Die Feuilletonisten

Feuilleton
zitiert nach: Hans Bender [Hrsg]: Klassiker des Feuilletons, Stuttgart 1967. S. 44-57.

Haben Sie in der heutigen Zeitung das hübsche Feuilleton gelesen? fragte mein Visavis an der Table d’hôte seinen Nachbar, einen achtbaren Bürger von runden, stattlichen Körperformen und einem schwellenden Antlitz, das wir, anstatt mit dem Vollmonde, der Abwechslung halber mit einem gut ausgepolsterten roten Samtkissen vergleichen wollen. Lassen’s mich aus, gab der Angeredete zur Antwort, wer kann denn all das Zeug zusammenlesen! - Wieso? wieso? Herr von Grammelmaier, ich dächte clodı, wir hätten jetzt ganz gute Feuilletonisten in Wien; unsere Feuilletonisten sind mir so lieb als die Pariser oder Berliner. Sie haben die Leichtigkeit des Stils, den behenden Witz, die gemütliche Weltanschauung. - Das ist alles recht schön und gut, aber sagen Sie mir, lieber Doktor, woher sollen sie denn nur den Stoff nehmen, den Stoff! Das ist der casus quaestionis. Der Stephansturm bleibt immer der nämliche, das Glacis, die Bastei, der Kohlmarkt, der Graben steht immer auf dem alten Fleck, unsere „Wiener Bilder“ oder „Wiener Volksszenen“, wie sie’s heißen, kennen wir längst schon in- und auswendig, ich wüßte mir mit dem besten Willen keinen neuen Stoff mehr. - Nun, nun, Herr von Grammelmaier, wir sind denn doch eine Stadt von zehntausend Häusern und einer halben Million Seelen; da läßt sich schon etwas herausschlagen. - Das ist alles recht schön und gut, aber bedenken Sie auch die vielen Zeitungen, und tagtäglich, jahraus, jahrein wollen sie Stoff haben. Ein Brunnen läßt sich endlich ausschöpfen. Pardon, mein Herr! rief ich dazwischen, und doch wäre es Weit gefehlt, wenn wir dächten, ein Feuilletonist bedient sich überhaupt nur der ganzen Summe des Stoffes, den ihm sein Schauplatz bietet. Ein großer Irrtum wäre das. In der Natur findet vielmehr das Gegenteil statt. Wie zum Beispiel die Fischotter von der Forelle nur das Kopfstück genießt, oder der Mensch vom Krebse nur das Schwanzstück; wie auf ein und derselben Weide die Gans, das Schaf, die Ziege, die Kuh und das Pferd jedes eine andere Grasart sucht, oder wie die Hunde in Konstantinopel, welche vermeintlich in wildester Republik leben, eine so strenge Ortspolizei beobachten, daß um den Preis des reizendsten Schinkenbeins kein Hund zu bewegen wäre, über seine Straßenecke hinaus in das Bereich eines andern Hundes überzutreten - alles sans comparaison versteht sich - ebenso, meine Herren, lehrt uns auch die Naturgeschichte des Feuilletonisten, daß dieses feine und artige Geschlecht von Kreaturen mit einem angeborenen Sinn für Grenzlinien erschaffen ist. In der Tat, die Natur hat dieses Geschöpf so eigentümlich organisiert, ihm seine Lebenssphären so präzis angewiesen, daß es für den sinnigen Beobachter des Mikrokosmos eines der freundlichsten Schauspiele ist, die Ökonomie des Feuilletonisten zu studieren. Der Feuilletonist, wie Sie sich ihn zu denken scheinen, mein Herr, der als ein wildes Raubtier genuß- und beutegierig das ganze Material einer Großstadt durchstöbert und etwa gar noch an Stoffmangel hungert: dieser Typus kommt in der Natur entweder gar nicht vor oder höchstens als eine entartete Form eines Urbilds. Der echte Feuilletonist stellt uns in der Regel das Spiel der Individualitäten in viel zarteren Nuancen dar. Er lebt durchaus im Detail. Seine Sphäre ist immer die Spezialität. Er sondert sich aus dem Raum einer Großstadt ein bestimmtes Gebiet ab und hier, auf diesem Gebiete allein, findet er seine Stoffe, und würde sie finden, wenn Sie ihm Nestors oder Methusalems Jahre zu leben gäben. Ich will, um mich deutlicher zu machen, nur einige der bekanntesten Arten aus der Gattung des Feuilletons namhaft machen.

