IN BANSKOS WELT

Ursprünglich hatten wir nicht vorgehabt, nach Bansko zu reisen. Aber seitdem wir von dem Whirlpool in Jakoruda aus auf die schneebedeckten Gipfel des Piringebirges geschaut hatten, war der Wunsch, dort auch sein zu dürfen, stark. Bansko, der Ort, ist zudem die vorletzte Haltestelle der Rhodopenbahn. Und das milde Bier, das uns an dem ersten Abend vor dem Kiosk an der Autobahnbrücke in Sofia ausgeschenkt ward, das Bier von den Bergen, wird auch dort gebraut.

Durch die Lage direkt am Fuße des dramatisch aufragenden Massivs, der vielen Steilhänge wegen, ist Bansko vor allem unter Wintersportlern beliebt. Doch zumindest die Altstadt ist auch spirituell aufgeladen. Die Häuser im Ortskern rings um die Kirche zur Dreifaltigkeit, auf deren schlichtem Turm aus Feldsteinen gemauert ein Storchennest eher hängt als steht, sind im sogenannten Bulgarischen Wiedergeburtsstil erbaut. Der Begriff bezieht sich auf die Epoche nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft, die mit der Wiedervereinigung Bulgariens im Jahre 1848 (diese Zahlenkombination sieht man häufig und überall im Land als Graffiti) ihr endgültiges Ende fand.

Zu unserem Glück hatten wir ein Zimmer in der direkt der Kirche gegenübergelegenen Pension Dedo Pene erhalten. Als wir dort eintrafen, fand auf dem Kirchplatz gerade eine Hochzeitsfeier statt. Und zwar mit ganz ähnlicher Musik von Trommeln und Klarinetten, wie sie uns im vergangenen Jahr auch von dem Garagenhof in Frankfurt zu Ohren gedrungen war, als dort bekanntlich in der weiteren Verwandschaft der Mume eine Hochzeit gefeiert ward. Nun schloss sich hier in Bansko damit ein Kreis. Es schließen sich hier sowieso andauernd Kreise. Und manchmal kommt es mir schon so vor, als ob ich vielleicht doch vom bulgarischen Blute bin. Vieles hier rührt mich auf eine tiefgehende Weise. Anderes scheint mir auf seltsame Art vertraut, verständlich, dabei verstehe ich noch immer kaum ein Wort und kann mir auch das Wort für Danke nicht merken, weshalb ich mit dem ebenfalls zulässigen, noch aus der Osmanischen Zeit verbliebenen Merci antworten muss.

Das Zimmer im Dedo Pene zum Beispiel war mir vom ersten Augenblick das Zimmer schlechthin. Mir war, als ob ich solch ein Zimmer schon immer gesucht hätte; als ob ich viele Jahre lang auf dem Weg war in dieses Zimmer zurück: ein niedriger Raum aus verschiedenen Hölzern. Mit Fenstern am Boden, deren Scheiben in klaren Farben zu einfachen Mustern gefügt. Die Bohlen rings um das niedrige, feste Bett mit dem bestickten Kopfteil waren mit Lammfellen belegt. Ein uralter, von seinem multifunktionalen Aufbau her raffinierter Ofen (und zwei Steckdosen) als einziger Hinweis auf die technische Welt. Der Baustil der Bulgarischen Renaissance sieht hinter dem Wohnhaus einen von Mauern umfassten Innenhof vor. Sämtliche Gänge des Hauses münden in überdachte, die Fassade umlaufende Balkone aus schlicht beschnitztem Holz, von denen aus man bei Regen in wollene Decken gehüllt in den Innenhof hinein und auf die dunstigen Berge schauen kann. Die Atmosphäre ist tibetanisch. Es gibt viele Katzen. Da in Bansko in der grünen Jahreszeit eher so gut wie kaum etwas los ist, kauft man sich eine Tüte Katzenfutter der Marke Jungle und füttert die in den Gassen und Gärten streunenden Katzen, was nicht nur nicht verboten, sondern von den Einwohnern gern gesehen wird. Ein bulgarisches Pendant zum in unseren Städten populär gewordenen Urban Gardening

Heute früh sind wir im Frühtau mit der Seilbahn bis weit in das Gebirge hinein auf 1800 Meter gefahren. In der Regenzeit fährt diese Seilbahn nur einmal am Tag hinauf. Außer uns waren damit nur die Waldarbeiter unterwegs. Nach einer knappen Stunde des Wanderns erreichten wir die berühmte Schlangenkiefer, ein Solitär der Pinus Heldreichii, deren Alter von den Bulgaren auf 1300 Jahre geschätzt wird. Es ist der älteste Baum in Bulgarien. Er ist so alt wie das Land selbst. Eine Schulklasse hatte sich um den Stamm des greisen Riesen versammelt. Ein Kind nach dem anderen wurde vom Lehrer vor dem Nationalnaturdenkmal fotografiert. Bald darauf fing es zu regnen an. 

In der enorm gemütlichen Taverne am Kirchplatz, die 1720 errichtet wurde, wo man bei Sonnenschein unter einem üppig tragenden Kirschbaum sitzt, wurde uns neulich ein für diese Gegend typisches Gericht serviert: eine Art Raclette aus geschmolzenem Käse, darauf ein Kompott aus den Kirschen vom Baum im Hof. Der Kellner, in der mit rot und weiß bestickten Tracht auftretend, dabei seiner Persönlichkeit mit einem Orden, dessen Plakette das Gesicht Stalins zeigte, Ausdruck verleihend, raunte uns beim Servieren noch zu: »It’s more of a gourmet thing.« Trifft im übrigen auch auf ein Hauptgericht auf der fantasievoll zusammengestellten Speisekarte zu: Ein Hase, in einem ganzen Kürbis gegart.

Morgen geht es nach Plovdiv. Dort soll es um 30° Grad haben. Dann werden die fernen Erinnerungen an ein städtisches Leben wiederbelebt.