Die schwer verwundete Witwe

By the way ist im Englischen, da vielleicht höchstens noch presentable, die einzige Wendung, die ich lieber habe als ihre deutsche Entsprechung. Das Übersehene, und halt nicht das Überzählige; das am Wegesrand Aufgelesene, das, das niemand anders gebrauchen wollte. Vom By the way geht etwas wunderschönes aus auf mich. Und ich bilde mir ein, den Zauber dieser Wendung sogar und auch vor allem musikalisch wahrzunehmen, beispielsweise, wenn John Frusciante sein By the way hineinhaucht im Chor mit Anthony Kiedis.

Vom By the way meines Wegesrandes ist mir nun endlich etwas zugefallen, das die monatelange Sperre, etwas schreiben zu können, auflösen kann wie ein körperwarmer Fluss: Bulgarien. Ich bin heute früh erwacht mit dem seltenen Gefühl des klopfenden Herzens. Mir schien die Wohnung seltsam still, lockend wie ein Vakuum. Dort sollte ich hinein. Das Lesen in dem Reiseführer, der mir nun so vorkommt wie ein Geschenk der höheren Ordnung, hat mich mit einer schönen Lust auf die Landschaften dort schon beinahe erfüllt. Die Lust so schön wie diese neue Stille. Alles dort in Bulgarien will von mir beschrieben, alles von von mir über Bulgarien Geschriebene will berühren dürfen. Dieses Gefühl, als vertraut kann ich es nicht bezeichnen, doch fremd ist es mir nicht, hatte ich schon lange nicht mehr. Es musste eine Zeit vergehen, und diese Zeit war – für mich alleine – lang.

Ich erinnere mich an den Frühsommer im Jahr 2013, als ich, aus Äthiopien nach Deutschland eingeflogen auf Kosten des Westdeutschen Rundfunks, mich mit Rainald am Grab von Fichte (Johann) traf. Ich fröstelte. Und war so angefüllt mit dem Erlebten, dass ich des Rates des Meisters bedurfte: Wie kann ich das nun in einen Text hineingießen? Darf ich das überhaupt, werde ich vielleicht vom Flitter des Exotischen verlockt und sollte besser noch abwarten?

Rainald lauschte, schwieg und hörte mir dabei ungeduldig werdend zu. Dann: »Wenn du es singen kannst, dann kannst du es auch schreiben«.

Die Geste, mit der er diese wichtige Information des Gesungenwerdenkönnens begleitet hatte, ist mir bis heute und immer im Gedächtnis eingebrannt: ein amphorenhaftes Ausstülpen seiner Hand vor dem Mund. Zerbrechen der chorischen Maske. Aufstand der eigenen Rede.

Ich würde ihn nicht Meister nennen können, wenn diese einzelne Geste im Verbund mit diesem einen Satz nicht essentiell hätte werden können für mein Bedürfnis nach einer Form. Und so wurde aus dem Afrikatext nichts. Auch der nachfolgende Anlauf, bei dem ich versucht hatte, den Wurzeln des Transgendergefühls in den subtropischen Kulturlandschaften Thailands, Kambodschas, Burmas und Sri Lankas nachzugehen, war unverkäuflich geblieben.

Bulgarien will ich singen. Es fällt, wie es mir scheint, alles in eins. Meine mir selbst unerklärliche Faszination für das mumische Leben hier in der Frankfurter Innenstadt, die von Anfang an da war und auch sehr stark, war, wie ich jetzt weiß, nur das einzelne Korn an meinem Wegesrand, das ich aufnehmen wollte, um es beiseite zu stecken. »Wer weiß, wozu es noch gut ist«. Im nächsten Juni, meinem Geburtsmonat unter dem Zeichen des Krebses, der auch das Zeichen meiner Muse ist, soll es aufgehen. In den Rhodopen.

Rhodopen: allein dieses fruchtbare Wort.