Typ 1960

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zuerst erschienen im September 1960 in TWEN

Die Schüsse hatten ihn von hinten getroffen. Er torkelte die Straße entlang, fiel gegen die seitlich geparkten Autos, stützte sich gegen die Kotflügel ab und gewann dann jedes mal wieder Kraft für noch drei oder vier Schritte. Aber die Polizisten hinter ihm kamen näher. Gesunde, kräftige, ausgeruhte, wohlgenährte Polizisten mit Pistolen. Und er torkelte immer noch, kämpfte um jeden Schritt. Als brächte ihm jeder Schritt, den er noch schaffte, zehn Jahre Extra-Ablaß in jener Welt ein, in die er in wenigen Minuten hinüberwechseln würde. Als er auf dem Pflaster lag, beugte sich das Mädchen über ihn, das ihn liebte, das er liebte. Dem Mädchen kamen Tränen. Er sagte: „Du bist zum Kotzen.“ Und noch einmal: Du bist wirklich zum Kotzen.“

Das war die Schluß-Szene eines Films der “Neuen Welle“ mit einem Star der „Neuen Welle“: Jean-Paul Belmondo. Vor einem Jahr noch ein fast unbeschriebenes Karteiblatt in der Registratur der Pariser Filmkomparsenbörse - heute der Prototyp einer neuen Art zu spielen und eines neuen Stils zu leben, Jean-Paul bestreitet, daß es etwas mit ihm zu tun hat - aber die französischen Zeitungen schreiben bereits vom „Belmondismus“. „Er ist der Begründer eines neuen Mythos vom jungen Menschen wie es Marlon Brando und James Dean vor ihm waren!“ kann man allerorten lesen, Dennoch: diese Vergleiche treffen nicht. Belmondo läßt sich nicht vergleichen. Belmondo ist kein Brando, ist kein Dean. Belmondo ist Belmondo.

„Wenn du mit der Visage, die du hast, eine Frau in die Arme nimmst, fällt das Publikum vor Lachen unter die Bänke!“ Solche Worte hörte Jean-Paul mehr als einmal auf der Schauspielschule von Rayond Girard. Dort gingen sie nicht gerade zimperlich mit seinen Selbstwertgefühlen, seinem Ehrgeiz und seinem Zukunftsglauben um. Aber allen Ernstes: was konnte aus ihm schon werden - ein unansehnlicher Junge mit einem ewig wie beleidigt wirkenden Gesicht, einer unförmigen Nase und linkischen Bewegungen, vielleicht sogar schlechten Manieren. Bemondos Mitschüler auf der Schule von Raymond Girard aber waren die Jacques Charriers, die Jean-Claude Brialys, die Alain Delons - die schönen jungen Männer, denen die schönen jungen Mädchen und die nicht mehr so ganz schönen, aber dafür reichen Damen serienweise und fast wie von selbst in die Arme sanken, als ob es so sein müsste. Weil man mit diesen Charriers, Delons und Brialys wahrscheinlich auch nichts anderes anfangen kann , als in ihre Arme zu sinken. Im Film wie im Leben. Sie stehen da, wo der Regisseur sie hinstellt, und sehen aus. Sie sind die dankbaren und brauchbaren Modelle der Pin-up-Fotografen und der Filmplakat-Maler. Die wissen genau, wie das Publikum die Stars sehen will. Also projezieren sie die Publikums-Vision in das Konterfei hinein - und der Star versucht, diesem als Gebrauchsmuster gerecht zu scheinen. Was das Schlimmste ist - es gelingt ihnen.

Jean-Paul Belmondo ging derweil den Boulevard St. Germain hinauf und blickte den Quartier-Latin-Mädchen ins Gesicht, und er ging die Champs-Elysees hinauf und sah die vornehmen Damen an, und die, die vornehm taten - vor dem Cafe Georg V., in der Lido-Snack-Bar und dem American Drugstore am Triumphbogen. Und fragte sich: Werden sie lachen, wenn ich sie in die Arme nehme?

Sie lachten tatsächlich. Denn die Produzenten und die Regisseure fü̈hrten Jean-Paul nicht andars als einen miserabel aussehenden jungen Mann im Gedächtnis, der für kurze komische Szenen zu gebrauchen war. Um Gottes willen keine langen Passagen, wer sollte das ertragen. Und Jean-Paul Belmondo: „Ich schluckte es und biß die Zähne zusammen und dann bleckte ich sie komikerhaft grinsend wie das Drehbuch es befahl!“ Das Drehbuch und der immer nur widerwillig Kredit gewährende Lebensmittelhändler. Denn schließlich hatte Jean-Paul Belmondo auch Familie.