Da ist zum Beispiel der gemeine Haus-Feuilletonist, Feuilletonistus domesticus. Sehen Sie, dieses Exemplar liefert uns gleich den Beweis, daß man ein Stadt- und Volksleben eigentlich gar nicht braucht und doch unerschöpflich Stoff für ein Feuilleton haben kann. Der Stoff des Hausfeuilletonisten ist sein Haus. Er schildert uns seinen Treppenaufgang, seine Stube, seine Möbel, seine Aussicht. Wir kennen die Launen seiner Katze und die Weltanschauungen seines Pudels. Wir kennen genau die Stelle hinterm Ofen, Wo seine Kaffeemaschine steht, wir wissen, wie viele Bohnen er abzählt, wie viele Tropfen Spiritus er anwendet, wieviel Wassergehalt seine Milch und wieviel Kalkgehalt sein Zucker hat, wenn er mit der ersten Morgentasse das Kreuz der Zivilisation auf sich nimmt. Wie Humboldt von der Fähigkeit der Erde, sich zu falten, spricht er von der Fähigkeit seines Schlafrocks, zu reißen, gesprungene Knöpfe näht er vor unseren Augen an, er beträgt sich überhaupt wie ein Fürst und lebt sein Privatleben öffentlich. In sein Gemüt läßt er nur selten blicken, was gleichfalls ein vornehmer Zug ist, aber das Herzensverhältnis seiner Feuerzange mit seinem Stiefelknecht, oder die Romane, die er in träumerischen Abendstunden unter seinen Nippfiguren spielen sieht, teilt er uns mit großer historischer Treue mit.

