30.5.

Auch weil ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, die Stadt vor dem Fenster, die Türme wurden kleiner und kleiner, kam es mir bald so vor, als könnte ich das im Freibad Erlebte dort zurücklassen und es bliebe dort alles so, wie mit einer Pausentaste angehalten, bis zu meiner baldigen Wiederkehr. Am Tisch gegenüber saß ein agiler Greis im blauweiß karierten Hemd mit kurzen Ärmeln, die Klimaanlage dieses Großraumwagens war ausgefallen, zunächst wurde es vertuscht, dann wurde stilles Wasser verteilt, dann eine rasche Evakuierung des betroffenen Wagens, unserem, über Lautsprecher angeordnet; wieso, wozu, das wurde nicht verraten, weshalb im Hintergrund bald Streit ausbrach unter denjenigen, die sich weigerten, ihre angestammten Sitzplätze aufzugeben – es war ja auch nicht »viel zu warm« – und den, nun, da sie einen klaren Befehl erhalten hatten, diesen gnadenlos exekutierenden Stewards und auch Stewardessen der Bahn, eine davon fackelte schon mit rotem Absperrband. Hier bei uns allerdings, die wir uns um den agilen Greis herum geschart hielten wie um ein flackerndes Lagerfeuerchen in finsterer Nacht, herrschte noch Frieden, denn auch wenn sich die Jüngeren dafür nicht eigens die weißen Stöpsel aus den Ohren gezogen hatten: Wir lauschten doch alle seinen Geschichten. Theodor Heuss hatte er noch persönlich gekannt.

Draußen zeigte sich indes ein wenig appetitliches Bild einer Landschaft unter verwaschenem Himmel mit diesigem Licht. Von daher dachte ich liebevoll an den gestrigen Nachmittag, als wir dort unter dem herrlichen Blau und konkret dort unter dem Sonnensegel vor dem Kaffeebüdchen einen wunderbar anzuschauenden Mann kennenlernten, also im Grunde lediglich beobachteten, aber dabei lernten wir ihn eben auch kennen, bloß er uns halt wahrscheinlich eher nicht, und dieses einseitige Erlebnis seiner Person war auf unserer Seite, die ja eine gemeinsame ist, derart wirkmächtig und von dieser Wirkung her stark, dass wir uns mehrfach in aller Stille anstupfen mussten gegenseitig, so schön war das Bild, das er uns anzusehen gab. Mit freiem Oberkörper, comme d’habitude, der unter anderem einen imposanten Brustkorb hatte, auf dem Kopf hingegen einen Fischerhut mit einem Muster ganz ähnlich wie Gucci, verzehrte er in rascher Folge eine Bratwurst und dazu zwei fleischsalatschachtelgroße Plastikschachteln gefüllt mit Auberginenpaste; hauptsächlich mit einem Löffel, teilweise benutzte er auch das mit der Bratwurst gelieferte Brötchen zum Auswischen dazu. Das ging zackzack, aber wer die Betreiber des Kaffeebüdchens, es sind Griechen, kennt, der wird dieser Leistung den ihr gebührenden Respekt zollen, denn diese Auberginensalat genannte Paste ist eine ziemlich ölige Angelegenheit. Danach gab es noch Kaffee und einen mit Quark und Rosinen gefüllten Blätterteigstrudel. Sagenhaft. Nach einem kurzen Aufenthalt im Schwimmbecken kehrte dieser Löffelgreis schon wieder zurück, um mit den Freunden Biere zu trinken. Ganz zufällig, weil wir uns da gerade in der Nähe aufgehalten hatten, bekamen wir einen Fetzen der dabei sich entspinnenden Unterhaltung mit. Ein anderer, der einen in ein hübsches Grün verwaschenen Fischerhut mit eingerollter Krempe trug, auf dem das Werbeschild besagte Wash & Go, tat kund: »Ich hab‘ mir jetzt das teuerste Handy gekauft, das es gibt auf der Welt.«

Da brauchte es eigentlich nicht den Anblick jenes monumentalen Mannes, der quer über beide Schulterblätter »Frankfurt« tätowiert hatte. Wobei der Schriftzug nur von Weitem oder flüchtig angeschaut in Frakturbuchstaben sozusagen gesetzt worden war. Wer näher hinsah, so wie wir, erkannte: Die Schriftzeichen waren aus blitzscharf geschliffenem Klingenstahl. Und damit noch nicht genug. Sogar noch lange nicht, denn um den Hals hing ihm, ebenfalls tätowiertes Trompe-l’œil, eine Kette aus bockstarken Gliedern bis auf den Bauch herab, daran schien zu baumeln ein Medaillon von Flavour-Flav-Dimensionen, darauf ward geprägt ein ihm liebes Antlitz (seiner Mutter?).

Schon klar, in dem Fall war es aber halt wirklich so, dass seinem Freunde dort die Füße in zwei Badelatschen steckten, auf deren Zehentunnel in kupferfarbenen Straßsteinchen jeweils das Wort Ghetto appliziert war.

Ghetto und Greise: Wie geht das zusammen? Im Freibad entsteht diese utopische Welt. Auch extrem Dicke, die man auf Reisen im Zug oder per Flugzeug nie zu Gesicht bekommt, weil sie schon lange nicht mehr in die Sitze passen: Im Freibad genießen sie das Wunder der Schwerelosigkeit im gechlorten Blau. Und dürfen dort auf den Schattenbänken wie hingegossen schambefreit snacken wonach ihr Herz begehrt. Weil alle dort das tun: rasten, snacken, schlafen, schwimmen, Blödsinn verzapfen, Schachspielen – und am nächsten Tag wieder von vorn. Auf dem Badelaken sind alle Menschen gleich. Sogar der eine, der wie der frühe Aphex Twin ausschaut und tatsächlich Alexander von Humboldt zitiert. Auf der Herrentoilette beim Händewaschen. Ich war dabei. They came from the stars, I saw them.

Großes Mitgefühl mit Eva und Adam. Wenigstens hatte dann Jens Riewa beim Verlesen der Nachrichten sein schlumpffarbenes Jackett an. Farblich nicht wirklich abgestimmt auf seine blauen Moderationskarten. Und dazu die blau in blau karierte Krawatte. Das komplette Ensembleu naturallement vor blauem Hintergrund. So konnten wir wenigstens noch am Bildschirm im magischen Blau des imaginären Schwimmbeckens schwelgen. Ein gar nicht mal so schwacher Trost. Und von dem Flimmern dort ging es hinüber in einen anderen Traum.