Wer hat noch Angst vor Hiroshima?

Reportage
erschienen im August 1970 in TWEN
Neu durchgesehene Fassung der Autorin
Porträt einer post-atomaren Stadt

Da wir die Macht besitzen, einander
das Ende zu bereiten, sind wir die
Herren der Apokalypse. Das
Unendliche sind wir.
Günter Anders

Amerikaner, die nach Hiroshima kommen, fragen diskret nach Missgeburten („Aren’t there any malformed children around?“). Am Ground Zero steigen sie aus den Bussen, absolvieren das Besucherprogramm und erschauern voraussehbar beim Anblick der Keloide: dickwulstiges gelbliches Narbengewebe, das man aus sterbenden Körpern schnitt, bizarre Gammastrahlengeschwüre, schwimmend in Alkohol wie abgetriebene Föten. Hiroshima hängt im Museum und stellt seine Schätze zur Schau, atomare Reliquien in verstaubten Vitrinen.

Damals, am Morgen des 6. August 1945, war der Himmel einfach zu klar – das ideale Wetter für den Abwurf der Bombe. „Mein Gott, wenn die Leute wüssten, was wir gerade getan haben, hätten wir Eintrittskarten für Millionen Dollar verkauft“, sagte Leutnant Morris Jeppson, als die Enola Gay auf dem Rückflug zu ihrem Stützpunkt auf der Insel Tinian im Südpazifik war. Hunderttausend Menschen ausgelöscht in einer Zehntelsekunde thermonuklearer Beleuchtung. Dann verschlang eine wabernde Wolke alles. Die Welt verdunkelte sich wie vor dem Jüngsten Gericht.

Die Mannschaft der Enola Gay, wer kann ihre Gesichter noch identifizieren? Mit vergilbenden Zügen blicken sie von der Wand des Museums, Charaktermasken aus einem Hollywood-Kriegsfilm, dessen Uraufführung man verpasst hat. Sie sollen die schlimmsten Killer der Weltgeschichte gewesen sein. Wer glaubt denn das? Aber der Leutnant mit dem Gesicht, das niemand mehr kennt, hatte im richtigen Moment die richtige Ahnung gehabt: Drei Millionen Atomkrieg-Voyeure strömen jedes Jahr nach Hiroshima, um dieses Schauspiel wenigstens nachträglich mitzuerleben. Alle dreißig Sekunden explodiert die Bombe im Atomic Bomb Museum; das atomare Fegefeuer beginnt, der Atompilz leuchtet auf, die Stadt kollabiert. Stereotyp ergeht die Aufforderung an das Gewissen: „No more Hiroshimas, please!“

Synchron mit der alten Apokalypse wird ein neues Auto produziert: Alle halbe Minute fährt bei Toyo Kogyo ein Mazda-Coupé vom Fließband, um eine Schlacht für das auferstandene Hiroshima zu schlagen, auf den Märkten des ehemaligen Feindes, die gerade erobert werden, in den Vereinigten Staaten und in Kanada. Vor 1945 stellte Toyo Kogyo über die Hälfte der japanischen Gewehre her. Ein Hügel schützte das ehemalige Rüstungsunternehmen vor der Druckwelle der atomaren Explosion. Nach dem Krieg holte man einen italienischen Karosseriebauer, der den ersten japanischen Wagen mit Wankelmotor entwarf. Später begnügte man sich damit, Modelle aus Europa stilsicher nachzuempfinden. Toyo Kogyo beherrscht das Wirtschaftsleben der Stadt: fast dreißigtausend Beschäftigte gehören zur Belegschaft; ein Fünftel der japanischen Autos wird hier gefertigt. Die Marke Mazda steht exemplarisch für den Erfolg Japans als Autobauer und seine neue pazifistisch ausgerichtete Ökonomie, die Autos und Fotoapparate mit derselben Präzision produziert wie früher Waffen.

Die zweite Wachstumsbranche der Stadt, der Friedenstourismus, hat sich rund um Point Zero, dem Zentrum der Explosion, etabliert. Niemand fährt mehr nach Nagasaki, wo die zweite Atombombe fiel. Dort spottet man: „Es ist wie bei einem Sportfest, Hiroshima hat die Goldmedaille, wir haben nur Silber.“ Nagasaki wurde der Titel „City of Culture“ verliehen. Hiroshima sonnt sich im Heiligenschein ewigen Friedens. Die japanischen Besucher kommen in Scharen, weil das Alibi für die Schaulust gleich mitgeliefert wird. „City of peace, peace-loving city, peace memorial city, symbolizing the ideal of eternal peace“, zeichnet Bürgermeister Setsuo Yamada, mit Unterstützung von Toyo Kogyo in sein Amt gewählt, das Bild einer vom Frieden besessenen Stadt. Noch mehr Friede kommt aus den Zigarettenautomaten und wird inhaliert. Peace heißt eine der größten japanischen Zigarettenmarken. Die staatliche japanische Tabakindustrie lenkt die Sehnsucht nach ewigem Frieden in ihre Kanäle und verdient an ihrer Verwandlung in Qualm.

Mit der Produktion von Mazdas durch Toyo Kogyo und dem täglichen Valium der Friedensbotschaft versuchte Hiroshima, der Vergangenheit zu entkommen, den Todesengel zu vertreiben, auf der Suche nach einer neuen Identität, stark genug, den geschichtlichen Fluch der Bombe zu bannen – eine Abschirmung gegen die Legenden von dem Baby mit zwei Köpfen und dem Baby ohne Gehirn, die in Hiroshima geboren wurden, und gegen die Geschichten von einäugigen Karpfen in verstrahlten Teichen und einäugigen Fruchtfliegen, die man im Laboratorium beobachtete. Aber die Haube des Friedens ist zu synthetisch, als dass sie jenseits der offiziellen Anlässe zu einem Gefühl von Gemeinschaft verhilft. Hinter dem Sichtbeton des Wiederaufbaus, der Fassade der Stadt, die alle Probleme gelöst hat und die alles hat – ein Baseballstadion, Golfclubs, einen berühmten Vergnügungspark, elegante Teehäuser und Luxushotels – zerfallen die Einwohner von Hiroshima hoffnungslos in zwei Klassen, von denen die eine aus Bürgern besteht und die andere aus hibakushas, A-Bomb-exposed people, Überlebende der Atombombe.

Die hibakushas – ungefähr noch 90.000 von derzeit 550.000 Bewohnern – befanden sich am 6. August 1945 in der Stadt, und dass sie zugegen waren, als jene altmodische 20.000 TNT-Bombe ihre Gammastrahlen und Betaneutronen schleuderte, verzeiht man ihnen bis heute nicht. Die angstvolle Abwehr vor dem, was sich in ihren Genen verändert haben könnte, ist zum dominierenden Instinkt geworden. Niemand mag hibakushas. Solange es sie gibt, nähren sie den Verdacht, dass Tomorrow-man in Hiroshima lebt, denn nur bei ihnen, den hibakushas, gibt es so etwas wie ein detailliertes futuristisches Wissen.

„Atomtote“, klärt der ehemalige Polizist Mansanobu Kohno seine Gesprächspartner in aller Sachlichkeit auf, „brennen schlechter als normale Tote.“ Ein Atomtoter rieche so schlimm wie zehn normale Tote. Tausendfünfhundert Leichen hat er in den Tagen nach der Bombe verbrannt, hat die Leichen im Fluss, die mit Ebbe und Flut immer hin- und herschwammen, aus dem Wasser geholt und sorgfältig aufgeschichtet. Brennen wollten sie nicht. „Ich musste sie dauernd wenden, am schlimmsten waren die, die der Atomblitz von hinten getroffen hatte, ihre Augen waren aus den Höhlen gedrungen und hingen neben der Nasenspitze.“ An regnerischen Tagen habe es ausgesehen, als seien kleine blaue Flammen aus der Asche der Toten aufgestiegen wie Geister.

