VON BERLIN VIA STUTTGART NACH HEIMERDINGEN UND VON DORT AUS ÜBER BESIGHEIM UND MARKRÖNINGEN NACH FRANKFURT AM MAIN

In der Bahn, zwischen den Haltestellen Feuerbach und Neuwirtshaus saßen mir gegenüber zwei Mädchen, die eine hübsch wie selbst die junge Nastassja Kinski es nie war, und besprachen ungeniert (weil es drängte), eine Herzensangelegenheit, die wohl mit einem Zwischenfall während einer Whats-App-Unterhaltung mit einem nicht anwesenden jungen Mann zusammenhing. Ich lauschte. Und wurde ganz gerührt von der feinen, sensiblen Art wie beide miteinander sprachen. Und auch wie genau sie ihre Gefühle voreinander beschreiben konnten. Kann ja sein, dass ich mich falsch erinnere, aber ich dachte: so klar und deutlich konntest du das in diesem Alter nicht. Da hat sich etwas wichtiges getan inzwischen; ein empfindungssprachlicher Epochensprung.

Am nächsten Tag dann zeigten sich in der Frühe schon lachsfarbene Wölkchen über den Dächern, es wurde eine Ausfahrt gemacht ins Hinterland, wo an den Steillagen die Reben in schurgeraden gelben Reihen aufwärts führten wie Cord oder wie nass gekämmt. Und in den Ebenen waberten die endlosen Reihen von Spargelbüschen in einem giftigeren Gelb über den Sandböden wie Dämpfe. Der Himmel war blau. Wie es sich herausstellen sollte, war dies eine Erinnerungslandschaft meiner Eltern, in der sich Geschehen vor meiner Geburt abgespielt hatten. Ich wußte gar nicht, dass Markgröningen, ein Dorf, das ich lediglich vom alljährlichen Schäferlauf kannte, eine derart malerische Altstadt besitzt. Im zweitschönsten Fachwerkbau, dem Gasthaus zum Bären bekamen wir einen sehr guten Mittagstisch mit Rostbraten, Suppe, Bier und Salat.

Leichte Gartenarbeit unter der Anleitung des Vaters. Ein Beet sollte entstehen, wo einst der Rhododendron seinen Platz hatte. Mit zum Ende hin zunehmend schwer wiegendem Gerät (die Garage enthält davon schier unerschöpflichen Vorrat), riß und hackte ich dessen Hinterlassenschaft: sein kabeldickes Wurzelsystem, aus dem lehmigen Grund — schweißtreibend. Aber halt auch schön, mal, zwischendurch.

Die dafür bestimmten Sträucher, Johannisbeer sollten es sein, besorgten wir in einem veritablen Großmarkt, der hier, wo jeder »jeden Schritt« mit dem Auto zurücklegt, US-amerikanische Dimension hat. In jeglicher Hinsicht. Gleich im Foyer, noch vor den Blumen, gab es ein massiges Becken, in dem seehundsgroße Koi-Karpfen ihre Bahnen zogen. Das sichtbar gemachte Unterwassergeschehen zog die kleinen Kinder freilich an wie Eisenspäne, sollte aber natürlich auch kapitalisiert werden, weshalb es einen gleich neben dem Fischbecken aufgestellten Automaten gab, der nach Geldeinwurf den Kindern magische Kugeln aus durchsichtigem Plastik spendierte, in denen sich die Pellets befanden, mit denen sie dann die herrlich schimmernden Tiere füttern konnten, während ihre Mütter einkaufen fuhren (den Wagen, schiebenderweise.) Die Weitläufigkeit des Gartencenters bedingt es, dass man den Kindern eher mehr als bloß eine dieser Koifutterkugeln kauft, damit die Zeit bis zur Wiederkehr der Mutter nicht mit Blödsinnmachen vertrieben wird.

In der Abteilung für Whirlpoolbecken und Jacuzzis entdeckte ich just eben das Modell wieder, in dem ich im vergangenen Sommer im bulgarischen Jakoruda gesessen hatte mit Ausblick auf die Rhodopen. Sparkling memories. Schäumend auch.

