30.12.

Aufgeweckt um drei Uhr in der Frühe vom Mondschein, der in dieser klaren Nacht verstärkt wurde von den Neonleisten an den Kanten der Pyramide hoch oben am Messeturm, in deren Gehäuse ich, lange ist es her, mir die Wohnung eines Gurus fantasiert hatte. Der Pfad meiner Genesung hatte mich am Tag stadtauswärts geführt auf der Mainzer Landstraße, nachdem ich in der Rhein-Main-Zeitung von einem Grundstück dort gelesen hatte, auf dem seit dem Sommer schon die obdachlosen Mitglieder einiger Romafamilien in selbstgebauten Biwaks wohnen. In dem Bericht wurde eine offizielle Quelle zitiert mit den Worten, dass man dort »das Versagen des Sozialstaates vor Augen geführt bekomme«. Wollte ich mir anschauen. Ohne Karte wandernd, die Sonne von schräg oben links, auf dass ich manchmal blinzeln musste, tröpfelte die Stadt bald aus – nach der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers in den Adlerwerken. Ein islamisches Bestattungsunternehmen und an der Wand stand hingesprüht »YUPPIES VERTREIBEN GEFLÜCHTETE BLEIBEN«. Auf dem Parkstreifen neben den Bahngleisen waren drei lange Wohnwägen in Folge abgestellt. Schrebergärten füllten die dreieckigen Landstriche zwischen den Autobahnzubringern auf. In einem der Gärten stachen die Wassertriebe eines ungepflegten Apfelbaumes in den blitzblauen Himmel, wo in der Weite die dunklen Rücken des Taunus sich zeigten. Die gelben Äpfel wirkten, obwohl mittlerweile schon mehrfach nachts durchgefroren, noch frisch, aber die Wicklungen rostigen Stacheldrahtes auf dem Blechzaun machten ein Zugreifen unmöglich. Lange, offenbar viel zu lange, betrachtete ich einen mir entgegenstürmenden jungen Mann, bis ich dann endlich begriffen hatte, was mir an seiner Silhouette als merkwürdig oder unstimmig aufgefallen war: An beiden Händen fehlten ihm sämtliche ersten Fingerglieder. Die Hände wirkten deshalb auch schon von weitem besehen, und dazu im Gegenlicht, Schaufeln ähnlich. Vermutlich war er schon tausendmal, seitdem ihm dieses Unglück mit einem modifizierten Böller passiert war, auf diese Art musternd, angestarrt worden. Im Vorbeigehen rief er mir zu, ob ich »ein Problem« hatte; also nicht speziell mit seinen verstümmelten Fingern, sondern generell: ob ich ihm ein Problem zu werden versprach. Diesem glaubhaft widersprechend, beeilte ich mich meines Weges zu gehen. Einander freundlich hinterherschreiend, strebten wir in entgegengesetzten Richtungen davon. Er auf die Stadt zu, ich unter der Brücke hindurch, wo sich am Wegesrand die Verbotsschilder häuften, die mit Strafen für unerlaubtes Abladen von Müll drohen sollten. In der Kurve einer üppig ausladenden Fußgängerbrücke über den Gleisen war ein abgeschmückter Weihnachtsbaum aufgestellt, an dessen unteren Etagen zwei laminierte Ausdrucke darauf hinwiesen, dass es sich bei diesem öffentlichen Weihnachtsbaum um eine Spende des Ortsvereins Griesheim handelte (oder gehandelt hatte, denn ohne Schmuck und bloß mit den Hinweisschildern dran handelte es sich ja streng genommen bloß noch um einen abgesägten Tannenbaum).

Dort, im verträumten Zentrum des einst unabhängigen Städtchens, kaufte ich ein Set für das Bleigießen in der Silversternacht und ging dann, gelockt vom sonnig strahlenden Widerschein des Flusses am Ende der Gasse eben dorthin: an den Main. Wenn der Rhein der Vater sein sollte, was war dann der Main? Sein schlanker Bruder? Ein dicker Sohn? Ganz klar schien das Wasser über den mit pelzigen Algen überzogenen Felsbrocken. Ein hüggeliger Park war dem letzten Bürgermeister der Stadt Griesheim, Benno Schubert, geweiht, einem, wenn die Gestalt dieses Parks als ein Abbild seiner Seele zu nehmen war, Mann des Ohne-großen-Drumherums. Drei Schüler versuchten dort gerade noch mit ihren Ranzen auf, ein Rudel Nilgänse zu drangsalieren, die in einem kalten Sandkasten nach Würmern gruben. Was schließlich gelang. Hörbar genervt, erhob sich erst eins, dann auch die übrigen der schweren Tiere in die Luft, um nach nur einem Augenblick ihres wenig imposanten Formationsfluges ein paar Meter weiter in dem für die Schüler lebensfeindlichen Element des eisig kalten Flusswassers zwischenzulanden.

