Lilith Stan­gen­berg gone Wild

Essay
zuerst erschienen April/Mai 2016 in L'Officiel Nr. 2
Auf der Suche nach dem Neuen steht das Radikale – der Bruch. Vieldeutigkeit, Verwirrung, Schock wirken unseren Wahrnehmungsautomatismen entgegen und lassen das Neue als Erfahrung einer Veränderung spürbar werden. Hat Joachim Bessing das geahnt, als er den Film Wild als erster sah, als er Lilith Stangenberg und den Wolf erblickte?

Bei Wild von Nicolette Krebitz handelt es sich um einen Film, wie man ihn noch nie gesehen hat – von seiner Handlung her, von seiner Ästhetik –, und ihm zugrunde liegt eine so radikale Idee, wie sie sich nur wenige ausdenken könnten. Oder wollten. Oder dürften. Welche Frau träumt denn schon von einer Liebesgeschichte mit einem Wolf?

Und dabei geht es nicht bloß um Sex mit einem Tier. Das auch, so viel sei hier verraten und gleichsam noch nicht (hier verraten), dass es dabei, beim Intimverkehr von Ania und dem Wolf, null eklig zugeht (oder nur ein ganz kleines bisschen). Nein, es geht tatsächlich um Liebe. Es soll aber nicht verraten werden, worin die magnetische Kraft dieser einen Szene besteht, in der man, kaum hat man sich vom Schock der Sexszene erholt, begreift, dass genau so tatsächlich Liebe entstehen kann – aus einer intimen Begegnung; dass Liebe so und nicht anders gemacht wird. Und anscheinend, das bringt einem Lilith Stangenberg mit ihrer Schauspielkunst bei: egal, ob nun zwischen zwei Menschen oder zwischen einem Menschen und einem Tier.

Alles, was zuvor geschehen war, alles, was danach noch an Unfassbarem geschieht in diesem unfassbar romantischen Film, lässt diese Szene, in der Lilith Stangenberg einem wilden Tier ihre Liebe gesteht, zu einer Metapher werden. Das Kind dieser Liebe nämlich ist eine Frauenfigur, wie sie in der Filmgeschichte noch ungezeigt geblieben war. Und damit ist nicht etwa die Figur der psychisch verstörten Frau gemeint, die gibt es dort, im Film wie in den anderen Erzählformen der Gesellschaft, insbesondere in der Literatur, ja zur Genüge. Man erinnere sich in keiner speziellen Reihenfolge an Lara Croft und an Sylvia Plath, an Tank Girl, an Catherine Leiris, an Lisbeth Salander und freilich an: Thelma und Louise.

Aber es geht auch nicht um die Heilige Mutter, die sich eines weidwunden Wildwesens annimmt, um es zu hegen und an ihrer heil’gen Brust zu säugen; um die endlos Liebe gebende, sich unermüdlich opfernde und sich dennoch nach Erfüllung sehnende Frauenfigur also, die bis dato in Film und Literatur am erfolgreichsten war. Unvergesslich geblieben sind vor allem Ilsa Lund und Emma Bovary.

Die von Lilith Stangenberg verkörperte Ania ist null tragisch. Sie ist, wie Aqualung singt: strange and beautiful. Das Neue an dieser Frauenfigur besteht darin, dass Ania nicht macht, was sie muss; auch nicht was sie soll, sondern das, was sie will. Mit einem Wolf, mit ihren Brüsten, mit ihrem Gehirn. Das insbesondere scheint wesentlich, das ist neu.

Wurden Frauen in Film und Literatur vorwiegend so dargestellt, dass sie vor allem am selbstständigen Denken kirre werden (oder hysterisch, wie es früher gern hieß). In der zentralen Szene von Casablanca beispielsweise – was sagt da Ilsa Lund zu Richard Blaine, nachdem sie ihn erfolglos mit dem Revolver bedroht hatte: “Oh Rick, du musst jetzt für uns beide denken!” Ohne “bitte” übrigens. Kein Wunsch, ein Befehl. Obwohl in Schwarz-Weiß gedreht und auch ansonsten recht alt, ist der Einfluss von Casablanca als riesenhaft machtvoll einzuschätzen, vergleichbar mit dem von Madame Bovary, denn wie François de la Rochefoucauld schon im 17. Jahrhundert feststellte, würden sich “manche nicht verlieben, wenn sie noch nie davon gehört hätten, dass man sich verlieben kann”. Oder davon gelesen. Oder Filme gesehen.