Nach dem Einladen der Sträucher, einer mit Stachelbeeren ging auch mich mit, weil man in solchen Märkten ja immer noch etwas kauft, was man ursprünglich gar nicht vorgehabt hatte zu kaufen, führte meine Mutter mich in die Sonderverkaufsschau, wo es thematisch natürlich bereits Weihnachten geworden war. Und zwar mit allem: mit Neon und Spray-Schnee und eisbedeckten Bachläufen, in denen es gewittrig flackerte wie auf der Tanzfläche von Stayin‘ Alive. Ich bin da mittlerweile unentschieden, obwohl es für mich früher undenkbar gewesen wäre und ich freilich mit nichts anderem dekorieren könnte, als mit Strohsternen und durchsichtigen Glaskugeln und Kerzen in rot. Aber wenn es dann so komplett überkandidelt vor einem sich, wie es heißt: erschließet, das sogenannte Winter Wonderland Punktpunktpunkt. Im mumischen Wohnzimmer wars doch vor einem Jahr ähnlich gewesen, fiel mir dabei ein. Bloß halt nicht ganz so üppig. Dann lieber doch karg.

In der dem Konzept dieses Supercenters eignenden Logik hinsichtlich Kundenführung, schloß sich direkt an das Weihnachtsland die Freiluftzone mit Grillgeräten an. Saisonal betrachtet wurde man also aus der Zukunft in die abgeschlossene Vergangenheit geführt. Dort verharrte ich mit dem Vater schon auch ehrfürchtig, vor allem aber heidnisch gestimmt vor einem ausladenden Altar zur Garung extrem großer Mengen Tierfleisches. Ein ganzer Koi hätte dort entspannt lagernd neben einem anderen Platz gefunden. Das Gerät nannte sich unverständlicherweise Napoleon, der ja a) kleinwüchsig gewesen sein soll, b) Franzose (keine Barbeque-Nation) und c) laut Mommsen: feuerscheu. Solcherlei diskutierend wurden wir von einer der Verkäuferinnen angesprochen, die mit einem der für das Supercenter typischen Uniformmäntel angetan war — also in grün. Und die zeigte uns nun auf ihrem Telephon, dass sie sich just heute früh erst, wie sie sagte: privat, einen dieser Napoleon-Herde gekauft hatte. Und zwar, weil wir sie fragten, warum, weil es ihre Leidenschaft ist: zu grillen. Sie zeigte uns auch unaufgefordert weitere Fotos, mit denen sie einige ihrer denkwürdigsten Fleischgerichte festgehalten hatte. Das schaute imposant aus, weil die Fleischstücke uns teilweise größer erscheinen wollten als einer der Koi-Karpfen aus dem Becken im Eingangsbereich.

Doch warum ausgerechnet dieser Grill, der mit dem Namen Napoleon?

Sie freute sich, so als hätte sie zu lange auf diese Frage schon warten müssen: »Weil ich nur bei dem eine Sizzle-Zone habe,« sagte sie und lenkte mit einer Handbewegung unsere Blicke auf ein jenseits des regulären Rostfeldes angebrachtes Gittergehäuse aus besonders hochglänzend poliertem Edelstahl. »Dort herrscht eine Temperatur von 600° Celsius. Nur bei der Hitze kriege ich mein Fleisch so hin, wie ich es haben will.«

Das Auto, in dem sie ihren Napoleon nach Hause schaffen würde nach Feierabend war ein Opel Adam, das war ihr wichtig zu erwähnen. Wir verabschiedeten uns von ihr, ohne nach ihrem Namen zu fragen und ließen sie auf ihren Feierabend im Gartencenter wartend zurück. Die Kinder standen dort noch immer und fütterten die Karpfen. Unser Weg führte uns nach den Kassen am Fruchtstand eines Türken vorbei. Granatäpfel gab es auch.