Vietnam überleben: Sagt Charlie, wir gehen nach Hause!

Reportage
erschienen im September 1970 in TWEN

„Wir sollten Nordvietnam den Krieg
erklären. Dann könnten wir bis
Mittag das ganze Land einebnen
und wären zum Abendessen
wieder zuhause.“
Ronald Reagan, 1965

So wie sie dasitzen auf dem Flughafen von Saigon, die Kameras umgehängt, und auf ihr Flugzeug warten, im Vulkanfiber-Koffer eine sowjetische 9 mm-Pistole oder eine vietnamesische Bartzupf-Pinzette, die sie einem toten Vietkong abgenommen haben als Souvenir – so wie sie sich geben und reden, weiß man, daß ihnen nichts mehr dazwischen kommen kann. Nichts steht ihrer Rückgliederung in Amerikas schwei­gende Mehrheit im Wege.

Triumphierend lassen sie die südvietnamesischen Soldaten wissen: „Sagt Charlie, wir gehen nach Hause!“ - Dabei schnippen sie mit dem Zeige- und Mittelfinger jenen Gruß, den die weißen GI‘s als Kontrast-Ritual zum Black-Power-Gruß der schwarzen GI‘s erfunden haben, und dieses fast obszön aussehende Finger­schnippen bedeutet peace, peace, peace, Frieden, Frieden, Frieden und diese Halskettchen, die sie tragen mit dem symbolischen Anhänger, bedeuten peace, aber was bedeutet es alles zusammen? Daß der Krieg weitergehen wird für noch mehr Jahre, in Kambod­scha, Laos, Vietnam?

Sie knipsen die letzten Fotos, um den letzten Farbfilm zu verbrauchen: die letzte Vietnamesin im hochgeschlossenen purpurfarbenen Ao Dai und das allerletzte Foto vom „Penta­gon East“, dem amerikanischen Oberkommando in Vietnam, am Flugplatz von Saigon. Sie geben die letzten Piaster an pappa-san, den Ober, der die Coke bringt, und danach wollen sie nichts anderes als die Namen all dieser vietnamesischen Dörfer vergessen, in die sie den Krieg hineingetragen haben. Diese Namen mit den fremden Betonungszeichen auf den Vokalen haben sie sich nie richtig einprägen können, geschweige denn aussprechen, geschweige denn schreiben.

Und so wie sie Abschied nehmen, sieht es aus wie ein Schmollen, denn diese da, zu deren Schutz sie kämpften (so that they too can enjoy democracy), sind den Einsatz nicht wert gewesen. Wenn sie sehen, wie südvietname­sische Studenten, dunkelbebrillt, auf Motorrädern à la Easy Rider, zu Anti-Amerika-Demonstrationen fahren und amerikanische Jeeps anzünden, verstehen sie die Welt nicht mehr. Auf einmal kann ihnen die „Vietnamisierung“, die „Entamerikanisierung“ des Krieges, nicht schnell genug gehen. Ihr Präsident hat es ihnen versprochen: einhundertfünfzigtausend Mann kehren bis zum nächsten Frühjahr zurück.