Im Sommer, vielleicht ja auch schon bald, wenn das mit den sonnig-klaren Tagen bloß so weitergehen würde, könnte man sich sehr gut dort an dem Pfeiler der großen Eisenbahnbrücke auf die Liegestühle fallen lassen, die vor dem Lattenverschlag mit Namen Orange Beach bereitgestellt waren, um einen Apfelwein zu genießen. Trinkenderweise. Das Motto lautete, hinter Folie zu sehen: »Sonnen, Chillen, Bierchen killen«. Vor allem liefe das dann unter dem Motto eines befugten Aufenthaltes. Daneben ragte ein Warnschild der Hafenbehörde auf, das gemäß Gefahrenabwehrverordnung für Häfen den unbefugten Aufenthalt im Hafengebiet für nicht erlaubt erklärte. Der Rausch des Neuen, der mich in noch unbekannten Städten ergreift, hält, das ist mir mittlerweile bewusst, nicht ewig an. Wie jeder Rausch hat auch dieser eine unangenehme Komponente, die bekämpft werden will, sonst droht ein Überschnappen in Ekstase und dann finge ich an, jedes Schild zu fotografieren, jedem Blässhuhn zu huldigen als einem Boten einer mir vertrauten Welt (und tatsächlich sah ich auch dort, am Uferstreifen des Griesheimer Hafens das mir wohlbekannte Kopfruckeln aus dem Augenwinkel – rasch weiter, schnell fort, bevor ich noch anfinge, mich mit der Produktion von Lockgeräuschen vor den Griesheimern zu blamieren).

So kam ich endlich auf die Gutleutstraße, die, ich war durch Griesheim wie in einer Schleife gefädelt worden, von beiden Seiten mit Industrie flankiert, zurück in die Innenstadt führte. Man kann mir mit nur wenig so viel Freude bereiten wie mit einem Industriegebiet an einem sonnig-klaren Tag. Ich will auch gar nicht genau wissen, was in den einzelnen Komplexen hergestellt wird, sondern erfreue mich schon an den Sonderformen der fensterlosen Gebäude, den blinkenden Röhren, die kreuz und quer hinter den Zäunen geführt werden, den schweren Maschinen und hoch aufragenden Silotürmen. Ungefähr auf der Mitte des Weges vor der Stadtgrenze befindet sich das Briefzentrum der Deutschen Post. Ein Schicksalsort, insbesondere für die Liebenden, die sich noch Briefe und Karten schreiben. Von hier aus, in diesen fensterlosen Hallen werden ihre Zeilen verteilt. Was von hier aus nicht weitergeleitet wird und in der Vorform des Funkloches verschwindet, ist unwiderbringlich und endgültig fort. Es stand dort sogar ein Briefkasten vor dem Briefzentrum, obwohl ja weit und breit nur Industriegebiet herrschte; eine von hier abgeschickte Ansichtspostkarte, womöglich noch mit dem Briefzentrum drauf: schöner kann man den Postfreund nun wirklich nicht mehr beschenken. Vom gegenüber gelegenen Gutleutimbiss muss ich hingegen zwar nicht gerade abraten, doch sollte die dort gebratene Rindsworscht nur in Ausnahmefällen, also etwa bei extremem Gefühl des Ausgezehrtseins, oder schon beinahe selbst als wahnhaft verspürtem Rindsworschtappetit, bestellt werden. Verzehrt habe ich sie dann nur zur knappen Hälfte (was eingedenks meines sparsamen Wesens wohl etwas heißen will!).

Schön ablesen, zumindest bei größeren Unternehmungen, lässt sich in Industriegebieten auch die jeweilige Firmengeschichte hinsichtlich deren wirtschaftlichen Erfolgs: vergleichbar hier etwa mit den Jahresringen in einem durchgesägten Baumstamm findet sich die Keimzelle des Unternehmens in einem grobschlächtigen Zweckbau aus den Siebzigerjahren, dann, klötzchenhaft verspielt und mit brüniertem Glas wurde in den Achtzigern ein Gebäude für Buchhaltung und Marketing hinzugesellt, in den Neunzigern vielleicht noch eine technologisch motivierter Pavillion und im Moment weiß man halt noch nicht so recht, wie das alles weitergehen wird. Das ist sogar bei Schulen so, wie ich es ganz beispielhaft am Fallbeispiel der städtischen Werner-von-Siemens-Schule, einer Berufsschule für Elektro-, Informations-, und Medientechnik, vorgeführt bekam. Erbaut in den frühen Achtzigerjahren in der lupenreinen Architektur der sogenannten Postmoderne, schaut dagegen die Staatsgalerie Stuttgart geradezu nüchtern und zweckmäßig aus: maurisch karierte Sequenzen im Mauerwerk, arkadische Laubengänge in hochglänzendem Weiß gekachelt samt verblichenen, einst pinkfarbigen Fensterprofilen: es ist alles da. Und, das lässt sich ja auch insbesondere an den ländlichen Bankfilialen aus dieser Epoche begutachten: von dem für die Postmoderne üblichen Schwarzschimmel befallen. Ob das, die Ursache für einen spezifisch die Postmoderne Architektur befallenden Schwarzschimmel, nun an den damals verwendeten Steinsorten liegt, oder aber an einer nur damals verwendeten Isoliertechnik, in einer Kombination aus beidem – ich weiß es leider nicht.

