29.9.2019

Mit samaritanischer Geste wies Christin mich vor Tagen auf die Fernsehserie «Berlin—Schicksalsjahre einer Stadt» hin. Die besteht aus vierzig Folgen, in denen jeweils die Geschehnisse eines Jahres seit dem Mauerbau bis zum Jahr 2000 nacherzählt werden. Das Bildmaterial stammt hauptsächlich aus den Archiven von Ostfernsehen und Sender Freies Berlin—Da wurde das Versprechen mal eingehalten, den Mülleimer zur Schatztruhe zu machen.

Auf die Interviews mit Zeitzeugen könnte ich teilweise verzichten, insbesondere auf Bettina Wegener, aber die Zwischenschnitte sind immer bloss kurz. Alles andere, was man aus den Archivbildern erfährt, finde ich sehr interessant. Beispielsweise wird eine Gerichtsverhandlung gezeigt, angeklagt sind zwei Jugendliche, Willi und Wolfgang. Ihnen wird vorgeworfen, reihenweise die Telefonhörer aus Telefonzellen gerissen zu haben. Willi zum Richter: «Einer stand Schmiere, der andere ist in die Telefonzelle rein». Der Richter fragt, warum. Willi «Uns war langweilig». Es gibt eine Umfrage unter Gleichaltrigen in heute stimmungsvoll geleuchtet anmutenden Schwarzweissaufnahmen. Ein Mädchen sagt «Ich würde sie verurteilen». Und lächelt staatsmännisch. Das Urteil wird verkündet: Ein Jahr Freiheitsentzug.

Das soll sich zugetragen haben im Jahr 1967 im Westen Berlins. Abwechselnd werden dann wieder Filmbilder aus dem Ostteil gezeigt, da wird dann gerade der Fernsehturm gebaut, oder ein Friedhof platt gemacht, um Platz zu schaffen für den neuen Todesstreifen. Aber es geht auch um Moden, um Einrichtungstrends, um Staatsbesuche. Das meiste davon wusste ich nicht. Und manchmal lernte ich von Ereignissen, die mir seltsam bekannt vorkamen. Anfang der achtziger Jahre beispielsweise ordneten die britischen Besatzer an, dass 30 000 Bäume gefällt werden müssten, weil die bei den Landeanflügen auf Tempelhof im Wege waren. Da kam es zu Demonstrationen und gewaltigen Auseinandersetzungen mit der Polizei (schon in Farbe). Eine junge Frau im gelben Regenmantel sagt «Wir haben doch sowieso schon so wenige Bäume in Berlin».

Lässt sich einwandfrei hintereinanderweg, aber auch durcheinander schauen, Kempowski style. Man muss dazu nicht einmal krank und zerstreut sein. Wollte ursprünglich schon gestern dazu etwas Genaueres schreiben, aber bin anscheinend davor eingeschlafen. Aufgeweckt um sieben vom Klingeln eines Phantomtelefons. Sollte mich wohl zurückrufen in meine Epoche.