Des Vetters Eckfenster

Am Abend vor der Nacht an deren Ende die Freilassung Deniz Yücels aus türkischer Haft verkündet wurde, stand ich am Tresen einer typischen Berliner Kneipe, der Schnellen Quelle in Moabit, die sich, wie jedermann weiß, genau an der Kreuzung zweier viel befahrenen Straßen befindet. Jede für sich genommen eine nicht nur sogenannte Verkehrsader, wobei die eine von beiden, die Straße mit dem Straßennamen »Alt Moabit« sogar für sich genommen eine Zeichenhaftigkeit für unsere Republik beanspruchen dürfte, da sie vom Reichstag am neuen Hauptbahnhof vorbei entlang der Justizvollzugsanstalt bis beinahe hinaus zum Flughafen führt, um zwischendrin – und wie es in ihrer Natur halt eingeschrieben steht – auch an der Kirche des Heiligen Johannes nicht Halt zu machen, in deren wunderschönem Innenhof sich noch der letzte Maulbeerenbaum befindet. Letzter von den vielen, die einst der Industrielle Borsig hatte setzen lassen im damals noch so genannten Tale Moabs, um so, wie er hoffte, eine heimische Seidenproduktion anzukurbeln. Was misslang.

Die Fensterscheiben dort in der Schnellen Quelle sind, so sie nicht in goldener Fraktur auf rotem Grund mit den Worten »Frühstück«, »Schnaps«, und »Wein« bedruckt wurden, verhängt. Einzig die verglaste Eingangstüre gibt, wenn auch verschwommen, die Mauerschau von eventuellem Tageslicht. Es spielt bei denen, die dort drinnen stehen, keine Rolle. Die Schnelle Quelle, eine der letzten Gaststätten dieser Art in der Stadt, ist kein Ort des absichtslosen Verweilens. Wer dort eintritt, trinkt sich fest.

Interessant bleibt aber das Interieur. Wie auch in der Faulen Biene, die es bis vor kurzem noch im Westhafen gab, hat sich in den Regalen hinter dem Tresen der Schnellen Quelle kurioses Gerümpel angesammelt bis hin zu jenem Anblick heutzutage, den Anna Viebrock sich nicht ausdenken könnte. Und über all dem prangt ein Schild, auf dem in Blockbuchstaben aufgedruckt verboten wird, Haschisch und Marihuana »in jeglicher Form« zu konsumieren. Die Jünglinge im Hinterzimmer, die dort am Billardtisch die Ticker aus dem auf der anderen Straßenseite gelegenen Park, dem Kleinen Tiergarten, mit Kokain und Heroin versorgen, ficht das nicht an.

Plötzlich aber wummerte es bläulich durch die gläserne Tür. Eine elend lange Eskorte dunkler Autos mit Motorradstaffel zog dort draußen vorbei. Und wird auch sonst nur das nötigste gesprochen in der Schnellen Quelle, so wurde, da war noch nicht das letzte Blaulicht abgedampft, allseits diskutiert: Doch doch, da sei der türkische Staatsbesuch soeben vorbeigefahren. Dann kommt wohl morgen der Yücel aus dem Knast.

Am darauffolgenden Abend, nach 20 Uhr, sprach dann Ulf Poschardt in der Tagesschau.