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»Zeit essen Texte auf«

Pfingsten

Essay
zuerst erschienen am 23. Mai 2021 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Über das Übersetzungsprogramm DeepL

Wer hat eigentlich in den letzten Jahren meine Texte ins Englische übersetzt, fragte ich mich. Ich mache Filme, meistens Dokumentarfilme zu Musikthemen, die ich als Koproduktionen verschiedener Länder finanziere. Ich brauche englische Exposés, englische Sprachfassungen usw. Ich habe ständig etwas zu übersetzen, auch jetzt wieder: Untertitel für einen Film über expressiven Operngesang. Also, wer hat das zuletzt für mich gemacht, Chris, mein alter amerikanischer Freund aus München? Mit dem hatte ich lange nicht zu tun. Barnaby, mein britischer Freund in Berlin? Nein, der hat nur Korrektur gelesen, netterweise.

Korrektur gelesen, warum eigentlich? Endlich fällt es mir ein: weil ich seit drei Jahren alles selber übersetze! Mit DeepL, jener im Jahr 2017 veröffentlichten Übersetzungssoftware aus Köln, die bei Blindtests dreimal so gut abschneidet wie Google, Bing und die übrigen Konkurrenten.

Ich formuliere meine deutschen Untertitel – Übersetzungen der fremdsprachigen Dialoge und Opernszenen – möglichst einfach, damit der Zuschauer sie auf einen Blick erfassen kann und rasch wieder beim Film ist. „Meine langen Haare reichen bis zum Fuß des Turms“, singt Mélisande in Debussys „Pelléas“. DeepL macht daraus: „My long hair reaches to the foot of the tower”. Perfekt. Ich kopiere es in mein Untertitelprogramm.

Ich habe noch nie solche Haare gesehen, Mélisande.
Sie kommen von oben und überfluten mich bis zum Herzen.

I have never seen hair like that, Mélisande.
They come from above and flood me all the way to my heart.

Klingt gut. Aber ist das richtig, das Plural-they für Haare? Barnaby sollte nochmal drüberschauen. Das Tempo, mit dem ich zu dieser ersten Version komme, ist allerdings nicht zu überbieten. Selbst wenn ich die Übersetzung wüsste, könnte ich sie nicht so schnell tippen. Ich schaffe 208 Untertitel in zwei Stunden.

Lass mich.
Let me.

Hmm, das ist nicht gut. Ich klicke auf das erste Wort. DeepL bietet Alternativen an: „Leave me.“ „Get away from me.“ Schon besser. Aber jetzt:

Don’t.

Genial, das ist es. Das ist genau Mélisandes Empfindlichkeit bei jeder männlichen Annäherung. Im Unterschied zu einem echten Übersetzer kennt DeepL ja den Kontext nicht. Den kenne aber ich. Wir müssen zusammenarbeiten!

Mithilfe der Alternativen modifiziere ich nun blitzschnell jeden Ausdruck, bis er dem Kontext und meinem Sprachgefühl entspricht, und DeepL passt den Rest des Satzes an. Ich kann also auch in der anderen Sprache meinen persönlichen Stil bewahren. Ein guter Übersetzer tut das natürlich auch, aber dafür muss der Text den Umweg durch sein Bewusstsein nehmen. Hier bleibt er gleichsam die ganze Zeit bei mir, in einer Erweiterung meines Selbst. Das lange Hin und Her, die Korrespondenz, die Auseinandersetzungen mit dem Übersetzer über den intendierten Sinn – all das entfällt.

Dabei kann ich auch abwägen, was der zukünftige Leser verstehen wird. In den meisten Fällen richten sich die englischen Texte – und das gilt sicher für einen Großteil der Übersetzungen ins Englische –, ja gar nicht an Muttersprachler, sondern an Schweden, Polen, Koreaner, die das Englische als Esperanto nutzen. Wenn mir eine elegant klingende idiomatische Wendung fremd ist, die DeepL vorschlägt, mag sie auch manche meiner Leserinnen überfordern.

Es ist brutal. Ich spare ja nicht nur Zeit und Nerven, ich spare auch Geld. Chris hätte in den letzten drei Jahren vielleicht zweitausend Euro mit mir verdient. DeepL ist kostenlos. Und natürlich wehren sich professionelle Übersetzer mit Händen und Füßen gegen diese unfaire Konkurrenz. Nie werde eine Künstliche Intelligenz in der Lage sein, ein Haiku von Bashō ins Japanische zurückzuübersetzen, schreibt Franz Tieber im Forum des Übersetzer-Verbands. Das dürfte freilich auch den meisten menschlichen Übersetzern schwerfallen. Im Übrigen werden die wenigsten von Haikus leben, eher von Bedienungsanleitungen, Verträgen und Untertiteln für Musikfilme. Die Umsatzeinbrüche müssen inzwischen längst spürbar sein, und man kann nur hoffen, dass auch die Profis die Anregungen und die Zeitersparnis, die DeepL bietet, nutzen. Nach außen zitieren sie allerdings Beispiele von verheerenden Fehlern der Künstlichen Intelligenz, die natürlich auch DeepL unterlaufen, und nähren damit das immer noch eher negative öffentliche Bild der Übersetzungsautomaten. Was für Wunder die vollbringen, ist selten ihr Thema.

