MIT CARL FRIEDRICH GAUß BERGAN ZU DEN POMAKEN VON SVETA PETKA

An Bord der Rhodopenbahn fuhren wir bis zur Station von Sveta Petka, die am Saum eines Hochwaldes an einer Wiese lag. Dort stand ein braunes Pferd unter einem Holunderbusch. Von der namensgebenden Siedlung war nichts zu sehen, also folgten wir dem einzigen anderen Fahrgast, der hier mit uns vom Zug abgestiegen war. Er war uns schon während der knapp einstündigen Fahrt aufgefallen, weil er die Seiten seines Oktavheftes mit den immergleichen Zeichen gefüllt hatte – anscheinend denen der Ziffer Neun – bis er von einer der mitreisenden Pomakenfrauen, die vom Markt in Velingrad nun mitsamt der ihnen verbliebenen Fantaflaschen, gefüllt mit Ziegenmilch, zurück in ihre Dörfer reisten, darauf angesprochen ward, ob er ein Musikant sei. Diese Frage hatte er, so dachten wir, bejaht. Und bei seinen Ziffern würde es sich demzufolge um Noten gehandelt haben. Wobei: Ganz sicher konnte man sich da nie sein, da die Bulgaren ja mit dem Kopf wackeln, um ein Ja zu bekräftigen und umgekehrt mit dem Kopf nicken, wenn sie verneinen; manchmal, so hatten wir es auch schon erfahren, wollten sie einem mit ihrem Wackeln und Nicken aber widerum das Umgekehrte bedeuten. Eindeutig wurde es nie.

Nun, da wir gemeinsam von den schmalen Gleisen der Bahnstrecke, vorbei an dem einsamen Pferd, rasch in den steilen Wald hinein strebten, fragten wir unseren Wanderkumpanen, ob er als Musiker dort in das Pomakendorf eingeladen war. Er widersprach leicht empört: »Ein Musikant? Nein. Ich bin Mathematiker.« Und zog, wie um sich auszuweisen, eine in Blau eingebundene Broschüre hervor, deren Titel ein Porträtbild von Carl Friedrich Gauß hatte. Hiervon entspann sich nun, dabei wir feste bergan liefen, ein längerer Vortrag seinerseits, von dem wir kein Wort verstehen konnten, da er auf Bulgarisch gehalten wurde. Zeit, den Übersetzer aus dem Beutel zu kramen, hatten wir keine, denn es ballte sich schon seit unserer Ankunft eine bleierne Wolkenschicht über den Wipfeln der Kiefern des Waldes um uns herum. Und unserer Erfahrung nach würde das in wenigen Minuten zu einem deftigen Gewitter führen – nicht umsonst war es in den Rhodopen so unnachahmlich saftig und grün. Unseren Begleiter focht das aber nicht an. Unsere erschreckten Gesten gen des ballenden Graus wischte er weg, bloß um uns dann wieder eine anders aufgeblätterte Seite seiner Broschüre vor Augen zu halten, um so auf eine weitere Delikatesse im reichen Werk des Princeps hinweisen zu dürfen. Einmal, das war vor einem steinernen Waldbrunnen, aus dem direkt aus dem Fels entspringendes Mineralwasser geschöpft werden durfte, nutzte er die eilige Trinkpause sogar dazu, mit einem Stöckchen jenen Stern mit 17 Strahlen in den Waldboden zwischen unseren Füßen einzuzeichnen, für dessen Berechnung Carl Friedrich Gauß unter anderem gerühmt ward. Und gleich nach der nächsten Biegung des steilen Weges kündeten erste Müllberge vom Beginn der pomakischen Siedlung. 

