3.3.

Orgasmus für 3 Euro 40, da kann man nicht meckern. Und auch ansonsten werden die Getränke in der Bierbar am Hermannplatz zu Preisen wie im tiefsten Frieden verkauft. Bier gibt es, Orgasmus, aber auch Tee. Ich saß dort mit zwei Frauen um einen runden Tisch. Die Frauen tranken auch Tee, sie unterhielten sich sotto voce, die Kerze war aus. Ein Fensterplatz, die Scheiben reichten vom Fußboden bis zur Decke, die Bierbar hatte sich in den ehemaligen Verkaufsräumen einer Metzgerei eingerichtet. Der Ausblick zeigte den Karstadt, dessen Gebäude den Hermannplatz beinahe ganz ausfüllt. Auf dem Vorplatz wurde ein Wochenmarkt abgebaut. Es war einer dieser Wochenmärkte, wie es sie in Berlin an verschiedenen Orten gibt: Die Stände sehen alle identisch aus, ein Holzgestell wird mit einer cremefarbenen Markise überspannt. Vermutlich werden diese Marktstände zentral verliehen. Es gibt auf den Märkten, die aus diesen cremefarben überdachten Ständen bestehen auch immer dasselbe Angebot – Oliven und Pasten, Hüttenschuhe, Räucherfisch, Halbedelsteine, Kristalle, Filztiere, Seifen aus Marseille.

In der Maya-Entzifferungsgruppe geht es derzeit um einen Teller auf drei Beinen. Er stammt aus der Mitte des 7. Jahrhunderts vor Christus. Laut der bereits entzifferten Schriftzeichen wurde er am Hofe Chahks verwendet, der in der Geschichtsschreibung der Maya mit dem Ehrentitel des Urvaters erwähnt wird. Die Frage ist nun, was auf dem Teller serviert worden sein könnte. Monatelang deuteten die hieroglyphenhaften Zeichen daraufhin, dass es sich um einen Präsentierteller für Speisen gehandelt haben könnte. Er ist, wie gesagt, außerordentlich schön. Anzunehmenderweise waren darauf repräsentative Speisen ausgestellt worden, etwa besonders schön gewachsene Ananas oder zartfleischige Mangopflaumen, die man direkt so aus ihrer weichen Schale löffeln konnte, ohne sich noch mit dem Filetieren abzumühen. Dann aber stellte sich mit der Entdeckung eines bis dahin unbekannten Schriftzeichens heraus, dass auf diesem Teller sowohl diesseitige wie auch mythologische Speisen präsentiert wurden. Er diente also, darin lag seine besondere Funktion im Haushalt am Hofe Chahks des Urvaters: als Sammelgefäß zweier Welten. Eine Ananas, die auf dem Teller mit den drei Beinen plaziert wurde, zeigte sich dort als essbare Frucht und als Repräsentation der Idee von Fruchtbarkeit und Ertrag. Auch die Gebete an eine für die Fruchtbarkeit verantwortliche Gottheit, wie deren Segen oder, im schlimmsten Fall Strafe, wurden in diesem Gefäß reflektiert (und es hat von seiner flachen Form auf drei Beinen tatsächlich etwas von einem Rotationsparaboloid.) Die entscheidende Silbe, nur ein Segment eines Schriftzeichens, dessen Entdeckung diese Deutung erst möglich gemacht hatte, lautet wi.

Das brutal hässliche Gebäude des fensterlosen Einkaufszentrum mitten im Straßenverkehr, umgeben vom bäuerlich geprägten Marktgeschehen, auf dem nur industriell erzeugte Waren verkauft werden – der Atmosphäre wegen? Die Atmosphäre ist nicht schön. Der Karstadt könnte auch leer stehen, wird es wahrscheinlich auch bald. Abreißen ist teurer als umbauen. Ich kann mir nicht vorstellen, was dort einst entstanden sein wird. Ich bin selten nur in Neukölln. Als ich in der Konstanzer Straße in die U-Bahn-Station hinunter gestiegen war, fand ich dort sämtliche Gänge mit münzgroßen Fliesen ausgekleidet. In knallendem Orange, Orangenorange. Und an den Rückwänden der beiden Tunnel hinter den Gleisen ein Mosaik aus breiten Streifen in Gelb und Lila inmitten dieses Sea of Orange. (In der Mythologie erscheint Chahk der Urvater aus einer endlos schwarzen See; also stets: die mythologische Figur des auch in der Wirklichkeit regiert habenden Herrschers entsteht zu jeder Zeit als ein soeben den schwarzen Wassern im Entsteigen begriffenen.)

Starkes Denkmalschutzbedürfnis. Insbesondere seit ich weiß, aus Frankfurt, von der B-Ebene dort, wie kaputt und im Prinzip unrettbar verloren eine ungeschickt sanierte U-Bahnstation aussehen kann. Auf der Heimfahrt dann vom Hermannplatz mit der U7, die auf ganzer Länge von Rudow nach Spandau führt: Wilmersdorfer Straße. Der Holy Grail. Die orangefarbenen und gelben Fliesen wurden zu hochglänzenden Trapezen geschnitten, winzige Partikel, nur etwas größer als die Quadrate von Bisazza, und zu indianischen Ornamenten arrangiert, von denen gerahmt der Name der Haltestelle sogar noch etwas exotisches bekommt. Und dann erst der Kontrast bei Kontakt mit der Oberfläche, also wenn man dann aus der Station heraustritt und die Wilmersdorfer Straße erst schaut! Umgekehrt ergibt sich ein vergleichsweise flauer Effekt in Paris (für Deutsche) beim Verlassen der Métro Stalingrad.

Aber einst, bei Planung und Ausbau der Wilmersdorfer Straße, aber auch bei Fehrbelliner Platz und Konstanzer – das sind meiner Ansicht nach die Großen Drei unter den U-Bahnhöfen – war die Umgebung oben ja noch hässlicher, hatten die Polizisten noch diese grünen Uniformen an zu braunen Schlaghosen. Und alle rauchten und waren gerade erst aus Stalingrad heimgekommen. Frauen benutzten Haarspray. Das Bier hieß Schultheiss. Es gab die Mauer. Und Bonn.

Dann hinunter in die Wilmersdorfer Straße, und beim Warten auf die klappernde U-Bahn auf dieses indianische Wandbild starren. Die U-Bahnwaggons waren ja damals schon gelb lackiert. Karstadt am Hermannplatz noch ein Sehnsuchtsziel. In einem anderen Grau.