Vor sechs Jahren war Jean-Paul der kleinen Schauspielerin Elodie Constant begegnet, die aus ihrem Dorf Collioure nach Paris gezogen war, um das Theater zu erobern. Jean-Paul und Elodie trafen sich bei dem Filmagenten. Und wenn sie wieder einmal, der eine kurz hinter dem anderen, ihre aufgewärmten Hoffnungen auf Gaga und Glamour in den Karteikästen zurücklassen mußten – was häufig geschah - dann gingen sie zusammen Kaffee trinken. Dann erzählten sie einander, wie sie spielen, wenn man ihnen erst einmal die Chance gäbe. Aber die erste Rolle, die ihnen übertragen wurde, kam von keinem Theater-Agenten: Vater und Mutter zu spielen. „Es war eine verteufelte Rolle,“ sagt Jean-Paul “man mußte sein eigener Drehbuchautor, Regisseur und Akteur sein - und auch noch du Publikum.“ Erschwerend kam hinzu, daß EIodie ganz besondere Vorstellungen von Familienglück hatte: „Ein Stall voller Kinder, die pausenlos Gläser kaputtschmeißen und Musik auf Kochtöpfen machen und überhaupt kraftvoll dokumentieren, daß sie leben..”

Jean-Paul Belmondo, Sohn eines bildhauernden Professors der Akademie der Schönen Künste, setzt die pädagogischen Ansichten seiner Frau – die eigentlich immer noch ein Mädchen in Bluejeans und Blusen ist – in eine philosophische Maxime um: “Das Glück,” formuliert er, “ist eine gemäßigte Anarchie.”

Um dieser „gemäßigten Anarchie“ willen hätte Jean-Paul Belmondo noch vor einem Jahr für tausend Franc jede Rolle zwischen dem „Glöckner von Notre Dame“ und „Schütze Bumm in Nöten“ angenommen. Jean-Luc Godard, der junge Vater der „Neuen Welle „, hat sich nicht nur um die Erfindung einer neuen Art, Filme zu drehen verdient gemacht. Er hat entdeckt, was die professionellen, routinierten Filmhasen nicht fanden: die richtige Rolle für Jean-Paul Belmondo. Die Rolle in „Außer Atem“. Und niemand lachte, als er mit Jean Seberg im Bett lag. Und niemand lacht, wenn er in „Moderate Cantabile“ Jeanne Moureau in seine Arme reißt. Niemand lacht, wenn er in “Les Distractions“ mit Alexandra Stewart seine Späßchen treibt. Und niemand wird über das Liebespaar Belmondo-Pascale Petit in seinem neuen Film “Die Novizin“ lachen.

Das Gesicht des Verführers sieht nicht mehr aus wie das Lärvchen eines Tizian-Engels. Die sentimentalen oder raffinierten Verführer, die schönen vom Schlage eines Jean Marais, Geralde Philippe, Daniel Gelin (ganz schweigen von unseren Hübschlingen Adrian Hover oder Paul Hubschmied), all diese Charriers, Delons und Brialys gehen vielleicht in vieler Leute Träume ein. Wir möchten – je nach Geschlecht – so aussehen wie sie oder verführt werden von einem, der so aussieht wie sie. Aber Belmondo: geht unter die Haut. Belmondo steht an jeder Ecke, in jeder Automatenspielhalle und sieht einem nach – wenn man ein Mädchen ist – wenn man vorübergeht, und man spürt seinen Blick zwischen  Schulterblättern. Oder, wenn man ein Mann ist, dann weiß man jetzt, daß es genügt, so auszusehen wie er aussieht, um alles zu kriegen, was man will.

Der Typ Jean-Paul Belmondo hat die Modelle klassischer Kintopp-Schönheit an die Wand gespielt. Der neue Männer-Mythos, den Belmondo gleichermaßen gültig für Film und Leben, geschaffen hat, heißt: es zählt nicht mehr die Schönheit der körperlichen Ebenmäßigkeit – man muß ein Typ sein. Egal was für einer – am besten einer wie Jean-Paul Belmondo.

