Totensonntag

Ich bin noch unentschieden, ob Kranz oder Wurst. In meiner Kindheit gab es zweierlei: mal einen Adventskranz, in anderen Jahren ein längliches Gesteck aus Zweigen, intern Die Wurst genannt, aus dem die Kerzen hintereinander angeordnet ragten wie Schlote. Der Vorteil des nicht traditionellen Modells besteht darin, dass sein Besitzer nicht überlegen muss, welche Kerze er am ersten Advent anzünden muss. Entweder links oder rechts. Beim traditionellen Kranz kann, das habe ich mit mir selbst schon erlebt, der halbe Adventsvormittag schon vergangen sein, und diese wichtige Frage war dabei unbeantwortet, das Problem der Anzündreihenfolge dadurch unentschieden geblieben.

Mein Großvater Hermann Anton, längst verstorben, hatte in den späten Achtzigerjahren eine noch weitgehendere Form der Innovation des Christbaumes erfunden. Mittlerweile würde man sie als disruptiv bezeichen: An einem ersten Weihnachtsfeiertag betraten wir dort bei ihm das Wohnzimmer, das aufrgund seiner enormen Deckenhöhe eher eine veritable Halle war, und von dieser Hallendecke herab hing an einer goldenen Kordel befestigt ein Gesteck aus teilweise enorm auslanden Nadelzweigen bis beinahe hin zu dem weit darunter aufgestellten Gabentisch; die Zweige freilich wie üblich mit Kerzen und Kugeln geschmückt, insgesamt aber eine freie Interpretation des Konzeptes vom Baum. Eine Abstraktion des Klassischen. (Wobei ich dieses Wort zunehmend als abgegriffen und kaum noch etwas aussagend befinden muss, seit ich neulich in einer Kochsendung einen Koch hörte und sah, der auf die Frage des Moderatoren, wie er den Sud für das Garen der Grießklöße hergestellt habe, antwortete »Mit Wasser. Also ganz einfach mit klassischem Wasser«, und ich dann dadurch ins Nachdenken kam, was wohl mit nicht klassischem, was mit modernem Wasser gemeint sein könnte.)

Er, Hermann Anton Bessing, ein Westfale, oft mürrisch und so manches Mal polternd und grob, konnte in seinen Werken mit Blüten und Pflanzen – er legte Parks an und Gärten von Beruf – eine uns allen verborgene, seine feinfühlige und ästhetische Seite zum Vorschein bringen. Sie offenbarte sich eigentlich nur da, vornehmlich im Freien. An Weihnachten auch drinnen. Und er kochte und backte sehr gut, alles ohne Rezeptbücher, wie er, der schon seit ich denken konnte so gut wie taub war, es nannte: »nach Gehör«. Außerdem behauptete er, das zweite Gesicht zu besitzen. Angeblich gab es das unter seinen Vorfahren schon seit vielen Generationen: die Begabtheit zur Spökenkiekerei.

Außer ihm gedenke ich heute seiner Frau Margharete, meiner Tante Elisabeth Symietz, meiner Urgroßmutter Rosa Neuppert, meinen Großeltern Hildegard und Rudolf Sauber, meinem Cousin Jan Bessing und Katrin Fichtner.