31.1.

Ursprünglich war ich auf der Suche gewesen nach »Obsession« von Animotion, auf Youtube gab es sogar eine Version, die ein sogenannter »Muse Tube« hochgeladen hatte. Leider hatte ich vergessen, die Autoplay-Funktion zu deaktivieren und dadurch shuffelte mir das Youtube-Orakel dann »Hello« von Lionel Richie.

Ein Schicksalsstück! Auch das Video hat über die dreißig Jahre nichts von seiner Frische verloren. Ganz vergessen hatte ich die Stelle, an der seine Muse im Bett liegt und liest. Mit den Fingerspitzen auf weißen Seiten, die Brailleschrift ist nicht zu erkennen, seine Muse ist blind. Ganz klarer Rilke-Bezug also, ein Grund mehr, dieses Lied zu lieben. Dann kommen kurz vor der Abblende noch drei echte Knaller, die erwischen einen total unvorbereitet, aber sonst wären es ja auch keine:

a) Ein rosa Zierkissen in Herzform.

b) Das weiße Telefon klingelt und Lionel Richie singt der Blinden den Refrain von »Hello« durch das Telefon ins Ohr.

c) Lionel Richie findet heraus, dass die Blinde die ganze Zeit heimlich an einer Büste von ihm, Lionel Richie, gearbeitet hat. Aus Ton, vielleicht ist es auch braunes Fimo, auf jeden Fall ist ihr die Frisur Lionel Richies mega gut gelungen.

Das kann ich übrigens echt objektiv beurteilen, denn ich habe Lionel Richie letztes Jahr gesehen. Und zwar nicht im Konzert und von Weitem oder auf der Videowand, nein: leibhaftig und live. Im Sunset Tower. Er hatte einen weißen Pullover an mit einem Rollkragen, so groß wie ein Winterreifen. Er sah gut aus. Und glücklich. Ich habe in meinem Leben nur wenige getroffen, mit denen es das Glück offensichtlich derart gut gemeint hat wie mit Lionel Richie.

Und wie es in den Märchen so schön heißt: Als ich dann am Donnerstagabend auf der extrem schönen, weil ergreifenden Kunstausstellung war, die Johannes Fricke-Waldthausen bei Sprüth Magers kuratiert hat, fragte mich Juliet Kothe, ob ich denn morgen auf der Eröffnung einer von ihr, Juliet, kuratierten Ausstellung bei Jan-Philipp Sexauer etwas singen könnte und zwar »Hello«. Ich war noch nie zuvor in der Streustraße gewesen, aber dort ist es jedenfalls noch so richtig schön. Es gibt noch nicht einmal Straßenbeleuchtung und später am Abend erschien am geöffneten Fenster, das zur Straße hin vergittert war, das Gesicht eines Mannes mit krummer Zigarette zwischen den Lippen, das erschien dort, es ging auf wie die Sonne, also wie Alexander Dorm.

Juliet konnte übrigens tatsächlich Klavier spielen, allerdings eben nur dieses eine Stück, »Hello«. Man hätte da vielleicht noch »Falling« von Julee Cruise daraus entwickeln können, aber dafür war es zu hektisch und zu laut. Gregor Hildebrandt saß neben dem Flügel und spielte den ganzen Abend Blitzschach gegen einen anderen Herren. Ich wusste gar nicht, dass Gregor Hildebrandt so gut Schach spielen kann. Holm Friebe war in einer Art Bestlaune, ging aber meiner Ansicht nach viel zu früh. Es gab eine kurze Überlegung, ob wir den Handel mit gebrauchten Seiko-Uhren wieder aufnehmen sollten. Vor vier Jahren haben wir so am Pool des Soho Houses ganz gut verdient. Immerhin konnte ich mit meinem Anteil, den Holm mir zunächst lieber doch nicht, dann widerstrebend, plötzlich aber überschwänglich und sogar noch mit Bonus auszahlte, weil ich ihm, vor dem Cafezinho sitzend, gewährt hatte, dass er mir die Fäden am Kinn ziehen darf, über ein Jahr lang in einem Hotel wohnen. Zwar war das ein Hotel in Äthiopien, und letztes Jahr ist es auch noch abgebrannt, aber mich trifft da keine Schuld, obwohl einige Äthiopier das anders sehen, weil ich ja diesen Hasen, T’intschal auf Amharisch – und der Hase ist in Äthiopien verhasst und gefürchtet, so wie hierzulande die Hyäne, die wiederum in Äthiopien niedlich gefunden wird. Wenn die Sonne untergeht à la Alexander Dorm, also mit reichlich Drama, dann sagen die Äthiopier nicht, dass die Engel Brot backen, sondern sie lächeln und sagen: Ach schau, der Jibb bekommt Kinder. Hyäne heißt Jibb.

Irgendwann wurde das sogar Jan-Philipp Sexauer zuviel, er verlor kurzzeitig, also beinahe absencenmäßig die Fassung und brüllte mit einer halbgerauchten Zigarre (!!!) zwischen den Zähnen seine Gäste an, sie führten sich respektlos auf, und überhaupt sollten jetzt alle den Raum verlassen, die er nicht persönlich kennt. Das war eine nicht nur einigermaßen, sondern komplett undurchführbare Handlungsanweisung. Weswegen dann auch alle einfach sitzen oder stehen blieben, wo sie eben saßen oder standen. Dann gab jemand Feuer an die kalte Zigarre, der Gastgeber saugte, stellte dann die Musik wieder an und es ging exakt genau so weiter wie zuvor.

Anne und ich brachen dann zügig auf. Wir fanden beide, dass man sich auf seiner eigenen Party nicht derart daneben benehmen darf. Sohn von Manfred Sexauer hin oder her. Rollerblade-Aktivist der ersten Stunde, Organisator der ersten Blade Night in Berlin hin oder her. Anwalt für internationales Völkerrecht – gerade als Anwalt für Internationales Völkerrecht. Aber egal.

Draußen war es hell. Ein paar Meter die Streustraße hinunter gab es ein Lokal, das noch offen hatte (oder schon wieder oder immer noch – so eine Gegend ist das dort, ich schrieb ja bereits: echt schön!!!), auf dem blauen Leuchtschild über der Tür stand: KAPITEL II.

Da konnten wir nicht anders, und man ließ uns gerne ein.

Morgen mehr.