Als Polizist fühlte er sich verantwortlich für die Ordnung in der Stadt, versuchte Totenscheine auszustellen (jeder Japaner trug im Krieg den Namen auf seiner Kleidung), aber die meisten Leichen waren nackt. Auch glaubte er immer noch nicht an die Niederlage Japans und hatte schon Bambusspeere vorbereitet, mit denen er gegen die Amerikaner kämpfen wollte, bis die Stimme des Kaisers im Rundfunk die Kapitulation verkündete.

Der weltberühmte Schatten an der Sumitomo-Bank, der sich im Moment des atomaren Blitzes in die Treppenstufen einbrannte, ist mit den Jahren verblasst, und im vorigen Sommer, als die Bank plante, ihn zu restaurieren, protestierten die Bürger dagegen. Sie wollten den Schatten loswerden. Der sieht immer noch aus, als hätte sich die Seele eines menschlichen Wesens auf der Suche nach einem letzten Halt an dieses Mauerwerk gepresst, während der dazugehörige Körper verschmorte.

Robert Jay Lifton, ein amerikanischer Psychologe und Autor, lehrt in Harvard. In seinem Buch „Death in Life: Survivors of Atomic Bombing of Hiroshima and Nagasaki“ (1968) befasste er sich mit den Leiden der Überlebenden, befragte sie zu den Verstörungen und Traumatisierungen in einer postatomaren Stadtgesellschaft. Nach Liftons Auffassung leidet jeder hibakusha unter Schuldgefühlen, deren Schwere verhindert, daß er sozial erfolgreich auftreten kann. Ein Teil seines Ichs lebt in Agonie, fühlt sich verbunden mit den Toten, nicht so sehr mit Verwandten oder Verstorbenen aus der eigenen Familie, sondern mit einer anonymen Masse von Opfern, deren Zahl seelisch nicht fassbar ist. Die Unwirklichkeit und Unbegreifbarkeit des Erlebten spalten die Betroffenen. Desintegration und Schuldgefühle führen zum Rückzug aus der Realität. Sie glauben, dass sie in ihren Körpern Bösartiges verbergen, das nur noch nicht entdeckt wurde.

„Jeder hibakusha braucht eine neue Identität, ein neues Verhältnis von Ich und Gesellschaft“, folgert Lifton deshalb, nur so könne er dem Fluch seines Überlebens entgehen. Die Frage, warum diese Gesellschaft in Hiroshima noch konservativer und restaurativer ausfiel als in anderen japanischen Städten (etwa Kyoto), beantwortet seine Studie nicht.

Punkt zwölf am Mittag schallt über die Lautsprecher von Toyo Kogyo der Firmensong und beschwört den unaufhaltsamen Aufstieg des Wankelmotors, den das Unternehmen in NSU-Lizenz baut. „Wohlstand für Toyo Kogyo. Wenn wir auf unsere Firmenflagge schauen, sind unsere jungen Seelen begeistert. Darum singen wir unseren Siegessong – immerwährender Wohlstand für Toyo Kogyo.“ Der Konzern finanziert das Baseball-Team Toyo Cup und das Symphonieorchester, bestimmt die Programme, die bei Hiroshima Telecasting & Co. gesendet werden, und regiert über seine politischen Verbindungen im Rathaus. Um die hibakushas machte der Wohlstand einen großen Bogen, sie wirkten von Anfang an wie unfreiwillige Spielverderber – je schneller das Bruttosozialprodukt Japans an die Weltspitze raste, desto weniger bekamen sie ab. Große Firmen stellten keine hibakushas ein, oder hibakushas trauten sich nicht mehr, um eine Anstellung nachzufragen, im Bewusstsein, Versager zu sein. Eine Zeitlang hatte Hiroshima die größte Arbeitslosenquote in Japan.

Der Staat überwies seine armseligen Renten erst, als diejenigen, die eine Unterstützung am dringendsten gebraucht hätten, schon an den Strahlenfolgen verstorben waren. Hiroshima hat sein Schicksal zur Industrie gemacht, aber städtische Wohlfahrtsorganisationen zahlen an die Überlebenden fast gar nichts, und nur Ausländer scheinen darüber schockiert zu sein. Mit ihrem Trauma, mit ihren Ängsten und Todesbildern leben die hibakushas seit fünfundzwanzig Jahren allein, isoliert durch eine Erfahrung, mit der sie nicht fertig werden. Lautlos schneiden sie sich die Pulsadern auf, wenn sie es nicht mehr aushalten können, und verschwinden unauffällig aus ihrem strahlenversehrten Leben.

Alles sei sinnlos, verzweifelt die achtundvierzigjährige Kellnerin Tomiko Tokuda, aber am sinnlosesten seien die Unterschriften gewesen, die sie gegeben habe, wenn Studenten, Schüler und Friedensaktivisten zu ihr kamen. „Seit ein paar Jahren unterschreibe ich nichts mehr. Die Jungen wissen zu wenig. Niemand wird die Atombombe je verstehen, der die Atombombe nicht am eigenen Körper erfahren hat.“ Vor fünfundzwanzig Jahren, während sie Frühstücksteller abwusch, sah Tomiko Tokuda einen Blitz und glaubte, jemand blendete sie mit einem Spiegel. Sie verlor das Bewusstsein. Die Häuser um sie herum standen in Flammen, als sie die Augen aufschlug, und sie konnte plötzlich den drei Kilometer entfernten Bahnhof sehen. Eine Woche später fielen erst ihre Zähne aus, danach ihre Haare, und sie bekam Magenbluten. Seither leidet sie unter der typischen „Atommüdigkeit“, dem, was medizinisch „Fehlfunktionen der blutbildenden Organe“ heißt und die meisten Überlebenden betrifft. Manchmal fühlt sie eine totenähnliche Erschöpfung und wünscht sich, nie mehr vom Bett aufstehen zu müssen. Ungeachtet dieser Schwäche unterrichtet sie morgens in einem Nähkurs, wie man Kimonos und japanische Unterkleider schneidert. Nachmittags beginnt ihre Arbeit als Kellnerin in einem Ikoi-Club, wo die Gäste Ikoi, ein chinesisches Steinspiel, spielen und ihr in die Ohren schreien, ein akustisches Vergewaltigungsprogramm. Anschließend schleppt sie sich halb ohnmächtig nach Hause. Keinen einzigen Tag hat sie bislang gefehlt. Ihr Chef habe sofort klargestellt, dass er keine Rücksicht auf ihren hibakusha-Status nehmen könne, und von staatlicher Hilfe will sie nicht abhängig werden.

Am Ende des Friedensparks steht als Wahrzeichen von Hiroshima eine Ruine mit einer Kuppel, von deren Gewölbe nur bizarr verbogene Eisenträger übriggeblieben sind, die von weitem wie geknickte Schilfrohre aussehen. Nur ihre Umrisse lassen noch ein Gründerzeitgebäude erkennen, die ehemalige Industrie- und Handelskammer der Stadt. Um 1900, zur Jahrhundertwende erbaute Jan Letzel, ein Architekt aus Böhmen, das majestätische Haus, das die Bombe nicht völlig zerstören konnte. Die Einheimischen tauften die groteske Ruine Atombombendom. Wenn sie könnte, würde sie ihn mit ihren eigenen Händen abreißen, sagt Tomiko Tokuda und beginnt, kaum hörbar zu weinen. Alles, was sie von sich erzählt, klingt wie ein innerer Dialog zwischen der Person, die sie gern sein möchte (stark, unabhängig), und der, die sie immer noch ist: hibakusha, mit der Unfähigkeit, die Vergangenheit zu akzeptieren und mit der Erinnerung zu leben. Strahlenschäden sind Untergrundwunden in Hiroshima, jeder hält seine geheim.

