30.1.

In der vorvergangenen Nacht hatte ich von einem Kuchen geträumt. Also auch von seiner Herstellung. Und das sehr detailliert, beziehungsweise war mir das Rezept plausibel erschienen. Ich dachte noch oft an den Kuchen in meinem Traum und ging dann gestern früh zum Supermarkt (denn es war verkaufsoffener Sonntag sogar hier draußen), um die in meinem Traum nötigen Zutaten zu besorgen, weil ich herausfinden wollte, wie der Kuchen aus meinem Traum schmeckt, denn der Geschmack hatte, wie überhaupt das Anschneiden, im Traum keine Rolle gespielt. Von seiner äußeren Wirkung war der Kuchen imposant gewesen. In jeder Beziehung wollte ich ihn von innen sehen.

Auf 3Sat lief, etwas Schöneres kann es beim Anrühren von Kuchenteig überhaupt nicht geben: die betagte Dokumentation aus den siebziger Jahren, als Vladimir Horowitz zum ersten Mal nach Jahrzehnten aus den Vereinigten Staaten in die Sowjetunion einreisen durfte, um dort in Moskau ein Konzert zu spielen (er stammte ursprünglich aus Kiew). Ich bin alles andere als ein Kenner der klassischen Musik! Aber ich höre sehr gerne Klaviermusik und ich kann genau benennen, welche Stücke mir gefallen, auch wenn ich das Werk der Komponisten im Einzelnen nicht kenne. Der Saal, in dem Vladimir Horowitz auftrat, er war da schon ziemlich gebrechlich und betrat die Bühne mit vorsichtig gesetzten Schritten, fasste über eintausend Menschen. Man erkannte das nicht nur an den Brillengestellen (Horowitz selbst trug in den Interviews eine flamboyante Fliege, die ziemlich schlaff herunterhing, weil sie so üppig war): Sie entstammten nicht bloß einem anderen System, das war eine andere Welt. Er setzte sich, und die Kamera, weil es ein alter Film war, zeigte das nicht in HD, aber ich konnte die Hände von Vladimir Horowitz gut erkennen: Er fing an ein Stück von Scarlatti zu spielen (das wurde eingeblendet). Und ich sah: Er denkt mit den Fingerspitzen.

Ich schmolz zwei Tafeln extrem dunkle Schokolade (also solche, die man eigentlich nicht essen kann oder will, es sei denn, man trägt braune Schuhe zu blauen Anzügen, gelt sich die Haare, kennt sich mit Rotweinen oder Zigarren aus und findet Armbanduhren interessant) im Wasserbad und tat, weil solche Schokolade wenig Fett enthält, noch zwei Löffel voll Butter dazu. In einer zweiten Schüssel rührte ich vier Eier mit vier Löffeln Zucker so lange, bis der Zucker sich in den Eiern gelöst hatte. In die Eier füllte ich die Schokolade mit der Butter, stabilisierte diese Creme mit etwas Mehl, aber nicht viel, vielleicht drei Löffeln, dazu etwas Backpulver, denn bei den Eiern heutzutage weiß man halt nie. Das Backpulver war die bislang einzig reale Zutat, den Rest hatte ich exakt so in der Zusammensetzung geträumt. Dann wickelte ich den Inhalt einer Tüte Weichkaramellbonbons aus. Die gibt es von unterschiedlichen Herstellern, zumeist zeigt das Einwickelpapier der Bonbons eine Kuh. Das Format dieser Bonbons ist klassischerweise quaderförmig. Ich halbierte die mit dem Messer, sodass ich einen Haufen karamellfarbener Würfel vor mir liegen hatte.

Vladimir Horowitz spielte noch immer. Beziehungsweise schon wieder. Es waren Interviews eingeschoben, in denen er sich an seine Kindheit erinnerte. Beispielsweise an seinen Onkel, einen Spezialisten für Skrjabin, den sie Kinder den loud piano player genannt hatten – weil er laut Klavier gespielt hatte. Und dass sie zu Hause auf vier Klavieren Beethoven gespielt hatten: seine Mutter, sein Vater, seine Schwester und er. Möglicherweise auch in anderer Geschlechtskonstellation. Es ging ums Prinzip.

Die Hälfte der Teigmasse füllte ich in eine auslaufsichere Springform, die ich gebuttert und gemehlt hatte (der Kuchen würde, wenn er was würde, extrem feinporig werden). Auf diese erste Schicht verteilte ich spiralförmig die halbierten Karamellbonbons. Es waren vierundzwanzig Würfel, also hatte ich zwölf Bonbons halbiert. Eine gute Zahl, denn wie es in den Psalmen steht: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Bevor die zweite Teigschicht drüberfließen kann, muss kräftig mit Meersalzflocken gesalzen werden. Dann mit Teig fluten. Dann noch einmal salzen. Bei 160 Grad Ober- und Unterhitze backen.

Lange Auskühlen lassen. Am Besten sogar über Nacht. Er sieht wenig appetitlich aus, weil der zerfließende Karamell ziemliche Löcher brennt in die Kuchenoberfläche. Mein Tipp: Die kraterhafte Oberfläche mit einer Schicht Schlagsahne verbrämen.

Ansonsten: traumhaft. Hüben wie drüben sozusagen. Im Traum wie in der sogenannten Realität.