Wir erreichten das Zentrum des entlang einer Landstraße errichteten Dorfes, da fielen schon Tropfen. Der Mathematiker hatte sich von uns vor dem Tore des Schulgebäudes verabschiedet. Hastig war er dort die Stufen eines sich unter den Kiefern emporwindenden Weges hinaufgesprungen. Die blaue Broschüre in der Hand. Das Dorf schien ausgestorben. Rings um die Moschee, deren Minarett ungefähr sechs Meter aus dem Boden empor ragte, gab es einige kioskhafte Hütten aus Wellblech, an der Rückseite der eiförmigen Agora war die Terrasse eines Cafés, das geschlossen hatte. Doch unter den Sonnenschirmen, die in den Rhodopen auch verlässlichen Schutz vor dem Regen bieten sollen, fanden wir Platz. Nun war es an der Zeit, den vorbereiteten Satz auf dem Display des Übersetzers vorzuzeigen. Der Betreiber des Cafés las unseren dort auf Kyrillisch formulierten Wunsch nach einer Übernachtungsmöglichkeit heute, hier in Sveta Petka ab und machte direkt abwehrende Handzeichen. Unsere weiterführenden, im höflichen Tone eingetippten Bitten lehnte er durchgängig ab. Anstelle deren verwies er uns auf den Nachbarort Yundola. Dort gäbe es immerhin ein Hotel. So ging das einige Zeit hin und her. Mittlerweile wurden in dem Café die Fensterscheiben mit einem bunten Besen geputzt. Eine Pomakin legte uns mit sanfter Geste zwei Päckchen Salzletten auf den Tisch. Und als ein lautes Knacken aus den hoch oben an dem Minarett befestigten Megaphonen den Gesang des Muezzins ankündigte, fiel einem der vor dem Café sitzenden Männer der Kopf in den Nacken und seine Lippen klafften dunkel und weit. Hier würde sich, eventuell, übermorgen etwas in unserem Sinne ergeben. So aber blieb uns nach einem Blick auf den in weiser Voraussicht am Bahnhof von Velingrad abfotografierten Fahrplan der Rhodopenbahn nur noch den Weg zurück durch den tropfnassen Wald bergabwärts zu nehmen, um den letzten Zug nach Jakoruda noch erwischen zu können. Hier fanden wir Herberge im Hotel Sonnenschein, für dessen Buchung wir auf booking.com prompt beglückwünscht wurden, da es sich um ein Hotel in der Topkategorie der Hotels in Jakoruda handelte. Es war das erste und einzige Hotel am Platz. Der Ort selbst, das Hotel sollte sich eineinhalb Kilometer außerhalb befinden, war unauffällig. Beinahe schläfrig über die für rhodopische Siedlungen typische Lethargie hinaus. Auf der Suche nach einem regionalen Snack betraten wir eine von Zeltplanen überspannte Baracke, in der einige junge Frauen vor Blechtellern, überhäuft mit Pommes Frites, saßen. Unsere auf dem Übersetzer leuchtende Frage, ob es hier etwas Warmes zu essen gäbe, wurde vehement nickend verneint. Ich hielt einer von ihnen den Übersetzer hin, verbunden mit der Frage, wo wir denn hier etwas essen könnten. Ihre Spracheingabe wurde von unserem Gerät wie folgt übersetzt: »Unter der Brücke nach links unten sind die Wangen des Restaurants.« 

Wir fanden dort einen von zahlreichen Schirmen der rhodopischen Brauerei überdachten Bereich mit Tischen und Stühlen. An einem saß ein veritabler Zwerg. Der Mann war nur etwas über einen Meter hoch gewachsen, sprang aber behende umher und tauschte als erste Amtshandlung, die auf dem von uns ausgewählten Tische die feucht gewordenen Servietten gegen einen trockenen Stapel aus. Bald wurde uns von einer Frau aus dem Inneren des sagenhaft dekorierten Flachbaus eine Suppe serviert, aus deren würzig trüber Flüssigkeit, die obendrein auch noch nahrhaft, weil reich an tierischen Fetten war, unsere Löffel eine schier unendliche Vielfalt an in Stücken geschnittenen Innereien zu Tage schöpfen durften. Die Brotscheiben wurden mit 10 Cent pro Stück abgerechnet. Die Suppe war nur wenig teurer. Auch fand ich dort, im Inneren des Flachbaus, bald darauf einen starken Freund, der, selbst für einen Bulgaren, ungewöhnlich muskulös vom Wuchse war: sein Nacken allein durfte, wie ich es vor unserer Abreise noch in dieser Zeitung in einem ähnlichen Zusammenhang gelesen hatte, dazu geeignet sein, ein Passagierflugzeug zu ziehen. Und auf Vermittlung dieses bulgarischen Riesen, der Zwerg lauschte unserem Gespräch gebannt, fuhr alsbald, denn ein reguläres Taxigewerbe war in den Wangen dieser Stadt noch unbekannt, ein junger Mann in einem Passat vor, der uns dann zum Hotel Sonnenschein kutschierte.

Dort war schon ein Whirlpool aufgebaut, in dessen heiß blubberndem Mineralwasser wir mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel hinter Bansko saßen. Bis zum Eintreffen einiger englischer Greise, die uns mit dem für diesen Menschenschlag leider üblichen Betragen den Aufenthalt im Sonnenschein vergällen würden, hatten wir fortan eine herrliche Zeit. Einmal, da wurden wir beim Botanisieren in den Sümpfen hinter dem aufgegebenen Wellnesszentrum vom Starkregen überrascht, mussten wir unter einer kleinen Brücke Zuflucht nehmen. Dort saßen wir dann beinahe zwei Stunden lang auf einer Schäferbank an einem beständig anschwellenden Strom, der mich am Schlusss die einzigen Schuhe kosten sollte, die ich für diese Reise mitgeführt’. Aber herrlich war’s, wie der Regen hier zu beiden Seiten wasserfallhaft herunterrauschte. Die gelben Dolden der Königskerzen leuchteten aus dem dunstigen Grau.