Ich saß auf der Terrasse des Hotels Palace Continental (nach all den Jahren immer noch der sicherste Platz in ganz Vietnam, der Krieg kam hier immer nur bis an die Treppen­stufen). Die Attentatssirene übertönte mit ihrem hohen jaulenden Ton den Verkehrslärm. Irgendwo in der Nähe, im Chaos aus zehntausend japanischen Honda-Motorrädern und klapprigen blauen Renault-Taxis, war eine Bombe explodiert. Vielleicht zwei oder drei Tote, ein paar Verletzte, Vorfälle, die nur noch am Rande des Bewußtseins notiert werden. Ein kleiner Junge in zerfetzten schmutzigen Shorts verkaufte auf dem Trottoir Blütenkränze an die vorübergehenden GIs. Einmal drehte er sich zur Hotelterrasse um und zeigte sein entstelltes Gesicht: Napalm. Nur wenn aus der verbrannten Haut plötzlich zwei Zahnreihen aufblitzten, merkte man, daß er sich über die paar Piaster freute, die ihm die Soldaten zuwarfen. Auf den Tischen der Terrasse lagen die Gi-Zeitungen Stars and Stripes und Overseas weakly. Die Schlagzeilen der Blätter variierten unangenehme Fragen.„Warum schießen unsere buddies plötzlich aufeinander?“ - „Können unsere buddies nicht mehr ohne Drogen kämpfen?“ Im Hintergrund die buddhistisch gelassenen Gesichter der alten Kellner, über Krieg und Frieden erhabene Ausdruckslosigkeit. Am Nebentisch der junge Harvard-Professor, gerade aus Hanoi zurück, wo er auf Einladung der nordvietnamesischen Regierung Mikrobiologie gelehrt hatte. Mit ihm zusammen waren fünfundzwanzig amerikanische Kriegsgegner und Universitätslehrer aus Protest gegen die Politik ihres Landes nach Hanoi gereist. Der junge Dozent trug Hippie-Sandalen an den bloßen Füßen und eine respektable Identitätskrise in der Miene. Seine Ansprache drückte Abscheu und Verachtung für den CocaCola-Imperialismus seines Landes aus: Hanoi stehe vor dem Sieg, Ame­rika vor einem weiteren Rechtsrutsch. Die Kriegsgegner um ihn herum klatschten.

Zwei Tische weiter, in Stiefeln und Uniform, setzten ein paar GI‘s ein Schreiben an Nixon auf:

To the honorable Richard M. Nixon, our President – Sir, als Männer, die in Vietnam kämpfen, möchten wir Sie wissen lassen, wie wir über die Zustände und den Aufruhr auf dem Campus denken.Wir, amerikanische Bürger, wurden erzogen, für die Stars and Stripes zu leben, und es bricht uns das Herz (it’s a heart-breaking thing), wenn sie zu Hause Old Glory (gemeint: die amerikanische Fahne) verbrennen, wie können wir dann noch in einem fremden Land kämpfen…

Ein junger Mann mit Rekruten-Haarschnitt fragte höflich, ob er für einen Moment am Tisch der ausländischen Korrespondenten Platz nehmen dürfe. Er müsse mit ihnen reden. Er kam von den 5th Marines, den Ledernacken-Einheiten südlich von Da Nang, aus einer der bösesten Boobie-trap-Gegenden. („Boobie trap“ - so nennen sie die Minen, die der Vietcong in Straßen und Reisfeldern verbuddelt.) Ein Jahr lang habe er dort Tag für Tag erlebt, wie seine Kameraden auf Patrouillen in Stücke gerissen wurden, wie ihre Beine und Arme zerfetzt wurden, aber nie, nie habe er einen Vietcong gesehen. „Bei den letzten Patrouillen haben wir uns hinter den nächsten Hügel gerollt und für den Rest der Nacht nicht mehr gerührt.“ Auch of­fene Rebellion gegen die Offiziere habe es gegeben: „Sie schicken uns da raus and they don’t give a damn.

Seit zwei Tagen war er wieder Zivilist, wieder ein Mensch. Um seinen stämmigen ausrasierten Nacken baumelte ein goldenes Kettchen mit einem Kreuz. Zwanzig Jahre alt, groß, braungebrannt, mit dem Trauma all dieser Patrouillengänge im Kopf, strebte er zum College zurück, sehnte sich nach der Normalität eines Studentendaseins, Berufsziel: Flugzeugingenieur. Ein paar der Korrespondenten hörten ihm schweigend zu. Auf eine Diskus­sion über die Moral dieses Krieges läßt sich niemand mehr ein. Der entlassene Ledernacken schrieb ein paar Zeilen auf eine Serviette und reichte sie mir:„We are the unwilling, led by the unqualified, doing the unneccessary for the ungrateful.“  (Wir sind die Unwilligen, geführt von den Unqualifizierten, die das Unnötige tun für die Undankbaren.)

