9.2.

Gestern Abend wurde ich zum ersten Mal verwechselt. Ich saß im Zwiebelfisch und las in der NZZ, da beugte sich eine Frau zu mir herunter und fragte höflich, ob ich in der Herderstraße wohne. Das konnte ich guten Gewissens verneinen. Sie blickte mich an. Konnte sich aber sichtlich nicht von ihrem Eindruck lösen. Auch meine Stimme, die Art wie ich sie beim Antworten angesehen hatte, wie ich sprach, schien sie nicht überzeugt zu haben: »Sie sehen jemandem ähnlich, der in meiner Nachbarschaft wohnt.« Nach meinem Namen hatte sie mich nicht gefragt.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie sagte: »Er sieht genau aus wie Sie«. Dann erst bat sie mich um Entschuldigung. Ich fragte die blöde Frage, ob er denn wirklich genau so aussähe wie ich. Dabei starrte sie mich an. Offenbar wurde ihr Eindruck von Neuem belebt, sobald ich mit ihr sprach. Ich war für sie wie eine Erinnerung an den anderen, die ein Eigenleben begonnen hatte. »Gut, dass Sie es nicht sind«, sagte sie im Gehen. »Er ist kein angenehmer Mensch.«

Ich zahlte und ging. Kam an ihrem Tisch vorbei, wo sie mit einem Herrn in ihrem Alter saß. Sie unterhielten sich leise. Ich konnte nicht anders als anzunehmen, dass es um mich ging.

Oder um den anderen.

Der andere. Das ging mir lange nach. Der Gedanke kam immer wieder. Ich schaute mir die Herderstraße, von der ich zuvor noch nie gehört hatte, in Streetview an. Eine kurze Stichstraße in der Nähe der Oper.

Um 3:30 Uhr wachte ich auf und dachte in der Dunkelheit schon bald wieder an diese Straße. Und war anscheinend bereits im Plänemachen begriffen, mir diese Straße zumindest einmal anzuschauen. In der verhohlenen Absicht, dort dem anderen zu begegnen. Es würde beruhigend sein, wenn ich dann feststellen könnte, dass er mir nicht derart ähnlich ist. Was, wenn doch? Beziehungsweise: Würde ich überhaupt erkennen können, wenn er mir zum Verwechseln ähnlich wäre? Ansprechen würde ich ihn auf gar keinen Fall. Womit denn? »Wir sehen uns ähnlich, finden Sie auch?«

Er mich aber vermutlich. Denn wie die Frau sagte, ist er kein angenehmer Mensch.