Die Valentino-Ära, die Zeit der Manner, die nur schön und sonst nichts waren, geht zu Ende. Valentino, der Schönling, der unsere Mütter zittrig und unsere Väter gallig machte, hatte nur eine Sorte von Gegenspielern: Typen wie Akim Tamiroff oder Peter Lorre; zu häßlich zum Anfassen, wenn auch bisweilen von faszinierender Abscheulichkeit. Die Valentino-Ara götterdämmerte bereits mit dem Erfolg von Humphrey Bogart. Es ist sicher kein Zufall, daß in „Außer Atem“ Jean-Paul Belmondo einem bis in Leinwandgröße wachsenden Bild Bogarts seine Reverenz erweist. Es ist ein Blick von Halbott zu Gott.

Marlon Brando und James Dean waren indessen noch – bei allem Rebellismus in ihnen – noch zu harmonisch in ihren Zügen um die Nabelschnur zu Valentino ganz durchschneiden zu können. Erst Jean-Paul Belmondo hat im Film die noch vom Theater übernommenen Gesetze des männlichen Sex-Appeals außer Kraft gesetzt. Der jugendliche Held Typ 1960 siegt mit seinen Unvollkommenheiten, seinen schlecht frisierten Haaren, seiner zerboxten Nase, seinen aggressiven und respektlosen Manieren.

Der Belmondist, so definierte es eine französische Zeitung, denkt dekonzentriert, kleidet sich nachlässig, und tut, was ihm Spaß macht. Er ist ganz einfach der Junge in schwarzer Lederjacke und black-jeans von der Straße – äußerlich und innerlich.

Wenn man genau hinsieht, dann hat also Jean-Paul Belmondo nicht einen neuen Stil geschaffen – er ist Teil einer ganzen Generation von Jungen aus gutem Hause, die die Entwurzelten spielen und im Grunde eher verantwortungsunlustig sind als revolutionär – er hat dem neuen Stil, der schon lange in unseren Straßen lebt, nur den Namen, den Prototyp und die Form gegeben. Vieles von dem, was heute „Belmondismus” ist, hat Jean-Paul Belmondo bereits vor etlichen Jahren in einer Episode vorweggelebt. Damals gehörte Jean- Paul einem Box-Verein an. Der Trainer des Avia-Box-Clubs im Pariser Vorort Saint-Martin, der Meistertrainer Maurice Dupain, dem Frankreich etliche Champion verdankt, hatte auf den einsachtzig großen und 64 Kilo schweren Belmondo ein besonders hoffnungsvolles Auge geworfen. Die Vorpropaganda war überwältigend. So lag eine tolle Spannung über dem Saal, als „Bebél“ – so hieß er bei seinen Sportsfreunden – sich in einer blauen Hose mit weißen Streifen zum ersten Kampf stellte. „Noch beim Umziehen in der Garderobe war ich im Gesicht grün vor Angst,“ gestand „Bebél“ später.

Sein Gegner warf sich mächtig in Positur, zeigte eine aufregende Beinarbeit und brillierte mit ganzen Salven kunstvoll ins Leere abgeschossenen Schwingern. Immerhin – es sollte ja die große Schau des Abends werden. Dem Publikum – biederen Kleinbürgern der Vororte – schlugen die Herzen bis zum Hals. Währenddessen stand „Bebél“ nur so da, fest auf seinen Füßen, und peilte seinen Gegner, das Mittelding zwischen Torero und Balletttänzer aus seinen halbzugekniffenen Medusen-Augen an. “Die Schau, die der Bursche abzog, hat mir den Nerv getötet”, erzählt Jean-Paul. „Da habe ich ihm eine gescheuert.“ Das war in der zwölften Minute. Sieger durch technischen K.O. verkündete der Ringrichter. Der Beifall war mäßig. „Bebél“ hatte den Bürgern nicht die gewohnte Schau geschenkt. Es hätte eine Filmszene mit Belmondo sein können.

Das „intellektuelle“ Gegenstück zu dieser Episode ereignete sich während der Filmfestspiele in Berlin. Belmondos “Außer Atem“ war mit großem Beifall aufgeführt worden. Nun saß „Bebél” zwischen Filmkritikern und Festspieljournalisten und mußte es sich gefallen lassen, daß man ihn analysierte und sezierte. Und dann fragte ein besonders kluger Mensch: “Man schreibt es Ihnen zu, daß die Verführung ein anderes Gesicht bekommen oder die Schönheit des Engels verloren hat. Scheint Ihnen, das wichtig?“ Wir warteten gespannt auf die Antwort. Als sie kam, war es der letzte Satz aus “Außer Atem”. Er sagte: “Es ist wirklich zum Kotzen.” Und stand auf und ging weg.