Auf der Spitze eines gedachten Dreieckes zwischen der Berufsschule, dem Imbiss und der Fabrik des Druckfarbenherstellers Carl Milchsack stand ich übrigens kurz vor der berüchtigten Brache. Sie schien mir vor allem halt weitflächig, dafür sehr aufgeräumt. Ganz hinten im Blick: die Biwaks der Roma. Einige Menschen. Auf dem Beton hinter dem Gitter stand sinnlos ein elektrischer Rasenmäher herum.

Frankfurt ist, hier mit Berlin verglichen und dabei textlich gesprochen: nicht zu lang. Es folgt Knüller auf Knaller; oder No Fillers, just Killers, wie es früher auf den Houseplatten geheißen hatte – zumindest für mich; jedenfalls solange ich die Stadt noch nicht gut genug kenne, um nicht mehr von ihr berauscht zu werden. Von der Abfolge der Bilder und Szenen, von der Abfolge der Situationen vor alledem. Warum es gleich hinter dem Hauptbahnhof in einer Seitengasse, in der Martin Mosebachs Der Mond und das Mädchen meiner Vermutung nach spielt, drei Fachgeschäfte für Motorsägen hintereinander gibt, will ich noch unbedingt herausfinden, beispielsweise. Deren ansichtig geworden, musste ich an Thomas Meinecke denken, der ja früher öfter mal eine schöne Jacke angehabt hatte, auf der war ein Aufnäher mit dem Logo des Motorsägenherstellers Stihl. In der derzeit aktuellen Ausgabe des Faltblattes, mit dem die Restaurants und Läden des Bahnhofsviertels von Frankfurt für sich Werbung machen, und zwar auf eine sehr schöne Weise, denn auf der Rückseite des auf bestem Papier gedruckten Posters ist einformatig ein türkischer Fischschlachter zu sehen, wie er seine glitschige Ware präsentiert, spricht mir Thomas Meinecke dann auch aus der Seele, wenn er die kompakte Diversität Frankfurts nur noch mit den Verhältnissen im Hamburger Stadtteil St. Pauli zu Beginn der Neunzigerjahre vergleichen kann. Das geht mir haargenau so. Und ich weiß, wovon ich rede, denn schließlich war ich damals vor Ort. Gleich über dem Interview steht dort auf dem Faltblatt eine Anzeige der Frankfurter Sparkasse, die mit einem rötlich eingefärbten Geldautomaten, der halb von einer nackten Frauenbrust verdeckt wird, für ihre Dienste wirbt: »Als Kunde der Frankfurter Sparkasse können Sie an über 25.000 Geldautomaten deutschlandweit kostenlos Geld abheben. Allein in Frankfurt stehen Ihnen über 200 Geldautomaten zur Verfügung. Zum Beispiel in der Elbestraße 49-53 im Laufhaus ‚Crazy Sexy‘. Denn manchmal muss es eben Bargeld sein.«

Das sind die Widersprüche. Die gilt es auszuhalten. Und so ließ ich mich zwischen den funkelnden Türmen auf dem Platz vor dem Café an der Hauptwache nieder, einem herrlichen Ort, wo der Apfelwein nur mit 5 Euro das Glas berechnet wird, und wo auf den Herrentoiletten im Kellergeschoss die Urinale stets frisch mit haufenweisen Eiswürfeln befüllt werden. Warum auch immer. Oder wozu. Die Klofrau, eine Westafrikanerin, die zu den karibischen Rhythmen ihres kleinen Verstärkers wie entgeistert auf der Stelle neben ihrem Trinkgeldteller vor sich hin skankt, weiß wahrscheinlich auch nicht so recht; sie macht’s halt einfach.

Auf dem Heimweg dann, längst war es dämmrig geworden und dementsprechend auch kalt, endlich erster Widerhall von Böllern aus Hinterhöfen.

Feierabend mit Goldrand.