Und dass man dann zu wissen glaubt, wie Lieben geht, hat infolgedessen auch noch viel mit sogenannten kulturellen Stereotypen zu tun – und weitaus weniger als gedacht (sic!) mit einem Handeln nach dem Liebesgefühl. Ursprünglich war beispielsweise für Casablanca geplant, dass die ungleich abgründigere, allein schon weil dunkelhaarige Hedy Lamarr die Rolle der Ilsa Lund spielen sollte. Doch die lehnte dankend ab. Dabei sah das Drehbuch zu jener Zeit noch vor, dass Rick und Ilsa sich bekommen sollten – und Ilsas Ehemann, der auf adelige Weise öde Victor Laszlo leer ausgehen würde. Ein damals neu verordneter Moralkodex für Hollywood untersagte aber einen Film, der den Ehebruch positiv thematisierte, und somit kam es zu einer der unglaubwürdigsten, bis heute aber prägendsten Auflösungen einer Liebesgeschichte im Film.

Eigentlich war es klar, zumindest aber war es zu hoffen, dass diese Ära der ultrakonservativen Frauenbilder bald mal zu Ende gehen dürfte. Denn warum sollten die Menschen noch immer in Stereotypen träumen, wenn sie in Wirklichkeit doch bereits ganz anders lebten? Zumindest: konnten.

“Männer waren wirklich sehr seltsam. Als wären sie traurige Geheimagenten, deren Auftraggeberland nicht mehr existierte.” Dieser herrliche Satz, so herrlich, dass intelligente Männer sofort zu Nicken anfangen wie Duracell-Hasen, steht im Roman des letzten Jahres, verfasst von Clemens J. Setz. In seinem Die Stunde Zwischen Frau und Gitarre, verlegt bei Suhrkamp, berichtet er live aus dem Gehirn einer Frauenfigur namens Natalie Reinegger. Die Liveberichterstattung läuft über knapp 1200 Seiten, und wenn man damit durch ist, wird man sehr traurig. Und man fragt sich, ob man überhaupt je wieder etwas anderes lesen will. Können geht ja irgendwie immer – siehe: Sex.

Ähnlich geht es einem nach Wild. Auch hier will man wieder und wieder diese Kennenlerngeschichte von Ania und dem Wolf genießen. Will sich noch einmal wie neu von den vielen, vielen Momenten berauschen lassen, die eben alle wunderschön sind – wie eine literarische Übersetzung von strange and beautiful lauten mag.

Wunderschön beispielsweise wie eines der zahlreichen Hämatome, die mit dem fortlaufenden Zusammenleben von Anja und dem Wolf auf den Armen und auf den Schenkeln von Lilith Stangenberg erscheinen wie die Wunschpunkte im Gesicht des Sams. Diese Blessuren, die zwangsläufig zustandekommen, wenn man sich wie Ania entscheidet, mit einem wilden Rudeltier alleine in einer Zweizimmerwohnung zusammenzuleben. Sie sind wie Knutschflecke, auf die ist man ja auch stolz und deutet sie als Zeichen der ganz großen Liebe, die überbordend sein muss. Und wehtun beizeiten. Und klar, die Figur der Ania ist ja nicht mit dem Klammerbeutel gepudert, sie ist kein Abbild einer psychotischen Frau. So viel sei noch verraten: Auf gar keinen Fall knutscht sie zu irgendeinem Zeitpunkt mit diesem von ihr so geliebten Wolf.

Strange and beautiful an diesem Hammer Film ist sogar die technische Seite – was sich hier anlässlich der Entstehungsgeschichte von Casablanca so schnöde zusammengestöpselt liest: Regisseurin Nicolette Krebitz verfasste das Drehbuch nach einem Traum, den sie nach einem ausgiebigen Studium des Blogs einer Hippiekommune, die in der Antarktis mit Tieren zusammenleben, hatte.

Lilith Stangenberg, bis dahin vor allem auf Bühnen aktiv, las dieses Drehbuch und dachte: ein Traum, den ich selbst noch nicht einmal zu träumen gewagt – das will ich sein. Es war also beinahe so, als seien sich diese beiden Frauen, Stangenberg und Krebitz, einander im Traum begegnet. Klassische Fantasie der Deutschen Romantik.

Und kein Mensch ist dem anderen Wolf. Der Wolf wird einem Menschen zum Gefährten und Mann.