8.9.2019

Fortschritte greifen nach Heimerdingen, eben noch der Ort, der für mich die längste Zeit eine Heimat bedeuten konnte, gerade weil sich dort nie etwas verändern sollte. Auf einem Spaziergang am oberen Ortsende entlang machte mich Friederike auf einen grossen Kasten aus silbrigem Metall aufmerksam, der ihr unter dem Vordach eines Bauernhofes aufgefallen war. Dieser Hof war mir vertraut, allerdings ohne den automaten, als den sich der mannshohe Kasten herausstellte: Hinter Glastüren mit Griff stehen darin Tomaten, Eier oder Salatkartoffeln, aber auch pfundweise Bohnen parat. Der Automat akzeptiert Münzen und Scheine. Wir kaufen ein Kilogramm Tomaten, das funktioniert anstandslos. Kartenzahlung ist aber nicht möglich. Interessanterweise empfinde ich das als beruhigend. Oder seltsamerweise? Anscheinend will ich nicht, dass sich in meinem Heimatdorf etwas verändert. Bei eben diesen Bauern, die jetzt den Automat aufgestellt haben, habe ich meine Kindheit hindurch Milch geholt mit einer Milchkanne. Die Bauern halten jetzt längst schon keine Milchkühe mehr, ich wohne nicht mehr in Heimerdingen, aber mit einer mir nur teilweise verständlichen Anspruchshaltung erwarte ich wohl, dass dort auch während meiner oft monatelangen Abwesenheit alles so bleiben möge, wie es mir gefällt. Stellt die nächste Generation Landwirte einen Apparat auf, weil sie vielleicht nicht unbedingt Lust haben, dass wegen einem Kilogramm Tomaten abends noch geklingelt wird, während sie vielleicht gerade selbst Tomatensalat essen oder Netflixen, zeige ich mich verstimmt. Meiner Erinnerung wohlgesinnte Einwohner, die ihre Hühner noch so halten wie es meinem Heimerdingenbild behagt, belohne ich mit Zuneigung (und füttere ihren Hühnern eine beim Automaten gekaufte Tomate durch den Zaun). Offenbar erwarte ich von den Einwohnern von Heimerdingen, dass sie ganzjährig und für immer und ewig dort weiterleben, wie es mir gefällt. In einem doch ziemlich grossen und umfassenden Museum meiner Erinnerungen. Und ja nicht zu viel abstauben; bloss keine Veränderung.

Unschön. Andererseits leide ich ja nicht an Nostalgie. «Das Verschwinden der Wirklichkeit ist nicht so ausschlaggebend, wohl aber der Verlust der Illusion, obgleich das Wort Verlust immer so nostalgisch klingt», sagt Jean Baudrillard. So in etwa geht es mir im Angesicht des Automaten auf dem Bauernhof meiner Kinderzeit. Anderntags stand ich im kleinen Laden der Fruchtsaftfabrik, in der ich in den Schulferien gearbeitet hatte, und war schon wieder enttäuscht, weil es dort jetzt glutenfreies Bier gibt.

Nicht einmal zeitgemäss ernähren sollen sich meine Erinnerungsbewohner. Wenn es nach mir ginge. Das aber auch nur, weil es nicht nach mir geht.