Über die Missbildungen, nach denen aufdringliche Touristen fragen, weiß kein Hotelportier oder Reiseführer Bescheid. Die betroffenen Familien verbergen ihre Angehörigen. Fünfundvierzig schmalköpfige Kinder leben noch in Hiroshima, und jedes von ihnen wird im nächsten Jahr 25 Jahre alt. Alle Mütter dieser Kinder, die an Mikrozephalie leiden, waren im zweiten oder dritten Monat schwanger, als die Atombombe fiel. Der Friseursalon von Kuniso Hanataka liegt etwas außerhalb von Hiroshima in einem unansehnlichen Fischerort, an dem der neue japanische Wohlstand vorbeiging. Die jungen Fischer, die hier 20 km vom Point Zero entfernt aufwuchsen, haben als Knaben mit Schädeln und Skeletten gespielt - eine riesige Zahl von Toten, die in ihrem Ort an den Strand gespült wurden.

In Kuniso Hanatakas Friseursalon hängen ein Dutzend sadistisch aussehender Scherapparate von der Decke, mit denen er den Fischern und Farmern des Ortes die Hinterköpfe blank schert. Seine schmalköpfige 25 Jahre alte Tochter Yuriko sieht aus wie ein Mädchen von zehn Jahren, mit Zöpfen, die von ihrem winzigen Gesicht wegstehen wie zwei eingerollte Regenschirme. Ihre Intelligenz entspricht der eines zweieinhalbjährigen Kindes. Morgens, vor allen anderen, schleicht sie sich in den Salon ihres Vaters, stürzt sich auf alte Zeitungen, die ihretwegen dort liegen und zerreißt sie zu kleinen Fetzen. Den Tag über wälzt sie die Zeitschriften ihres Vaters, ungefähr fünfundzwanzig dicke Hefte, bis es dunkel wird, zupft und zerreißt Comics und wendet ihr Gesicht ab, wenn ein Fremder den Laden betritt. Seine Tochter, sagt der Friseur entschuldigend, liebe die langen Haare der Beatsänger, und manchmal könne sie die Sänger sogar wiedererkennen auf dem Fernsehschirm. Nur, wenn Yuriko kleine Tiere sieht, verändert sich die Monotonie ihres Blicks zu einem scheuen Strahlen, bei dem ein Seelenleben sichtbar wird. Sie ist verrückt nach Tieren, aber als die Eltern ihr ein Kätzchen schenkten, hat sie es vor Liebe umgebracht, weil sie es zu fest an sich drückte. Yuriko begriff nichts davon, sie weiß nicht, was Tod ist. Wenn die Eltern mit ihr das öffentliche japanische Bad besuchen, weil sie kein eigenes Badezimmer haben, starren Fremde die Tochter an wie ein missgebildetes Junges im Zoo.

Yurikos Mutter, mittlerweile eine kleine gebeugte Frau über fünfzig, die mit einem Mulltuch vorm Gesicht die Kunden bedient, half 1945 bei den Aufräumarbeiten in einem bombenzerstörten Haus, etwa siebenhundertfünfzig Meter vom Explosionszentrum entfernt. Nach einer Woche verlor sie die Haare, erbrach sich, ihr Zahnfleisch hörte nicht mehr auf zu bluten; den Körper mit Furunkeln und Schwellungen überzogen, lag sie lange Wochen im Bett. Yuriko kam im Februar 1946 zur Welt. Damals verboten die amerikanischen Besatzer, das Wort Atombombe zu benutzen. Yuriko lernte nie Laufen. Mit fünf Jahren sprach sie noch nicht, aber zu dieser Zeit hatten ihre Eltern nie genug Geld, einen Arzt aufzusuchen. Endlich fuhren sie mit ihr ins Universitätshospital. Der Arzt nannte ihnen die Diagnose: Mikrozephalie. Da sie keine gebildeten Leute waren, ahnten sie weiterhin keinen Zusammenhang zwischen der Atombombe und dem anormalen Wachstum der Tochter. Wieder vergingen Jahre. Dann fragte ein Dokumentarfilm-Team aus Tokio nach ihrem Kind und wollte Aufnahmen von Yuriko und ihren Eltern machen. Nachdem Kuniso Hatanaka diesen Film gesehen hatte, verstand er endlich, wodurch der Schwachsinn seiner Tochter bedingt war. Zum ersten Mal fand er den Mut, sich gegen das Gemunkel und die Diskriminierung seiner Nachbarn zu wehren. Er gründete die „Gesellschaft für schmalköpfige Kinder“ und gewann achtzehn weitere Elternpaare dazu, sich seinen Forderungen anzuschließen. Die Regierung solle nach dem Tod der Eltern für die Kinder sorgen und sie in einem Heim mit ärztlicher Betreuung und Beschäftigungstherapie unterbringen. Was die Betroffenen verlangen, wäre in einem sozialeren Land als Japan selbstverständlich. Aber bisher kann Kuniso Hatanaka froh sein, dass er seit November 1968 die übliche dürftige Unterstützung für Yuriko erhält. Er versteckt sein einziges Kind nicht. Die anderen Eltern lähmt die Angst, als Aussätzige zu gelten, wenn ein Fall von Mikrozephalie in der Familie bekannt wird.

An jedem sechsten August erleben die Bürger von Hiroshima das gewohnte Ritual. Morgens um acht Trauermarsch von Chopin, Ansprache des Bürgermeisters, die Friedensglocken läuten, und die Sirenen der Schiffe und der Fabriken fallen mit unheimlichem Geheul in das Geläute ein, anschließend fliegen Friedenstauben. Der routinierte Ablauf der Gedenkfeier bezeugt, daß Hiroshimas Geschichte bereits zum klassischen Altertum der Weltuntergänge zählt. Viele hibakushas beschweren sich darüber, dass der japanische Premierminister nie zu ihrer Gedächtnisfeier erschien (nicht ein einziges Mal in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren), und bleiben aus Protest der Veranstaltung fern. „Dieses Jahr wird Premierminister Sato bestimmt Zeit haben“, versichert Bürgermeister Setsuo Yamada der Presse. Aber es klingt wenig überzeugend. Nach dem Abwurf der beiden Atombomben haben die Japaner zum erstenmal die Stimme ihres Kaisers vernommen. Der lebende Gott, der Tenno, Oberbefehlshaber der japanischen Streitkräfte, fand nie den Weg nach Hiroshima. Filmregisseure und Schriftsteller kamen, Politiker nicht. Niemand der Mächtigen ist je hier gewesen. Der japanische Regierungschef kommt nicht mit Rücksicht auf die Außenpolitik gegenüber den Vereinigten Staaten und auf ein Nationalgefühl, das sich nicht mit der atomaren Schande von Hiroshima identifizieren will. Drei ausländische Staatschefs in fünfundzwanzig Jahren: Nehru, ein malaysischer Staatspräsident und der deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann, der von dem amerikanischen Militärflughafen Iwakuni aus in die Stadt fuhr, was ihm die engagierten Studenten verübelten.

