30.10.

Schnecken sind also sehr wohl auch nachtaktiv. Meine zumindest, wie ich heute früh herausfinden durfte, denn als ich um die übliche Zeit meine Augen aufschlug, war es für diese sinnloserweise noch stockdunkel. Die Schnecken aber, noch immer habe ich an die ehemaligen Liebespartner des bis dato immer noch kinderlosen Paares keine Namen verteilt, klebten hoch droben in der gläsernen Kuppel ihres Behälters, wie ich im schwachen Gegenlicht der fernen Straßenlaterne erkennen konnte. Seitdem ich sie bei ihrem Geschlechtsakt auf dem Mauersims am Nymphenufer gestört, unterbrochen und dann eingesammelt hatte, zeigen sie kaum noch Interesse aneinander. Die angeblichen Hochzeitsvorbereitungen vor einiger Zeit führten dann doch zu nichts. Dafür widmen sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit ihrer Ernährung, der aktuelle Verbrauch liegt bei sechs Blättern Löwenzahn, vier Zuckerschoten, einer halben Salatgurke und zwei Möhren pro Woche. Dazu kommen noch die heilen Schalenhälften zweier Frühstückseier, die für die Kalkaufnahme inwändig abgeraspelt werden. Im Gegenlicht läßt sich das sehr schön erkennen, weil dann nach einer Woche die ohnehin zarte Schale eines Hühnereies von dicht an dicht gelegten Leiterbahnen ziseliert wurde, sodass dies Muster auf der Eiinnenseite an ein sorbisches Osterkunstwerk erinnert (allerdings unter Einwirkung einer psychoaktiven Droge ausgeführt). Aber außer Nahrungsaufnahme und Schlafen haben sie weiter nichts im Sinn, wie es scheint. Von daher könnte ich sie, wenn ich Namen für Haustiere nicht so doof fände, Martina und Moritz nennen – nach meinem Lieblingsmoderatorenpärchen im Westdeutschen Rundfunk. Die sind angeblich auch privat ein Liebespaar, aber sie werden immer nur in ihrer Küche gezeigt, die furchtbar vollgestopft ist mit den neuesten Geräten (gestern führte Moritz dort seinen Kontaktgrill vor). Die Sendung geht auch immer nur eine halbe Stunde lang, und in dieser knapp bemessenen Zeit führen die beiden dann die Zubereitung mindestens vier unterschiedlicher Gerichte vor. Durchaus schneckenhaft also, denn auch bei meinen Schnecken, wenn sie denn mal wach sind, geht es ja emsig und betriebsnudelig zu. Dass Schnecken langsam sein sollen, diese irrtümliche, dafür kulturhistorisch eingefleischte Behauptung hat mit dem Referenzrahmen des Betrachters zu tun: Wenn ich der Schnecke beim Befahren eines zwei Meter langen Mauersimses zugucke, kommt sie mir freilich lahm vor; in einer auf den Grundkreis einer Kuchenplatte beschränkten Welt pfurrt sie bloß so herum. Und in der ziemlich engen Studioküche von Martina und Moritz geht es aus ähnlichen Gründen auch ziemlich hektisch zu. Dabei passiert ja, objektiv betrachtet, also wenn man jetzt die beiden mitsamt ihrer vielen Messer und speziellen Brettchen in die Küche einer Unimensa verpflanzen würde: nicht wirklich viel. Um die knappe Zeit, die ihnen zur Verfügung steht, zu vervielfältigen, unterbrechen sie sich auch noch ständig. Und zwar, wie es dem ungeübten Beobachter erscheinen wird, wahllos. So wird dann, auf der Tonspur, aus den Anleitungen für zwei Mal zwei Gerichten ein Zopf geflochten, der dem Betrachter Schwindelgefühle verursacht. Probiert wird dann ja auch noch, allerdings sozusagen on the fly und mit nur äußerst unschneckenhaftem Abreißen einzelner Bissen, dazu erfolgt noch hastiges Hineinschlucken der von, selbstverständlich: Moritz eingeschenkten Begleitungsweine, während Martina bereits die nächste Pfanne mit etwas Neuem belädt. Gemütlich ist das nicht, aber gemütlich sollen ja die Betrachter daheim werden. Das Markenzeichen von Moritz ist eine Brille mit rotem Gestell, Martina, die Moritz ansonsten auf frappierende Weise ähnlich geworden ist (die Sendung existiert angeblich seit 1988), trägt ein mit auf pinkem Grund in Schockfarben gesprenkeltes Modell. Im Grunde ist es die letzte Sendung eines Typus, der in den achtziger Jahren noch zahlreich in den Dritten Programmen vertreten war: Ob Skigymnastik oder Aerobic – man war immer  vom bloßen Zuschauen erledigt und froh, dass die Folge zu Ende war.

Die Macauly Library, das angeblich weltgrößte Onlinearchiv für Vogelstimmen, wurde neu organisiert und bietet jetzt noch detaillierteren Zugriff auf historisch wertvolle Aufnahmen. Endlich steht also eine Aufnahme (Archivnummer ML 16236) des männlichen Seidenlaubenvogels (Ptilonorhynchus violaceus) zur Verfügung, aufgenommen südwestlich der australischen Hauptstadt. Die Aufnahme ist zwei (!) Minuten lang und von kristallklarer Qualität. Leider, wie ich beinahe feststellen muss, denn mir ist es jetzt kristallklar, weshalb sich der Seidenlaubenvogel auf den Bau seiner herrlichen Lauben spezialisiert hat: Sein sogenannter Gesang klingt, als ob Martina und Moritz mit feuchten Laubsägen ein Menü ganz aus Hartschaumstoff zusägten. Ganz hinten kommt dann noch eine Art Pralltriller in dieser Machart. Als ob ein sich einwählendes Tonwahlmodem in einem Eimer voller Ayran versinkt.