Café Europa

Auf dem Heimweg fuhr der Zug bis nach Köln, wo wir umsteigen mussten. Die Rheinbrücke erreichten wir bei Sonnenuntergang. Zu beiden Seiten hingen in den Gittern dort die vielen tausend Liebesschlösser eingehakt. Sah aus wie Insektenbefall.

In Bielefeld zuvor bei bestem Wetter noch lange auf der Suche nach Briefmarken gewesen. Selbst in der Buchhandlung Eulenspiegel, die 1970 eröffnet wurde, wie es auf einem Fensterkleber zu lesen war, konnte man uns dabei nicht weiterhelfen. Die Begründung klang indes seltsam: »Weil das Postamt hier schon so oft umgezogen ist« wüsste man nicht zu sagen, wo es sich derzeit gerade befindet. Im mythischen Loom selbst, dem Einkaufszentrum, fragten wir bei einem in der Filiale der Buchhandlungskette Thalia als Verkäufer beschäftigten Mann, der einem Youtube-Tutoren für Age of Empires II ähnlich sah, nach. Auch er konnte uns nicht helfen. Seine Begründung lautete dabei ganz anders und doch sehr ähnlich derjenigen, die uns der alteingesessene Fachbuchhändler der Eulenspiegel gegeben hatte: »Ich bin einfach noch nicht lange genug in Bielefeld.«

Nicht lange genug, um einen Brief verschickt haben zu müssen, fragte ich mich da. Nicht lange genug, um bei dem andauernd seinen Aufstellungsort wechselnden Postamte hinter den Algorithmus zu steigen, nach welchem Muster dieses Postamt seine Positionen tauscht?

Auflösung dann an unvermuteter, weil systemfremder Stelle: Ausgerechnet am Infotresen des Loom gab uns die dort beschäftigte Frau mit dem slawisch anlautenden Namen kompetente Auskunft. Und zwar war es so, dass sich das Postamt direkt neben dem Loom befand. So wurde es klar, weshalb der Eulenspiegel-Mann es nicht wissen wollen konnte: weil Loom quasi Systemfeind, und der Thaliafridolin es niemals finden würde: Loom erhielt ihn, es gab für ihn keine Welt mehr außerhalb des Loom.

Kaum eine Nebenstraße weiter, in unmittelbarer Nähe zum Café Europa betraten wir, durch einen Rockabillymodeladen angelockt, eine komplett entleerte Ladenpassage, die sich wie eine architektonische Version eines Holzwurmes tief in einen Gebäudekomplex aus den achtziger Jahren gefressen hatte. Die komplett weiß gefliesten Ladenflächen mit ihren weißen Einbauten und den weiß tapezierten Wänden; die weiß lackierten Geländer und Laternen, die mit hellem Marmor belegten Treppenstufen der zahlreichen Auf- und Abgänge der mehrgeschossigen Anlage: Alles stand leer und schwieg. Bis auf besagtes Modegeschäft, ein Nagelstudio und die Dependance des sinistren Uhrmachers Satu. Anfänglich noch behutsam, beinahe übervorsichtig wie aus falschem Respekt vor den hinterbliebenen Flächen (einst florierten sie noch so schön!) erforschten wir diesen Kokon des Handels, dessen Innenleben vom Loom herausgeschlürft worden war. Gut und gerne waren dies 2000 Quadratmeter, mit denen sich angeblich jede Menge anfangen lassen würde. Bloß was?

Je länger wir darüber nachdachten, desto weniger fiel uns ein. Da sagte ich: Sei nicht traurig in Anbetracht der vielen Leere. Noch im Augenblick des Abgrunds werde ich Dir eine schöne Geschichte erzählen können. Und diese handelt von dem kleinen Ortolan.