Noch Jahre nach dem Fall der Atombombe lebte die Stadt wie in Agonie, verzögerte den Wiederaufbau. Aber ab 1951 boomte die Wirtschaft, ein Aufschwung, den die Einwohner dem amerikanischen Kriegseinsatz in Korea verdankten. Fahrzeughersteller, Werften, ehemalige Rüstungsunternehmen erhielten die ersten Großaufträge. Der neue Krieg Amerikas brachte ihnen den Wohlstand, auch wenn es klingt wie ein Aberwitz der Geschichte. General MacArthur, der Cäsar des pazifischen Kriegs, führte fünf Jahre nach dem Sieg über Japan, die UN-Truppen in Korea gegen die Kommunisten des Nordens an. Zwei Jahre nach seiner Abberufung durch Präsident Truman wurde er wieder aktiv und schlug seinem neugewählten Präsidenten Dwight D. Eisenhower als Mittel zum schnellen militärischen Erfolg in Korea den Einsatz von Atombomben vor.

Im Schatten des Koreakrieges begann in Hiroshima der Bauboom. Vom Beergarden auf den Dächern ihrer Hotels überblicken die Touristen eine gleißende Masse Beton: soweit das Auge reicht, architektonisch anspruchslose Neubauten, die sich im sengenden grellen Licht vor ihnen dehnen. Abseits der großen Boulevards sieht die Stadt so wild gewachsen aus, als habe man um die Grundstücke gepokert. Aber die Hässlichkeit des Wiederaufbaus wirkt erträglich, tut nicht weh wie der Anblick der düsteren Industriebauten Osakas. Die blaugrünen Kuppen der Berge in der Ferne erheben sich wie Plastikhügel, denen man sich nicht nähern kann. Der Zugang zum Meer ist durch Industrieunternehmen versperrt, die ihre Abgaswolken über den Talkessel blasen. Hiroshima kann sich nur durch Aufschüttungen im Meer ausdehnen oder die fernen Berge überspringen. Die Wohnungen oder jene paar Kubikmeter Luft, die man als Wohnung vermietet, sind knapp und überteuert.

Jungverheiratete Frauen kaufen sich im großen Kaufhaus Tenmaya Babypuppen als Ersatz für ein Baby, das sie aus Mangel an Wohnraum nicht bekommen dürfen. Die Babypuppen haben eine seidenweiche Plastikhaut, können schreien, mit den Augen klimpern, und man kann ihnen die Flasche geben, aber am meisten gefragt sind sie wegen ihrer bleichen Gesichter und ihrer blonden toupierten Haarpracht, Kleinkindkopien von amerikanischen Pin-up-Girls. Wunschbilder von Weiblichkeit, die vergessen machen, dass während des Zweiten Weltkriegs selbst die Dauerwelle als amerikanische Erfindung und damit als unjapanisch verpönt war.

Wenn der Reiseleiter Hideo Nishimu mit den amerikanischen Touristen im Sightseeing Bus durch die Stadt fährt, erzählt er lange von der Wohnungsnot und vom Aufbau der Nachkriegsjahre. Erst danach gesteht er ihnen, er selbst sei hibakusha. Mit lakonischer Kürze erwähnt er sein Schicksal: „I just had breakfast and that bomb fell down.“ Der Bus fährt jenen berühmten Hügel hoch, auf dem die amerikanische Atomopferkommission (ABCC) ihren Sitz hat, die seit 1947 die Folgen der radioaktiven Strahlung untersucht. Ein schwarzer, schwerer Wagen, das Blechdach pompös mit Gold lackiert, überholt den Bus und stoppt. Ein Sarg wird ausgeladen und in das Gebäude der Atombombenopferkommission getragen. Für einen Moment unterbricht Nishimu seinen Vortrag. Auch er habe seine Leiche der Atomopferkommission zur Obduktion vermacht, erklärt er den Touristen. „Jedes Mal, wenn ich diesen Wagen den Hügel hinauffahren sehe, denke ich, dass ich es bin, der aufgeschnitten wird.“ Danach rettet er sich in Galgenhumor. Sozusagen als Aufwandsentschädigung für die Autopsie seiner Leiche zahle die Atomopferkommission ein Luxusbegräbnis für ihn. Beim Aussteigen klopfen ihm einige der Amerikaner auf die Schulter, und er versichert ihnen glaubwürdig, dass in Hiroshima absolut kein Hass auf ihre Landsleute besteht.

Die Zielstrebigkeit, mit der man in Hiroshima den Tourismus förderte und zum Industriezweig erhob, wurde schon vor achtzehn Jahren sichtbar, als man gleich neben das Museum ein Hotel baute und gleich vor das Museum einen Parkplatz für mindestens zwanzig Autobusse. Japanische Reisegruppen, ausgerüstet mit Tonbändern und Kameras, die beliebten Stetsonhüte aus Stroh auf dem Kopf, steigen heraus und lassen sich durch das Museum wie durch eine paläontologische Sammlung schleusen. Jede Reisegruppe führt eine Fahne oder einen Wimpel mit, und alle halten sich immer dicht bei ihrem Führer mit seiner Fahne, aus Angst, die eigene Gruppe zu verlieren. Gemeinsam wird fotografiert. Stimmungsaufnahmen von der Atombombenruine im Sonnenglast. Hinter dem Atombombendom, wo das Tourist Department ein Resthouse mit Luxustoiletten und einen Andenkenladen gebaut hat, verkauft eine hibakusha Atombombenkitsch. Bronzeplatten, hölzerne Friedensglocken, Nachbildungen der Atomdom-Ruine in Silber und Gold, Hiroshima-Wimpel. In Kitsch dieser Art mündet im Zeitalter des Massentourismus jede Katastrophe, aber die Souvenirverkäuferin Chiyoka Kato hat ein Souvenir der Atombombe auf ihren Armen, das unvorzeigbar ist. Sie verbirgt ihre Keloide, die dickwulstigen Wucherungen der atomaren Brandnarben, seit fünfundzwanzig Jahren unter Bandagen oder unter den langen Ärmeln ihres Kittels. Einmal, im vorigen Sommer in der Augusthitze, fand sie den Mut, die Bandagen abzunehmen. Die Erwachsenen sahen höflich über ihre entstellten Arme hinweg, nur die neugierigen Fragen der Kinder und die diskreten Erklärungen ihrer Mütter konnte sie nicht ertragen.

Den besten Blick auf die Friedenskulisse von Hiroshima hat man vom zweiten Stock des Atombombenmuseums aus, wo der neue Direktor Ogura in seinem Büro sitzt. Friedlich liegen die Ausflügler, das Gesicht mit einem Comic-Heft bedeckt, auf dem Rasen und schlafen, seitlich von der unvermeidlichen ewigen Flamme. Ebenso friedlich geht es im Peace Culture Center zu, in dessen Fenster man hineinschaut – eine Art Volkshochschule für Friedenserziehung. Seine ganz genaue Aufgabenstellung scheint dieses Institut noch nicht gefunden zu haben. Man sieht die hibakusha Matsubara durch die Gänge huschen, die im Peace Culture Center arbeitet und Zeitungsartikel über Frieden archiviert. Ihre Geschichte gleicht der von vielen ihrer Generation. Die Zwölfjährige ging morgens wie gewohnt zur Schule. Das Bildnis des Kaisers, das im Klassenraum hing, hatten sie bei Luftangriffen mit ihrem Körper schützen sollen. Das hatten sie trainiert und dabei versagt. Zu Beginn des Unterrichts fiel die Bombe, und während ein Drittel ihrer Schulfreundinnen tot im Flusswasser schwamm, befahl der Lehrer den überlebenden Schülerinnen, die Nationalhymne zu singen. Matsubaras Gesicht und ihre Arme und Beine verschwanden durch den Fall-out unter dicken Keloiden. Ein Jahr lang, während sie gelähmt im Bett lag, wagten die Eltern es nicht, ihr einen Spiegel zu geben. Nach all den Operationen und Augenbrauenverpflanzungen sieht Matsubara noch immer wie das einzig wirkliche Kriegsdenkmal aus, das zwischen Tauben und samthäutigen Kleinkindern über den Museumsplatz geht. Von der einnehmenden Sanftheit ihres Mädchengesichts ist nichts übriggeblieben. Sie hebt selten den Blick und bittet die Fremden, nicht mit ihr über die Bombe zu reden.