Aus diesen Memoiren fällt dann manches bedeutsame Streiflicht auf die Hauptperson selbst. Einen Punkt aber gibt es, wo die vornehme Götterabgeschlossenheit des Haus-Feuilletonisten ihre direkt menschliche Seite hat: das sind seine großen, geschichtlichen Konflikte mit dem Hausmeister und der hinkenden Magd. Dieser Gegensatz des Geistes zu der Materie, der Kultur zur naturwüchsigen Grobheit und Despotie der rohen Elementarkraft würde allein schon unsterblichen Stoff liefern, gleich den tausendjährigen Kämpfen der Iranier und Turanier, oder der Holländer mit ihren Sturm- und Springfluten. In der Tat gerät die Kultur oft so schlimm ins Gedränge dabei, daß es zuweilen scheint, es müsse zur gänzlichen Negierung und Aufhebung ihres Charakters kommen, das heißt der Haus-Feuilletonist würde auf und davon laufen. Doch dies Ärgste geschieht nie. Nie hat man den Haus-Feuilletonisten unter freiem Himmel gesehen. Höchstens mit seiner halben Person entäußert er sich in kummervollen Momenten seinem Hause, öffnet sein Fenster und lehnt sich hinaus. Und siehe, da bemerkt er, daß drüben im ersten Stock eben die Gnaden-Arie auszieht, die schon seit Jahren sein chronisches Leiden war; er lauscht und horcht! Rechts im Dachstübchen ertönt zum erstenmal der Tannhäusermarsch und vorbei ist die lange, lange Schreckenszeit, in der nur der Marsch aus Rigoletto dieses Stadtviertel beherrschte. Aber dort links im Erker hinter den Geranien? Ist’s möglich! Zeigt sich das allerliebste Blondköpfchen endlich ohne jenen jungfrauenbehütenden Drachen zur Seite, der so lange alle Psychographie an den Fensterscheiben unmöglich machte? Oh, das sind ja so glückliche Veränderungen, daß sie dem Haus-Feuilletonisten für eine Reihe der heitersten Feuilletons Stoff liefern! Das Gegenteil, oder wie man besser sagt, der diametrale Gegensatz des Haus-Feuilletonisten ist der Straßen-Feuilletonist, F. forensis, im hochdeutschen Flaneur, im niederdeutschen etwas unzarter auch Bummler genannt. Diese Spezies findet man vor den Schaufenstern der großen Galanterie- und Modewarenhandlungen oder unter den Torwegen von Häusern, wo sie die architektonische Form der gegenüberstehenden neuen Prachtbauten „auf sich wirken läßt“; denn leider Wirken unsere Prachtbauten auf keinem anderen Standpunkte. Der Straßen-Feuilletonist ist die Seele der Industrie. Denn luxuriöse „Gewölbe“, welche Tausende an Miete kosten, oder pomphafte Annoncen, welche Hunderte verschlingen, nützen bei dem unverwüstlichen Hange der Menschen, ihren eigenen Augen nicht zu trauen, eigentlich gar nichts; erst wenn der Straßen-Feuilletonist in seiner vornehmen, kühlen Manier ein leichtes Wörtchen hinwirft, was er hie oder dort „Hübsches“ gesehen, das elektrisiert. „Da faßt ein namenloses Sehnen“ das Herzchen des jungen Weibchens, welches dem steinreichen alten „Kampl“ ihre schöne irdische Hülle nicht umsonst angetraut hat, sondern ein schönes Inventar von irdischen Hüllen als Gegenleistung dafür beansprucht. Ein einziges Epitheton im Feuilleton der X- oder Y-Zeitung - reizend, geschmackvoll, duftig, allerliebst - verursacht schlaflose Nächte, schwere Conti und hin und wieder ein intermittierendes Wechselfieber. So flaniert der Straßen-Feuilletonist, wie die Schlange im Paradiese, durch den Hyde-Park der modernen Industrie und verführt auf jeden Schritt und Tritt unzählige Töchter Evas, welche das Neueste in Pariser Feigenblättern der unschuldigsten Unschuld in Ewigkeit vorziehen werden. Dafür ist aber auch er selbst fortwährend den schwersten Verführungen ausgesetzt. Hinter den hohen, kristallreinen Spiegelfenstern lauern die Chefs der großen Etablissements seiner Börse auf, nicht um sie zu leeren, sondern zu füllen und dafür eines seiner magischen Wörtchen reizend, geschmackvoll, duftig, allerliebst - zu erhaschen, welches im eleganten Feuilleton einer gelesenen Zeitung so „besinnungsraubend und herzbetörend“ wirkt. Die Verräter! Aber „die Tugend, sie ist kein leerer Schall, der Mensch kann sie üben im Leben“.

Der Straßen-Feuilletonist, der leichte, libellenhafte Flaneur, Widersteht solchen Verführungen. Er begnügt sich zu flattern, zu nippen, wie der Gebildete im Anschauen, nicht wie der Wilde durch Ergreifen zu genießen, und bewahrt unter allen Umständen den reinen Glanz seines heiteren, liebenswürdigen Daseins. Nie ist ein echter Feuilletonist „gewonnen“ worden; nie, nie! Oh, ziehen wir unsern Hut vor dem Ehrenmann, dem soviel Macht gegeben ist, und der sie so bescheiden gebraucht!

Der Salon-Feuilletonist ist, F. nobilis, aus der Familie des schönen Brummel, kommt zwar auch in einzelnen Exemplaren bei uns vor, so daß ich ihn immer mit anführen muß, seine eigentliche Heimat aber ist Paris und London. Deutsche Salons behandeln den deutschen Literaten noch immer nicht mit jenem nationalen Point d’honneur, wie der Franzose, auch von höchstem Rang, seinen Homme de lettres. Indes sind gut geschriebene Feuilletons auch unter uns salonfähig.

