft hatte fahren lassen, um dort noch vor dem Eingangsbereich zu seinem Laden Anbahnungsgespräche mit potentiellen Kunden zu führen, als dieser gerade sein Ohr einem wie wild schwitzenden Mann sozusagen lieh, der immer wieder von neuem den goldenen Satz auszusprechen sich nicht nehmen ließ: »Ich habe ein halbes Gramm gedrückt«. Und alle dort schauten sie wie gelähmt auf die Fassade des gegenüber gelegenen Eros-Schlösschens, an dessen gutbürgerlich ausgeformten Spitze weit oben sich ein Türmchen befand, das nun mit einem Geröllfanggitter eingewickelt worden war. Der sogenannte Elefantenrüssel, eine aus ineinandergesteckten Eimern gebaute Röhre war installiert und die unsichtbaren Schuttladungen brandeten dort hindurch in einen Container, aus dessen rostiger Klappe dann in Schwaden der Staub quoll. Für die Zuschauenden im Freiluftbüro ward dies zum schönen Sinnbild geworden für die Möglichkeiten einer Aktivität an jenem Maienmorgen.

Wehmütige Erinnerung an all die herrlichen Sommer meiner Kindheit und Jugend, die, in meiner Erinnerung natürlich, sämtliche genau so bullenheiß, wie es dort hieß, und prächtig gewesen waren. Als Sinnbild dieser Sommer sehe ich dann immer einen einzelnen Stuhl vor mir mit einer Sitzschale aus orangefarbenem Kunststoff, die durchlöchert war, sodass im Schatten dieses Stuhles auf dem steil bergan führenden Trottoir längs der Forststrasse im Stuttgarter Westen ovale Sonnenflecken lagen. Der Stuhl stand dort vor einem Geschäft, in dem es Bananen gab, aber auch eine Kühltruhe mit Stieleis und eine auf den Tresen gesetzte Vitrine mit belegten Brötchen, die damals freilich noch ganz anders waren als heute, also ohne Salatblätter, auch ohne Tomatenscheiben, ohne Saucen, sondern lediglich mit den einmalig frischfarbenen Scheiben einer rosa Wurst, die dort Lyoner genannt wird, Fleischwurst in Frankfurt und im Rest von Deutschland Kinderwurst. Oder mit einem Blatt gelben Käses. Saures Gürkle optional.

Von daher brachen wir dann in der Frühe nächsten Tages auf, um über eine Brücke hinter das Messegelände zu gelangen, um nach einer anfallsartigen Episode postmoderner Architektur in das in einem duftenden Holunderhain gebettete Hausen zu gelangen, wo es das schönste Freibad gibt. Dort war der Rasen stellenweise noch kühl und feucht vom Tau und die Planschgeräusche aus dem sprungturmlosen Becken ließen sich verhalten an. Doch gleich am Eingang hatten schon am großen Tisch mit den aufgedruckten Schachfeldern die herrlichsten Greise ihre Plätze eingenommen. Mit freien Oberkörpern, comme d’habitude, die über ihren prächtigen Leibern straff gespannte Haut mit Tiroler Nussöl auf seidenmatten Glanz poliert. Als Anführer konnten wir mühelos einen bestimmen, der zum noch üppig straff gebürsteten Silberhaar auf seinem Kopf eine dazu farblich abgestimmte Brille trug, und um den faltenfreien Nacken eine Muschelkette, die ihm etwas Hawaiianisches verlieh. Ein veritabler Player in jedem nur denkbaren Sinn. Er spielte freilich simultan sowohl gegen den sogenannten Vize, einen herrlichen Koloss mit rotem Schildmützchen, auf dessen Front ein Blitz mit dem charakteristischen Schriftzug für das Elektrolytgetränk Gatorade Werbung machte. Auf dem zweiten Brett spielte er in rascher Folge gegen die ständig wechselnden, da von ihm blitzhaft Schachmatt gesetzten Novizen, die sich den gesamten Tag über anstandslos in einem Gänsemarsch vor dem Tisch der Wundergreise bewarben, um dann ihr Glück im Spiel auf die Probe stellen zu dürfen. Die kurzen Pausen absolvierten diese Alten Meister freilich unter dem Sonnenzelt gleich bei der Frittenluke, wo eine Freiluft-Cafeteria die interessantesten Persönlichkeiten von Liegewiese, Schattenbank und eben Schachtisch zueinander führte. Dort herrschte, bei Kakao und Schöfferhofer aus der Flasche, eine souverän entspannte Atmosphäre unter Gleichen wie ich sie sonstwo vielleicht gerade noch am Club 55 in Saint-Tropez beobachtet hatte.

Die von mir vermissten Brötchen, delikat gerade in ihrer Schlichtheit, sie waren leider Gottes auch dort, im ansonsten aufs angenehmste von konservativen Vibes geprägten Freibad von Frankfurt-Hausen längst abgeschafft. Auch wurde, was mich schon verblüffte, verblüffend wenig bis gar kein Apfelwein konsumiert. Dafür gab es dort so ziemlich alles andere zu sehen und zu belauschen, was mir den Sommer zur liebsten Phase im Jahreskreisel macht. Einige meiner Studien sind aber noch nicht abgeschlossen. Von daher zieht es mich erneut dorthin.