Das Atomic Bomb Museum – ein abweisender Kasten auf Betonpfählen – erweckt von außen den Eindruck, als sei es nur nach funktionalen Gesichtspunkten gebaut. Innen entdeckt man die Unzulänglichkeit. Nicht einmal an eine Heizung habe der Architekt gedacht, beklagt der neue Direktor Ogura den Pfusch am Bau - das Museum sei das kälteste Gebäude in Hiroshima. Ogura ist neben dem Bürgermeister (einem Oxford-Absolventen) der einzige Offizielle in der Stadt, der fließend Englisch spricht und bei dem sich Ausländer Auskünfte holen können, mit denen etwas anzufangen ist. Er raucht keine Peace, sondern Pfeife (als Präsident des Hiroshima Pfeifenraucherclubs) und stilisiert an sich die unjapanische Seite, die Dinge cool zu betrachten. Auch er räumt ein, dass dieses Museum, das er übernommen hat, weit entfernt davon ist, ein Dokumentationszentrum zu sein. Die Sammlung zielt auf den emotionalen Schock ab, ohne zu informieren. Eine Schaubude atomarer Pop Art. Verformte Flaschen, in denen seit fünfundzwanzig Jahren Sojasoße schimmelt, Nägel und Haarnadeln und Flaschenverschlüsse, zu Eisenkuchen gebacken, zerknüllte Fahrräder, Geldkassetten, aufgebrochene und durch atomic power geschmolzene, ein Gewehr, dessen Abzug im Moment der Bombe abgerissen wurde, Straßenbahnfahrscheine, eine zerronnene Brille, und immer wieder Uhren, schwarz und gesichtslos, deren Zeiger in das Ziffernblatt einbrannten und die Zeit zwischen 8.15 und 8.17 zeigen. Die malträtierten Objekte potenzieren den Mythos der Bombe, verwandeln ihn in die Darstellung einer überdimensionalen Naturkatastrophe. Aus den Schaukästen dringen ausschließlich Beweise von magischen Kräften (wer begreift hier noch, dass es eine Bombe war, die die Stadt zerstörte, und nicht Zauberei?). Der Abscheu gegen Atomwaffen mündet in kindliche Hilflosigkeit, in Ohnmacht wie gegenüber Erdbebenstärke sieben auf der Richterskala.

Nicht nur das Museum sei in schlechter Verfassung, auch das A-Bomb-Hospital sei nicht mehr, was es früher war, meint Ogura mit unüberhörbarem Sarkasmus und nennt es ein Altersheim für hibakushas. Seit 1957 sichert der Staat den Überlebenden die kostenlose medizinische Betreuung zu, wenn die sich in einer Entfernung von bis zu dreitausend Meter vom Explosionszentrum befanden. Nur die ärmsten der hibakushas, denen der gesellschaftliche Stempel, Patient im A-Bomb-Hospital gewesen zu sein, nichts mehr ausmacht, lassen sich dort behandeln. Die Ärzte zucken vielsagend die Achseln bei der Frage, welche der Krankheiten auf die Atombombe zurückzuführen seien. Vor kurzer Zeit ließ sich ein Mann aus Okinawa, der früher in Hiroshima gelebt hatte, im A-Bomb-Hospital von ihnen bescheinigen, dass er nicht strahlenkrank ist. Darin bestand seine letzte Hoffnung, doch noch die Verehelichung seiner Tochter zu erreichen.

Zweimal in der Woche packt die amerikanische Pazifistin Charlotte Susu-Mago ihren Kombiwagen voll und fährt vom World Friendship Center, das sie leitet, zum A-Bomb-Hospital, um die alten hibakushas den Glauben an das wahre Amerika zu lehren, darin eingeschlossen der Standpunkt Gottes und der des amerikanischen Präsidenten. Denn der Krieg in Vietnam und Kambodscha und selbst die Atombombe können nur Missverständnisse gewesen sein, Irrtümer, die mit dem Amerika der Quäker und Pazifisten nichts zu tun haben. Charlotte Susu-Mago transportiert „Die Trapp-Familie“ in japanischer Synchronisation ins Hospital und hat einen Sack schwarzer Korallensteine dabei, aus denen die hibakushas Schmuckstücke machen. Die schönsten Exemplare, eine Brosche und eine Krawattennadel mit einer Perle, sollen Geschenke für Mrs. und Mr. Nixon sein, die ihnen am 6. August dieses Jahres von einer Friedensdelegation ins Weiße Haus gebracht werden sollen, mit der Bitte um Frieden, so wie Charlotte Susu-Mago ihn sieht: „Never again, Mr. President, no more nuclear weapons, please!“

Die hibakushas, denen sie die Korallen auf die Bettdecke legt, sind immer viel zu sehr Opfer gewesen, als dass sie sich gegen Friedensmissionen und Friedensfehden der Pazifisten untereinander hätten zur Wehr setzen können, auch wenn alles, was sich in Hiroshima abspielte, immer in ihrem Namen geschah. Ihr ohnehin geringes politisches Bewusstsein ist nicht von der Atombombe geprägt, sondern von der sozialen Klasse, der sie angehören. Die Arbeiterfrau wählt die kommunistische Partei oder die Sozialisten, die Beamtengattin wählt die konservative Regierungspartei. Die Sorgen der Kranken drehen sich um die Zeit nach ihrer Entlassung. Wohin sollen sie gehen, wenn sie aus dem Hospital fort müssen? Onoyo Yamamoto, eine siebenundsechzigjährige Patientin, weiß nicht wohin. Seit über einem Jahr liegt sie hier, ihre Blutwerte haben sich nur wenig gebessert. Selten bekommt sie Besuch. Die früheren Nachbarn sind Fremde geworden. Ihr Sohn ist nach Osaka gezogen und arbeitet in einem Konstruktionsbüro. Er zahlt ein Studiendarlehen zurück und kann sie nicht unterstützen. Zum Zeitpunkt der Explosion war sie mit ihrem jüngsten Kind auf dem Rücken in eine Bäckerei gegangen, um Kuchen zu kaufen. Danach waren ihr Mann und ihre drei älteren Kinder tot. Was dann folgte, war ein ganz armes Leben voller Tränen. Jetzt fleht sie in den Briefen an ihren Sohn, er solle geheimhalten, dass er das Kind einer hibakusha ist, sonst würde ihn keine Frau in Osaka als Ehemann nehmen. Nachmittags schaltet sie das kleine Sony-TV-Gerät ein, das er ihr geschenkt hat. Sie schaue sich nur Shows und Quizsendungen an, sagt sie und fügt hinzu, „nie mehr will ich etwas Trauriges sehen, wenn ich es nicht muss.“ Dann blickt sie wieder auf das TV-Gerät, über dem eine Blutkonserve hängt, aus der Blut in den zeigestockdünnen Arm ihrer Bettnachbarin tropft.