Den Franzmann mag kein echter Deutscher leiden,

Doch seine Weine trinkt er gern –

gilt nur einmal in allen Variationen und Tonarten. Der Salon-Feuilletonist, wie die Sachen stehen, ist also mehr ein Kind seiner Phantasie als der Willkürlichkeit. Er weiß, daß der Pariser jedes Zimmer, in welchem kein Bett steht, einen Salon nennt, und daran hält er sich wörtlich. In diesem Sinne nimmt er seinen Tee allerdings in Salons. Dabei wagt er hin und Wieder einen schüchternen Versuch, von seinen vornehmen Liaisons zu sprechen, und ist sehr satisfaisiert, wenn er eine illusionsfähige Seele findet, die daran glaubt. Doch nimmt er auch den direkten und offenen Hohn der Spötter nicht übel, in solchen Fällen ahmt er jenen politischen Pudel nach, der seinen unhaltbaren Wursttransport mit seinen Feinden und Verfolgern gemeinschaftlich auffraß. Eine elegante Toilette, ein parfümiertes Taschentuch, ein vollständiges Inventar von jenem überflüssigen Trödel, der dem Franzosen nécessaire ist, namentlich ein stets kompletter Stand von Haarkämmen, Bartkämmen, Haarbürsten, Bartbürsten, welche er zwar vor unseren Augen Dienst tun läßt, sowie in seinem Stile Reminiszenzen aus Lellys Kavalier-Perspektive und Wachenhusens eleganten Studien, dienen indes stets dazu, den zerstörten Nimbus immer von neuem wiederherzustellen. Wenn Sie bei dieser Spezies, mein Herr, Feuilleton-Stoffmangel suchten, so wäre es hier allein zuzugestehen; indes bietet gerade der Salon-Feuilletonist alle Hilfsmittel der Kunst auf, die Ungunst seiner natürlichen Situation vergessen zu machen. Und da der Mensch in solchen Fällen eher zu viel als zu wenig leistet, so sind wir im Grunde auch diesem Käuzlein das Zeugnis schuldig, daß er uns in seiner Spezialität recht gut unterhält.

Weniger schemenhaft, sondern ein Wesen von derbem, realem Dasein, ist der Kneip-Feuilletonist, F. restauratus. Diese Spezies ist im Kaffeehause naturalisiert. Man findet sie daselbst, nie eine Zeitung, stets aber Karten oder das Billardqueue in der Hand. Der Abscheu vor den Journalen kennzeichnet überhaupt die Art Journalisten. Die Verachtung, womit sie jedes Zusammentreffen mit Tagesblättern als eine verunreinigende Berührung behandeln, der kalte Grimm, womit sie dieselben stoßweise von Tischen, Stühlen, namentlich aber vom Billard schleudern, der deutliche Zug in ihren Mienen, wie sehr man die wahren Kulturzwecke verfehlt, daß man die Jugend überhaupt „Lesen“ lehrt, und nicht „Preferanzeln“ oder „Karambolieren“ - das alles würde eigentlich ein gefährliches, selbstmörderisches Beispiel geben, wenn der Kneip-Feuilletonist nicht grundsätzlicher Verächter des Publikums, Menschenfeind, Egoist, Homme blase, kurz Mephisto wäre. Der Kneip-Feuilletonist als Schriftsteller ist stets Satiriker. Seine Silhouetten, Physiognomien, Daguerreotypien, oder unter welchem Namen er sonst das Kaffeehauspublikum porträtiert, sind wahre juniusbriefe gegen die Menschheit. Oh, Herr von Grammelmaier, wie ich Ihren werten Namen nennen höre! mögen Sie nie das Unglück haben, ein Lokal zu frequentieren, welches der Sitz des Kneip-Feuilletonisten ist! Was Stoff ist, was Feuilleton-Stoff ist, wie unerschöpflich er ist – Sie würden es, wie ich leider, aber mit Grund fürchten muß, an Ihrem eigenen hochachtbaren Ich zu erleben haben. Keine Person ist so ehrwürdig, kein Ansehen so heilig, daß es der Witz nicht durch eine Reihe von teuflischen Wandlungen stets ins Gegenteil zu verkehren wüßte. Denken wir an den seligen Louis Philippe, der aus einem König eine Birne wurde! Das Merkwürdigste dabei wäre, Sie würden jahrelang ihren Quäler nicht einmal ahnen. Denn wenn wir dächten, der Kneip-Feuilletonist beobachtet, er sieht, er hört - nämlich so wie Menschen beobachten und hören -, so irrten wir gewaltig. Nein, der Kneip-Feuilletonist ignoriert. Der Spieltisch, das Billard ist der einzig würdige Gegenstand seiner Aufmerksamkeit und nur in Augenblicken, wo er „paßt“, oder wo sein Gegner den Stoß hat, was selten genug geschieht, wirft er der Außenwelt einen zerstreuten, abgespannten Blick durch das kalte Brillenglas hin - ein Blick, tief unterm Gefrierpunkt. Und doch war’s ein heißer, wütiger Tigerblick - und er hat seine Beute damit gepackt, um Hunderte von Feuilletons mit ihrem rosenroten Blute zu füllen. Ah, der Satan sieht alles; die Götter haben ihm ein entsetzliches Intuitions-Vermögen verliehen. Er fühlt gleichsam das Kaffeehaus, er ist odisch und sensitiv. Und dieses sein Genie ergänzt er noch durch die Inspiration des Marqueurs. Marqueur und Kneip-Feuilletonist stehen in einem wunderlichen, kaum definierbaren Verhältnis zueinander.

