Der, der sich auf Englisch schämt

Essay
zuerst erschienen 2004 in Süddeutsche Zeitung

Wer zu seinem Partner „I Love You“ sagt anstelle von „Ich liebe Dich“, oder wer die Rückzahlung seiner Schulden mit einem „As soon as possible (asap)“ ankündigt, dem ist nur vordergründig ein schicker Ausrutscher in das nächstgelegene Sprachgebiet unterlaufen – in Wahrheit formuliert er dadurch seine Scham und hofft, er könnte sich als Engländer besser aus der Affäre ziehen.

Der, der sich auf Englisch schämt, wirkt zunächst wie ein Diplomat seiner selbst. Also einer, der begriffen hat, dass er und die Mitmenschen komplexe Apparate sind, zu denen man Beziehungen unterhalten muss wie unter Staaten so üblich. Auf Englisch bringt er die heiklen Nachrichten vor, damit behauptet er eine Allgemeingültigkeit seines Schicksals. Auf Englisch gliedert er sich ein in den weltweiten Zusammenhang. Dort – so seine Hoffnung - fallen er und sein Handeln nicht weiter ins Gewicht.

Die Vermittlung eines speziellen Anliegens wäre jedoch die Aufgabe einer diplomatischen Mission. Von daher gilt der, der sich auf Englisch schämt, in Diplomatenkreisen als gescheitert und die Theorie des privaten Diplomatentums lässt sich nur teilweise aufrechterhalten; es ist nämlich noch schlimmer:

Der, der sich auf Englisch schämt, leidet an einer psychischen Störung, die man fachmännisch als Teatrauma bezeichnet, also einer Furcht vor der Verletzung durch das Anschauen von Theateraufführungen. Dieses Teatrauma griff bereits einmal gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts im Weimarer Salon der Herzogin Anna Amalia um sich und konnte erst durch die Ankunft Goethes beendet werden.

Das Teatrauma rührte damals wie heute von einer trügerischen Erkenntnis her: Nämlich, dass wir Menschen uns andauernd auf einer Art von Bühne befänden; dass jede Äußerung von Wahrheit vergebens sei, da sowieso alles nur gespielt würde.

Der, der sich auf Englisch schämt, ist von seinem Teatrauma ergriffen und versucht, jegliche Wahrheitsäußerung zu vermeiden. Da Sprache jedoch der Träger von Wahrheit ist, muss ein Tea-Traumatisierter in dem Moment, da von ihm Wahrheit gefordert wird, auf eine ihm fremde Sprache ausweichen. Es liegt dann an seiner Bildung, über welche Fremdsprachen er verfügen kann. Englisch ist üblich. Bei älteren Patienten hört man noch Latein.

Das Eingeständnis, die eigene Ehe ruiniert zu haben, wird mit einem lapidaren „anyway“ abgebunden, das nötige Einverständnis wird eingeholt durch ein slang-orientiertes „D’y’kno’what’am say’n?“

Klar, aus der englischen Scham spricht auch Hoffnung: Denn der, der sich auf Englisch schämt, kann sich immerhin schämen. Er markiert sogar deutlich wofür. Teatrauma hin oder her – noch ist ihm sein Leben nicht vollends zum Theater geworden und die Momente des Stückes, die eine Auswirkung auf das Leben nach dem Vorhang bedeuten, sind offenbar auch dem Traumatisiertesten noch bewusst. Dann fällt er ganz kurz aus der Rolle, improvisiert auf Englisch über seinen Hänger und arbeitet weiter daran, dass ihm die Schlappe nicht mehr passiert.