Der A-Bomb-Slum befindet sich nur einen Steinwurf entfernt von der hinteren Seite des Atombombendoms, aber er liegt so versteckt, dass kaum ein Tourist den Weg hierher findet. Nach dem Krieg lebten ausschließlich hibakushas hier, die sich aus Brettern und Wellblech Holzverschläge bauten. Mittlerweile sind sie in der Minderheit. Männer in weißen langen Unterhosen und gestrickten Bauchwärmern um die Rippen laufen zwischen den Holzhütten umher und klettern gebückt am Hang auf und ab. An der purpurroten Unterwäsche, die einige in Kombination mit grünwollenen Bauchwärmern tragen, kann man die Angehörigen einer Gang erkennen. Ein Mann sammelt Flaschen vom Boden auf. Er lebt schon lange hier und sagt, dass er hibakusha sei: 1.500 Meter vom Explosionszentrum entfernt (jeder hibakusha weiß sofort seine Meterzahl). Die Druckwelle der Explosion schleuderte ihn vom Fahrrad in einen Lotosblumenteich hinein. Seine Hände verbrannten, eine Stunde später, als ein schwarzer teerartiger Regen über die Kraterlöcher der Stadt fiel, spürte er immer noch nichts. Der Schock hatte über den Schmerz gesiegt.

Er deutet auf eine schiefe Hütte, in der die Tür in den Angeln quietscht, sein wackeliges Zuhause. „Denken Sie nicht an die Zukunft?“ – „Was soll noch kommen? Ein neuer Krieg? Für mich gibt es nichts Schreckliches mehr. Früher trank ich gerne Bier, aber damit ist es vorbei, jetzt will ich nur noch jeden Abend Sake trinken und dann hierher zurück.“

Die nächste hibakusha wohnt ein paar hundert Meter tiefer am Hang zum Fluss hin. Ihre Hütte steht offen. Die fünfundvierzigjährige sieht aus wie ihre eigene Ahnfrau, zusammengeschrumpft auf Kindergröße; der Mund bildet beim Sprechen ein kleines zitterndes Loch: im Oberkiefer fehlen die Zähne. Ein Kühlschrank füllt die Hütte fast gänzlich aus, neben dem ihre winzige Figur in die Hocke geht und auf eine Matratze sinkt. Vor zwei Jahren schenkte ihr die Stadtverwaltung das Bett als Starthilfe für das neue Leben außerhalb des Krankenhauses. An der Wand klebt ein kleiner Altar mit einer Ananasfrucht und einem Blumenstrauß als Opfergaben. Die Frau will ihren Namen nicht nennen, nur von ihrem Schicksal erzählen, einem beispiellosen Albtraum. Bei Kriegsende arbeitete sie als Aufseherin in einem Jungeninternat. Als die Bombe fiel, war sie auf der Straße, 1.300 Meter vom Explosionszentrum entfernt, in der Höhe des Kaufhauses Fuyuka. Das Licht verbrannte ihren Bauch und ihre Beine, den Kopf hatte sie abgewandt. Sechsmal wurde sie operiert, ein Drittel ihres Magens schnitten die Ärzte heraus und entfernten die Eierstöcke, der schwierigste Eingriff war der an den Lymphdrüsen. Acht Jahre verbrachte sie im Krankenhaus, danach wurde sie pausenlos entlassen und wieder eingeliefert. Ihr Bruder, Abteilungsleiter in einer kleinen Firma, bezahlte den Krankenhausaufenthalt, bis die Behandlung kostenfrei wurde. Die Hütte im Slum, in dem sie den Wasserhahn mit sechzehn anderen Familien teilt, ist ihre erste eigene Wohnung, sie zahlt eine geringe Miete. Heimlich geht sie jeden Tag eine Stunde zum Putzen in eine Kosmetikfirma. Käme es heraus, wäre sie die staatliche Unterstützung wieder los, die sie seit vier Jahren erhält.

Lange Zeit spielte sie mit dem Gedanken, sich umzubringen, mehr als einmal plante sie, in den Fluss zu springen. Sie beschreibt ihre Sehnsucht nach einem erlösenden Tod. Vier Selbstmordversuche im Krankenhaus schlugen fehl, weil sie wegen der vielen Kontrollen nie die erforderliche Menge von Schlaftabletten ansammeln konnte. Jetzt fühle sie sich wieder besser. Mit offenkundigem Stolz auf ihren Eisschrank bietet sie eine Coca-Cola an. Eine Nachbarin schaut herein und erkundigt sich nach ihrem Befinden. Im Slum gibt es so etwas wie Nestwärme und Solidarität, alle sind freundlich zu ihr. Wenn der Fernseher nicht läuft – meistens ist er kaputt ‑, schaut sie auf den Fluss, der direkt unter ihrem Fenster fließt. Bei Ebbe ist davon nur eine graubraune Schlammbank zu sehen, über der im Abendlicht die Insekten tanzen. Sie liebt den Ausblick von hier, Müll, Schlamm und Seevögel, das sei wie Kino für sie. Auch ihre Leiche bekommt die Atomopferkommission. Von der zukünftigen Obduktion spricht sie wie von der Abschlusskrönung ihres verfehlten Lebens. Nach einer Operation sei ihr Blut nicht zu stillen gewesen. „Damals wussten die Ärzte nicht, wie sie mich behandeln sollten, vielleicht finden sie es heraus, wenn ich gestorben bin.“ Mit einer Taschenlampe zeigt sie den Weg hinaus, vom Slum am Abhang hinauf auf die Straße.

Abends verwandelt sich Hiroshima in Las Vegas. Es verschönt sich, die grauen anämischen Fassaden der neu errichteten Gebäude versinken unter blutroten und violetten Neonhymnen für TV-Sets, Cracker und Kaugummi. Ab sechs wird Hiroshima ehrlicher, der Friede weicht dem Sex, die kontrollierte Höflichkeit der Büroangestellten wird zum wilden Angerempel, eine Welle der Enthemmung geht durch die Stadt. Gegen sieben Uhr sind die meisten Männer in der Geschäftspassage neben dem Kaufhaus Tenmaja bereits betrunken und torkeln dem nächsten Etablissement entgegen. Hierhin zieht es auch die GIs, die von ihrem Stützpunkt Iwakuni aus täglich in den Amüsierdistrikt fahren.

Geschäftsleute aus Tokio schwärmen, dass Hiroshima von allen Städten in der Provinz das phantastischste und aparteste Nachtleben hat – eine Auswahl von 5.000 Bars, Clubs, Spielsalons und Sex-Shops. Allein das größte Kabarett Hongkong – die Number One Geisha aus Tokio tritt gerade auf – bringt es auf vierhundert Hostessen. In diesem Viertel regierten nach dem Krieg die Gangs, viele der Mitglieder waren Atomwaisen. Durch Messerstechereien und Schießereien sicherten sie sich die Vorherrschaft und erpressten monatliche Schutzgelder von den verängstigten Barbesitzern und Geschäftsleuten. Nach einer großen Pressekampagne vor vier Jahren, schienen die beiden großen Gangs fast zerschlagen, aber vor ein paar Wochen gab es aufs neue einen Toten. Das kriminelle Milieu spürt wieder Aufwind.

Die dreistündige Sightseeing-Tour, die vor dem Atombombenmuseum am Friedenspark startet, endet am Abend mit dem Besuch im Kabarett Honolulu; im Anschluss daran werden die Touristen in einige Nachtbars geführt. Den Unterhaltungswert einer japanischen Stadt kann man an der Zahl der Pachinko-Parlors ablesen, und Hiroshima kann jeden Vergleich aushalten. Pachinko ist der Abendsport der Gehaltsempfänger. Tagsüber dienen sie in feudalistischem Gehorsam ihren Firmen, Toyo Kogyo und Mitsubishi, abends stehen sie zu Hunderten nebeneinander im Pachinko-Parlor, jagen kleine silbrige Kugeln durch die Spielautomaten und konzentrieren sich darauf, dass der Apparat irgendwann ein paar Silberkugeln wieder ausschüttet, die sie gegen Zigaretten und Kaugummi eintauschen können. Pachinko besteht aus einer ununterbrochenen Daumenbewegung, Tipp, Tipp, Tipp auf den Spielhebel! Aber Pachinko ist auch Therapie – die unterdrückte Aggression des japanischen Alltags, in dem sich die Konflikte nirgends offen ausleben können, wird durch Pachinko befreit und in Friedfertigkeit verwandelt. Noch besser dafür geeignet sind die Spielautomaten, die Explosionen simulieren. Man versenkt Kriegsschiffe, schießt Flugzeuge oder Panzer ab und genießt ein herrliches Gefühl der Entspannung. Ein junger Ingenieur steht wie angewurzelt an einem der Automaten. Tagsüber arbeitet er in der Entwicklungsabteilung von Toyo Kogyo an neuen Automodellen und kommt jeden Abend auf über hundert Explosionen. Unermüdlich spielt er „How I won the War“ ganz allein gegen ganz Hiroshima.