Sie stehen sich ungefähr wie der Großherr und der Pascha von Ägypten, oder wie eine alte Hebamme und eine junge Wöchnerin. Diese kordiale Anmaßlichkeit im Gefühle der Macht, dieses gütige Dulden oder sanfte Zurückweisen in Schranken, die sich doch immer wieder von selbst aufheben, dieser unauflösliche Geheimbund des Bedürfnisses mit allen daraus entspringenden Vertraulichkeiten und dann wieder dieses Gesetz des Dehors, dieser Rest von äußerem Anstand und Abstand! Es ist ein dunkles, romanhaftes Verhältnis, aber seine Ausgeburt schauderhaft wahr! Wehe der Stadt, Wo ein alter Marqueur und ein guter Feuilletonist sich miteinander verstehen!

Es ist eine furchtbare Allianz. Sie kann die ganze Bevölkerung zittern machen und doch kredenzt sie ihr täglich süße Melangen und würzhafte Feuilletonsartikel! O Welt der Widersprüche!

Endlich verlassen wir ganz und gar die Stadt und finden doch Feuilleton-Stoff in Fülle, denn wir folgen dem Wald-Feuilletonisten, F. tenebrosus, aus der Familie des melancholischen Jacquet - siehe Shakespeare. Der Wald-Feuilletonist haust, wie sein Name sagt, „in des Waldes düsteren Gründen, in den Höhlen tief versteckt“. Er ist der intime Freund der Molche, Unken, Blindschleichen und Ottern, sein Weg ist mit Pilzen und Schwämmen bestreut, Flechten und Moose kränzen sein Haupt. Über den Natursinn der Wiener und ihre dilettantischen Landpartien lächelt er mitleidig, er durchforscht die Himalajakette des Kahlengebirges weit über die Region der Backhendeln und des Liesinger Bockbieres hinaus. Keine „Rosa“ begleitet ihn dabei, der Wald-Feuilletonist geht immer allein.