Und selbst deren Unzulänglichkeiten kann ein Dichter wie Clemens Setz etwas abgewinnen. In seinem letzten Buch „Die Bienen und das Unsichtbare“ lenkt er unseren Blick auf die eigenartige Schönheit missglückter Übersetzungen, wie sie auch Google Translate bald nicht mehr produzieren wird. „Genießen wir, solange wir können, die wenigen Sommer der strahlenden Nonsense-Übertragungen“, schreibt er und empfiehlt uns, Vintage-Google-Übersetzungen als Lyrik zu lesen:

Straße Unsterblichkeit
von großen kahlen Klippen
der blauen Kante
Gipfel des lächerlichen Außen-
rist
Plötzlich ein Felsblock
vor dem Schreiben
klar
übersetzt
deutlich gesagt

„Ich schwöre, das könnte genau so bei Paul Celan stehen, und alles so whoa“, schreibt Clemens Setz.

Animiert von meiner neuen sprachlichen Autonomie starte ich ein Experiment. Seit Jahren versuche ich, mit dem italienischen Fernsehsender RAI Kontakt aufzunehmen, sei es, um ihnen Koproduktionen anzubieten oder um Archivmaterial von ihnen zu kaufen. Wenn ich anrufe, geht keiner ran, wenn ich – auf Englisch – schreibe, passiert gar nichts. Ich stecke nun meine letzte Mail in DeepL, das inzwischen 24 Sprachen beherrscht, und lasse sie mir ins Italienische übersetzen. Mein Italienisch ist mittelmäßig. Ich kann beurteilen, dass die Übersetzung das wiedergibt, was ich sagen will; ob in gutem Italienisch, weiß ich nicht, ist aber auch nicht so wichtig. Einen Tag später kommt eine aufgekratzte Antwort. Der Dialog läuft, Sila von der RAI schickt mir demnächst einen Ausschnitt aus einem Opernfilm von 1956 für meinen Film!

Da kommt man doch ins Nachdenken. Ich habe meine gesamte Schulzeit lang Französisch gelernt. Gerade habe ich „Madame Bovary“ gelesen – auf Deutsch (in der großartigen Übersetzung von Elisabeth Edl, die sich vor DeepL natürlich nicht zu fürchten braucht). Auf Französisch habe ich es nicht gelesen. Ich fürchtete zu viele altertümliche Begriffe, die ich hätte nachschlagen müssen. Wäre es da nicht die bessere Alternative, ich spräche nur so gut Französisch wie Italienisch und dazu noch ebenso unvollkommen Russisch, Griechisch, Portugiesisch und Spanisch, „die paar indogermanischen Dialekte“, wie Ernst Robert Curtius sie genannt hat? Das wäre pädagogisch doch vielleicht sinnvoller als die Beschränkung auf zwei, drei Großdialekte. Mithilfe meines Partners DeepL könnte ich in all diesen Sprachen korrespondieren – wenn auch (noch) nicht plaudern. Das Pfingstwunder wäre nahe.

Mit Elisabeth Edl mag es DeepL noch nicht aufnehmen, aber es hätte sich sicher nicht so ungeschickt angestellt wie Alexander von Humboldt in Kehlmanns „Vermessung der Welt“. Humboldt wollte für seine südamerikanischen Freunde „das schönste deutsche Gedicht vortragen“, schreibt Kehlmann, „frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. Alle sahen ihn an. Fertig, sagte Humboldt. Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.“ Und nun DeepL:

Por encima de todos los picos
Es la paz,
En todas las copas de los árboles
Sentirás
Un soplo en el aire;
Los pájaros guardan silencio en el bosque.
¡Espera! Pronto
Tú también descansarás.

Das Interessante an der Geschichte vom Turmbau zu Babel ist ja, dass Gott den Turm leicht mit einem Erdbeben oder einem Wirbelsturm hätte zerstören können, um die übermütigen Menschen in die Schranken zu weisen. Er entschied sich aber für etwas Raffinierteres: Er ließ die Arbeiter in verschiedenen Sprachen sprechen, so dass sie einander nicht mehr verstehen konnten und die Arbeit an dem Turm, der bis zum Himmel reichen sollte, entnervt aufgeben mussten. Das ist modern gedacht und erinnert an Trump, den es ja nicht mehr gibt, seitdem Twitter ihn abgeschaltet hat. Und das Pfingstwunder besteht nicht etwa darin, dass Gott diese Sprachverwirrung rückgängig gemacht hätte und es nun wieder nur eine einzige Sprache gäbe, so dass alle Menschen einander wieder verstünden. Nein, nur die Galiläer sprachen auf einmal alle Sprachen der Welt. Und konnten auf dem Markt mit den hergereisten Händlern reden: auf Ägyptisch, Latein, Griechisch, Türkisch… Sila von der RAI kann ja immer noch kein Deutsch. Aber ich, dank der Künstlichen Intelligenz, Italienisch. Die Galiläer hatten „Zungen von Feuer“, wie es in der Apostelgeschichte heißt, sie hatten DeepL!

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