Sex ist Gewalt, Liebe ist Folter, auf allen Leinwänden der Stadt wird gebissen, geschlagen, geköpft; grausam lächeln die Geishas, wenn das Haupt des Geliebten wie ein blutiger Fußball über die Tatamimatte rollt. Überall flimmern die Streifen mit den sadomasochistischen Ritualen, entfaltet sich das Panorama pornografischer Szenen aus der Feudalzeit, und die Fratzen der Samurais verzerren sich wie zum Beweis, dass der Film „Hiroshima mon amour eine einzige Lüge war. Nur in den Diskotheken bietet sich ein Anblick von hilfloser Schüchternheit. Isoliert, mit einstudierten Bewegungen, tanzen die Teenager um glitzernde Spiegelsäulen herum, jeder für sich allein. Versunken in den eigenen Anblick schauen sie ihrem Spiegelbild zu, um die Technik zu verbessern, mit der sie sich verbissen den fremden Rhythmus antrainieren, um sich keine Blöße zu geben.

Junge Männer drängen gemeinsam vor die Spiegel, weil sie sich nicht allein auf die Tanzfläche wagen. Zu ihren dunklen Anzügen tragen sie weiße Hemden, silbergraue Krawatten, Krawattennadeln mit Perlen, Uniformen, in denen jeder Schritt verunglückt aussieht. Die meisten der Jugendlichen in der Diskothek Caravan schieben die Atombombe so weit von sich weg, als sei sie in Dallas, Texas oder Montevideo gefallen. Hiroshima ist für sie ein normaler Wohnort mit Coffeeshops, Kinos, Bowling Centers, Diskotheken, der Ort, an dem ihr Elternhaus steht und ihre Zukunft sich abspielen wird. Ein Student nennt zwar einen Gedichtband über die Atombombe, fügt aber ehrlich hinzu, er habe ihn nicht gelesen. „Steht im Lexikon“, sagt ein dicker Automechaniker im Hiroden Bowling Center, „hier trainieren wir für die Bowling-Championship.“ Sein gesamtes Erspartes hat er in einen kleinen Rennwagen investiert und ist Mitglied in einem Rennclub. Politik – kein Interesse! „Meine Mama ist hibakusha – aber sie hatte damals nur Nasenbluten, soviel ich weiß.“

 „Ich habe den Sinn des Lebens noch nicht gefunden, aber dazu braucht man nichts über die Atombombe zu wissen“, antwortet eine Schülerin. Verlegen lehnt sie an der Bar und zupft am Saum ihres Minirocks, als ließe er sich verlängern. In ihrer Freizeit spielt sie Beethoven-Sonaten, im Atomic-Bomb-Museum ist sie noch nie gewesen. Ihre Eltern seien erst nach dem Krieg zugezogen, entschuldigt sie ihre Unwissenheit.

Es ist nicht nur Ignoranz, wenn die jungen Angestellten und die Oberschüler in Hiroshima so wenig über die Geschichte ihrer Heimatstadt wissen. Das japanische Erziehungsministerium kämpft gegen den Unterricht über die Atombombe in den Schulen, als gelte es, die Verbreitung eines Staatsgeheimnisses zu verhüten. Vergeblich protestieren die Lehrergewerkschaften gegen die Textbücher für den Geschichtsunterricht. „Am 6. August warf Amerika eine Atombombe auf Hiroshima, und zwei Tage später entschloss sich Russland, gegen Japan zu kämpfen. Und am nächsten Tag wurde die zweite Atombombe auf Nagasaki geworfen. Danach verlor die Regierung die Kraft weiter zu kämpfen.“ (Seite 301, Edition Jan. 25, 1970 von Nippon Shoseki Co. Ltd., Geschichtsbuch für 15- bis 16-jährige Oberschüler in Hiroshima) Es könne nur noch eine Frage der Zeit sein, bis in den japanischen Schulbüchern überhaupt keine Atombomben mehr fielen, spottet ein junger amerikanischer Englischlehrer. Im Unterrichtsmaterial findet sich kein Wort über die Zerstörungskraft der Atombombe, über Strahlungsschäden und genetische Veränderungen. Die Regierung spielt die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zur bedeutungslosen Episode des Zweiten Weltkriegs herunter. Der wichtigste Dokumentarfilm über Hiroshima, direkt nach dem Krieg von Japanern gedreht und von der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, fiel 1967 an die japanische Regierung zurück. Nach seiner Rückgabe ließ das Erziehungsministerium große Teile des Filmes schneiden (Begründung: sie seien zu grausam), ehe die Öffentlichkeit den Film sehen durfte.

Der Zukunftsforscher Hermann Kahn, ein schwergewichtiger amerikanischer Riese, beeindruckt die Welt ständig mit neuen Prophezeiungen, so rechnet er Japan zu den kommenden Atommächten. Schon bald sei das Land in der Lage, tausend kleine Atombomben pro Jahr zu bauen. Dieser Verdacht ist nicht neu. Viele Asiaten sehen bereits den Atomteufel hinter der Maske des japanischen Pazifismus tanzen. Auf die linksgerichteten Gruppen unter Hiroshimas Studenten wirken die Megatoten-Denkspiele Kahns wie Dynamit. Sie verstehen sich als Gegengesellschaft zum Japan der Nationalisten, als Sprengsatz ihrer friedensliebenden Nation. Die Universität von Hiroshima, gerade wieder geöffnet, schwimmt noch in Farbe, überall züngelndes Rot – in den Campus hat ein Dämon der Verwüstung seine Schneisen geschlagen. Das zertrümmerte Mobiliar der besetzten Institute wird gerade instand gesetzt. Großspurig rühmen die Schriftzeichen an der Wand den Widerstand gegen das imperialistische System. Die Schlacht mit der Polizei im vergangenen Jahr konnte sich an Tränengas- und Molotowcocktailverbrauch mit Tokios härtesten Zengakuren-Zeiten messen. Polizisten, zusammengezogen aus ganz Westjapan, rückten bei Sonnenaufgang in die Universität ein, um zu räumen. Achthundert Molotowcocktails flogen ihnen entgegen. Vierzig Studenten wurden verhaftet – ihre Anführer sitzen in Haft. Der Campus folgt seinen eigenen Gesetzen; er ist der Ort, an dem die Kernwaffengegner mit Gewalt gegen die Fundamente des offiziellen japanischen Pazifismus wüten.