Aus der Ferne betrachtet, gleicht er einem Selbstmörder. Einst schlich ich im Prater einem Manne nach, in der menschenfreundlichen Absicht, ihm das Leben zu retten. Gang, Haltung, Bewegung, alles war so unendlich traurig in ihm, daß ich mich fest überzeugt hielt, mit dem gehe es den letzten Weg, irgendeinem Donau-Arme zu. Der Unglückliche blieb bald stehen und stocherte in trüber Selbstvergessenheit mit seinem Stock in einem Maulwurfshaufen herum, bald warf er das Haupt sehnsüchtig gegen den Wolkenhimmel empor, wie einer, der in letzten, vollen Zügen die herrliche Gottesluft noch einmal einschlürft; von Zeit zu Zeit zog er ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb etwas auf, was offenbar sein Testament war, womit er sein Abscheiden auf dieser Welt motivierte. Endlich war der gefürchtete Donau-Arm da. Bei diesem Anblicke beschleunigte ich meine Schritte, denn ich überlegte schnell noch, warum wir uns beide eigentlich naß machen sollten, ich könnte ihn ja auf dem Lande retten und ein Gespräch mit ihm anknüpfen, das ihn auf bessere Gedanken brächte. Gedacht, getan. Ich eilte an seine Seite und wollte anfangen. Es saßen aber eine Reihe Angler an diesem Donau-Arme, steif, unbeweglich, in der schweigsamen Haltung, die man an diesen Menschen kennt. Mein Selbstmörder ging von einem zum andern an ihnen herum, betrachtete sie aufmerksam, suchend, und machte mit seinem Taschentuch Bewegungen gegen sie, wie einer, der abstäuben will, so daß sie verwundert ihre Häupter zu ihm aufhoben. Jetzt entschuldigte sich der Selbstmörder in sehr verbindlichen Ausdrücken, er sei leider kurzsichtig, er habe geglaubt, Inschriften auf ihnen lesen zu können, denn sie seien ihm wie römische Meilensteine erschienen, welche vielleicht Aufschlüsse über das alte Vindobona oder Fabiana enthielten, und welche bei niederm Wasserstand aus der Donau heraufragten. Tags darauf las ich diesen Witz nebst vielen andern in einem unserer besten Feuilletons, ich merkte mir die Chiffre und fand das Stilleben des Praters, der Praterhirsche, der Fischangler, der Käfer und Ameisen, der Gräser und Bäume, der Wolken und Winde mit einem feinen Beobachtungssinn, mit einem liebenswürdigen und unerschöpflichen Humor viele, viele Blätter durch aufs hübscheste abgehandelt. Es War der stehende Stoff dieses Feuilletonisten - es war der Wald- Feuilletonist.

Ein Gebiet will ich noch nennen, von welchem Sie auf den ersten Blick zugeben Werden, daß die Ausbeute darauf gewiß auch eine reichhaltige ist. Dieses Gebiet monopolisiert der Sozial-Feuilletonist, F. aequivocus. Man findet die Spezies des Sozial-Feuilletonisten nur in den entlegeneren Vorstädten, namentlich aber abends an den Röhrbrunnen und an den Torwegen der großen Fabriken in Gumpendorf, Schottenfeld usw. Hier studiert der Sozial-Feuilletonist seine Quellen: Dienstboten und Fabrikmädchen, von denen er Notizen über Dienst- und Arbeitsverhältnis, Angebot, Nachfrage, Löhnungen, Lebensweise, kurz über all das kleine, aber wichtige Detail der gewerblichen und proletarischen Zustände einsammelt. Eine umfassende Aufgabe!

Aber der Sozial-Feuilletonist geht ihr mit Liebe nach und hat ein angeborenes populäres Talent der Behandlung. Leider findet er für die Größe seiner Wißbegierde den schmalen Raum zwischen dem Tag, wo die Mädchen in der Arbeit, und der Nacht, wo sie zu Hause sind, viel zu klein. Ich gestehe gerne, daß bei diesem Genre von Feuilletonisten der reine Beruf und die bloße Liebhaberei, der Dienst des Publikums und der Privatsport der Person ihre Grenzen etwas unklar ineinander vermischen, so daß sich ein streng literarischer Charakter dieser Spezies nicht mit voller wissenschaftlicher Sicherheit zuschreiben läßt. Aber genug, wenn mir in diesem Umrisse gelungen ist, von den Pfeilern, auf welchen die feuilletonistische Unterhaltung einer Großstadt ruht, nur einige wenige, bei weitem nicht die ganze Kolonnade zur Ansicht gebracht zu haben. Das übrige tut die Phantasie und das Nachdenken. Wir haben abgespeist, meine Herren, ich empfehle mich Ihnen.

Mit diesen Worten ließ ich mir von dem Aufwärter meinen Paletot anziehen, den ich im April erspart hatte und den ich jetzt, an der Grenze von Juni und Juli, wieder brauche. Hinter mir hörte ich‘s halblaut flüstern: Mir scheint, das war selbst ein Feuilletonist.