6.4.

Aufwachen und vor dem Fenster sind Kirschblüten. »Ich schäme mich nicht.« Es ist Zeit vergangen, seit Bertolt Brecht das gesagt hat und entweder ist die Welt schon ein bisschen besser geworden, oder ich nur ein bisschen egoistischer, aber beides gefiele mir nicht schlecht.

Die Kinder sind auch früh auf, sie hüpfen auf dem Trampolin wie im vergangenen Jahr. Es ist jetzt, als ob es den Winter nie gegeben hätte, eine Apokatastasis der schönen Zeit, auf dem Trampolin ist sie wohl nahe der unbeschwerten. Sie rufen: »Endlich ist der Blumenbaum wieder da!«

Die dicken Hummeln kriechen in die Kirschblüten hinein. Der Landevorgang ist schwierig, diesen im Kontrast zur Kirschblüte schweren, schwarzen Wesen fällt es nicht leicht, an den zarten Kelchen anzudocken. Ich empfinde größten Respekt vor den Leistungen der Natur.

Das Boot liegt noch immer umgedreht unter der Weide, die pudrige Knospen bekommen hat wie Sommersprossen. Noch ist es zu kalt, aber vor etwa einem Jahr habe ich hier in dieses Internet gemeißelt, dass für mich das nächste Jahr erst am Ostersonntag beginnt. Und so wird es sein.

Casa Dentalis (als Name für die Praxis eines Zahnarzts – kleiner haben die es hier nicht. Was kommt als nächstes? Palazzo Vaginae für den Frauenarzt?). Ich kam an dem Gebäude rein zufällig vorbei. Am Ende einer Wanderung, zu der mich die Wirtin des Cafés aufgefordert hatte, das einstmals noch Creamcheese hieß. Ich saß dort drin unter einem der Reliefs von Schinkel und versuchte, auf Empfehlung von Moritz von Uslar, den Text Maxim Billers zu lesen, in dem er einen neuen Level von Excitement erreicht: Es sind jetzt allesamt Antisemiten, die seine Bücher nicht kaufen, oder am Nichtkauf seiner Bücher direkt oder indirekt mitbeteiligt sind. Mir ward gleich die Schuldhaftigkeit meiner Existenz siedendheiß eingefahren, denn auch ich leide als Unbeschnittener noch immer ziemlich nachhaltig an meinem Trauma, das mir Maxim Biller, der Jude, einst in Tutzing beigebracht hat, als er mich vor versammelter Mannschaft als »Sklaven der Industrie«™ bloßgestellt hat wie eine unbeschnittene Eichel am Strand von Haifa zur Mittagszeit.

Ob ich mich ins Fenster setzen könnte, um diesen sinistren Text zu beenden, fragte ich die Wirtin, die ihre Krawatte an diesem Abend in Pralinéetönen ausgesucht hatte.

Sie schaute mich an: »Na gut, Du siehst wenigstens nicht so aus wie die anderen alten Männer in Deinem Alter.«

»Wie sehen die aus?«

»Na, anders. Bedürftig. Die schauen stundenlang aus dem Fenster, ob sie eine Frau anspricht.«

»Lass ich sein, ich versprechs«, woraufhin sie mir empfahl, doch nach Köpenick zu gehen, um mir dort diese Mikrobrauerei zu gönnen, wo es, das behauptete sie tatsächlich, ein Bier gäbe, das nach einem zweitausend Jahre alten Rezept gebraut wird. Es hieße »Babylonisches Bier«. Der Braumeister, ein ehemaliger Diplomat der DDR, hätte sich das aus der Keilschrift übersetzen lassen und verfahre danach.

Ließ sich nicht ignorieren. Ich dachte von da an andauernd nur noch an dies Bier. Und freilich auch an den Braumeister. Fürchtete mich allerdings etwas vor der Wanderung. Denn die Bahnhöfe meide ich in Berlin, so viel und so gut es nur geht. Bei dem Sicherheitspersonal, das die BVG einstellt, brauche ich Sicherheitspersonal, das mich vor dem Sicherheitspersonal in Sicherheit nimmt.

Kurz vor dem Sonnenuntergang ging ich dann aber los.