Vor dem Institut für Physik wartet Professor Sakuma, ein weißhaariger, zurückhaltend lächelnder Naturwissenschaftler, in dem man keinen politischen Agitator vermutet. „Wir können noch immer ein paar hunderttausend Menschen auf die Straße bringen. Wir werden alles mobilisieren, was marschieren kann, um gegen die Verlängerung des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrags zu protestieren“, sagt er unpersönlich und deutet auf die mit Farbe bemalten Gebäude. In der Nachkriegszeit wurde Sakuma zu einem wichtigen Führer der Anti-Atomwaffen-Bewegung Japans. Seine Erfahrungen mit atomarer Strahlung stammten schließlich aus erster Hand, spottet er, während wir sein Büro betreten. Er sei hibakusha und habe die üblichen Symptome, Zahnfleischbluten und Magenbluten, am eigenen Leib erfahren. Heute leide er nur noch an der „Atomlethargie“, einer leichten Anämie. „Wir dachten damals alle, Hiroshima würde für fünfundsiebzig Jahre unbewohnbar wie ein Mondkrater sein.“ Als Physiker seien ihm Informationen über die Entwicklung einer atomaren Waffe schon während des Krieges zugespielt worden. Aber mit dem Einsatz von „Little Boy“, wie die amerikanischen Militärs die Bombe von Hiroshima in zärtlicher Nachsicht tauften, habe er nicht gerechnet.

Schon Anfang der sechziger Jahre spaltete sich die Bewegung der Kernwaffengegner. Seither bekämpfen sie sich, zerfallen in Maoisten, Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten. Professor Sakuma vertritt die einflussreiche Gruppe Gensuikin. Sie verdammte die ersten rotchinesischen Atombombentests nicht, sondern reagierte mit Glückwunschtelegrammen an die chinesische Regierung. Zweimal sei er auf Einladung nach Peking gefahren, sagt Sukuma. „Damals war noch keine Rede von Atomtests, aber ich hörte dauernd Witze, dass Physiker in Rotchina besser bezahlt würden als Chairman Mao.“

Den maoistischen Standpunkt teilt er mit vielen anderen japanischen Physikern. Die Volksrepublik China werde in Asien nie Atomwaffen einsetzen, behauptet Professor Sakuma in seinen Vorträgen vor den Studenten, die Gefahr liege im Verhalten der Amerikaner, die schon mehrere Male in Versuchung gewesen seien, es zu tun, zur Verteidigung von Taipeh und von Südvietnam. Vor diesem Hintergrund gibt er Mao vorbehaltlos ideologischen Kredit. Leidenschaftlich polemisiert Sakuma gegen die Amerikaner, die nukleare Sprengköpfe wie Golfbälle oder Kaugummi produzierten und sich als atomarer Superman aufspielten.

Für den radikalen Flügel der Studenten ist Professor Sakuma nur ein akademisches Denkmal, das zum politischen Establishment zählt. Keine zahmen Demos, sondern Kampf, Kampf, Kampf fordern Hiroshimas zengakuren, die sich mit gensuikin, dem linken Establishment, ebenso schlagen wie mit der Polizei. Im Hauptquartier der Chukaku – zu ihnen gehören etwa zweitausend Studenten in Hiroshima – will man zurück auf die Barrikaden. In ihrem Studentenheim, nicht weit entfernt vom Institut für Physik, setzen die Anführer nicht mehr auf ihre geliebten Molotowcocktails, sondern gleich auf stärkere Waffen. Schon beim Eingang stolpert man über ihre weißen Helme: Kampf dem Imperialismus, Kampf dem Stalinismus, dick auf jede Helmseite gemalt. Sumio Kawashima, ein zwanzigjähriger Biologiestudent mit einem sensiblen, fast bartlosen Knabengesicht, verbrachte ein Jahr im Gefängnis und fühlt sich als einsamer Samurai, der gegen das Zeitalter des Kapitalismus kämpft. Auf seinem Bett im Studentenheim spielt er mit einem Kätzchen und droht ungnädig mit neuer Gewalt.

 Seine Bewegung Chukaku, sagt er, sei ideologisch gegen alle, gegen Mao, gegen Fidel Castro, gegen Breschnew und Konsorten, aber auch gegen westliche Denker wie Marcuse. „Unsere Waffen sind unsere Gedanken – und wir werden sie verteidigen mit unserem Leben“, äußert er pathetisch. Er stamme nicht aus Hiroshima, aber nach der Einschreibung an der Universität habe ihn sein erster Gang zum Atomic Bomb Museum geführt. „Ich habe die Ausstellung nicht zu Ende sehen können, irgend etwas in mir hat sich gewunden vor Schmerzen, und ich bin nie wieder hingegangen.“

Im vorigen August hätten sie während der Gedenkveranstaltung ihre Flugblätter verteilt, seien aber von den Kommunisten und Sozialisten weggeprügelt worden. „Die glauben immer noch, dass sie das Monopol auf den 6. August und den Kampf gegen die Atombombe haben. In diesem Sommer werden wir eine eigene Versammlung abhalten, und, wenn die Polizei sie verbietet, dann“ – er zuckt die Schultern -, „können wir für nichts mehr garantieren. Wir werden uns Gewehre beschaffen, wenn es sein muss, und wir sind dreimal so mutig wie die Polizei.“

Reines Wunschdenken und Angeberei sei das, sagen gemäßigtere Studenten, denn dieser 6. August werde genauso verlaufen wie eh und je, nachmittags ein paar Demonstrationen, die üblichen Friedensrallyes… Eine Veränderung dürfte in diesem Jubiläumsjahr unübersehbar sein. Viele der ausländischen Pazifisten haben die Stadt in den letzten Monaten verlassen, von den Behörden mit sanftem Nachdruck vertrieben. Müde und aufgezehrt von internen Konflikten schieden sie im Groll, manche nach einem Aufenthalt von Jahrzehnten, willkommen waren sie in Hiroshima nie.

 Mit dem Weggang von Earle Reynolds, einem amerikanischen Anthropologen, der über zwanzig Jahre von Hiroshima aus Friedenskampagnen organisierte, ging eine Epoche zu Ende. Die Stadträte entzogen ihm das Visum, nachdem er vergeblich um die Gründung eines wissenschaftlichen Instituts für Friedensforschung gerungen hatte. Ihn, der sein halbes Leben in Japan verbracht hatte, erklärten sie zum unerwünschten Ausländer. Mit seinem selbstgebauten Schiff „Phoenix of Hiroshima“ hatte er Tonnen von Medikamenten nach Nordvietnam gebracht und danach versucht, nach China einzureisen, auch dort wollte er gegen Atomwaffen demonstrieren.

 Drei Ministerien in Tokyo schalteten sich ein, als Chris Cowley eine Arbeitsgenehmigung beantragte. Der Schule, die ihn als Englischlehrer anstellen wollte, legten die Behörden nahe, auf den politisch unerwünschten Mitarbeiter zu verzichten. Cowley, ein kleiner verwachsener Engländer, mit einem Gang wie Donald Duck und einem Kopf wie der junge Bertrand Russell, hat resigniert. Seine Mundwinkel zucken, während er erklärt, dass er seine Mission als hauptberuflicher Friedensagitator hinter sich lässt und in seine Heimat zurückkehrt. „Dies hier ist kein gewöhnlicher Ort“, sagt Chris Cowley, und aus seiner Stimme spricht die lang zurückgehaltene Wut. Dann wird er deutlicher, vielleicht rutscht es ihm auch nur heraus: „Dies ist der aussichtsloseste Ort der Welt, um gegen den Weltuntergang zu kämpfen.“ Sollte es diese Botschaft sein, die er seinen Weggefährten am letzten Abend in der Stadt anvertraut? Während sie auf die Nordseite des Friedensparks zum Fluß gehen, wo ein Bootsverleiher seine rotweißgestrichenen Boote vermietet und alles idyllisch aussieht, zerpflückt Cowleys Blick die Pracht der künstlichen Kirschblüten, die in den Bäumen hängt, ehe er sich davon abwendet . Vielleicht quält ihn auch nur die traurige Einsicht, dass sich das atomare Trauma von Hiroshima nicht konservieren lässt.