Die amerika­nischen Journalisten auf der Terrasse des Palace Continental haben sich mit der Sinnlosigkeit ihres Tuns längst arrangiert. Von ihren Vorgängern im Indochinakrieg haben sie sich die französische Lebensart angewöhnt und trinken Pernod statt Martini dry. Alle zeigten sich unaus­sprechlich gelangweilt von dem langweiligsten aller Kriege, von dem Krieg, den sie im Bewußtsein der Welt so groß gemacht haben, daß er mittlerweile symbolischen, ja Ersatzcharakter hat. Vietnam ist der Krieg, der stattfindet anstelle aller größe­ren Kriege; der auserwählte Krieg einer auserwählten Nation, und die Berichterstattung per Helikopter und Fernschreiber floriert. Wer weiß schon, wer wen im Tschad massakriert? Wo liegt Mozambique - hat irgendjemand eine Ahnung von Eritrea?

Müde und zermürbt hockten sie auf der Terrasse des Palace Continental, ein Bild der unverschämtesten Pressefreiheit der Welt, das aus ebenso vielen Ansichten über den Krieg besteht wie aus Korrespondenten, die ohne diesen Krieg, ihren Mikrokos­mos, nicht mehr leben können. Keiner ereiferte sich noch über den Krieg, analysierte seine Ursachen, Aussichten, Hintergründe. Schon die Erwähnung der Dominotheorie brachte sie zum Gähnen. Sie träumten von ihren Ferien. Im August und September wird Vietnam von der halben Mannschaft „gecovert“. Nach Bali fuhr der Reporter der Washington Post, der neue Chef von News­week nach Europa, auf eine griechische Insel.

Manche schwingen sich noch dazu auf, an kleineren Militäreinsätzen teilzunehmen, sofern sie nicht länger als einen Tag dazu brauchen. Morgens nach dem Frühstück - croissants au beurre und café au lait - mit dem Helikopter, dem Chopper, raus ins Feld, abends rechtzeitig zurück, um in den erstklassi­gen französischen Restaurants eine Languste vom Grill, Spinat à la crème oder Coq au vin zu essen und über die Weinkarte zu klagen, die nur (nur!) einen vorzüglichen Medoc enthält, dagegen der Rosé: „Nicht zu trinken!“

Zwischen Frühstück und Dinner eingeschoben der Krieg: „Wenn es irgend etwas gibt, dann ist es das, was dich korrumpiert“, bemerkte der Bürochef von Time Magazine in das Schweigen der Runde. „Du liegst im Gras, um dich herum ein wunderbar sonniger Hochlandtag, und du hörst die Vögel zwitschern, und vorne, hundert oder zweihundert Meter vor dir, wird gekillt, da schneiden sie den toten Vietcong die Ohren ab, und abends ißt du wieder Chateaubriand grillé vom Wasserbüffel.“ Niemand antwortete ihm.

Nur Neuankömmlinge versuchen noch, Lorbeeren zu erringen, ein Stückchen vom blutigen Glamour des Krieges auf sich zu ziehen. Bob Whiteaker, ein englischer Fotograf, fragte, ob ich mit ihm zusammen zu den Ledernacken fliegen wolle. „Leckere story“, sagte er. „3rd Batallion. I. Marines, nördlich von Da Nang. Die machen jetzt ihre letzte große Operation, choppen für fünf Tage mit vierhundert Mann ins Elephant Valley. Das haben sie seit März neunundsechzig nicht mehr getan. Und ihr Kommandeur hat ihnen versprochen, daß es .ihr letztes großes Ding in Vietnam sein wird. Die Ledernacken sollen als erste nach Hause, und wenn nicht, dann werden sie trouble machen.“

Bob wollte nicht auf mich warten. Erst drei Tage später (man hielt mich für einen weiblichen Hippie) war ich nach den Anforderungen der Army zufriedenstellend identifiziert und akkreditiert und erhielt meinen Presseausweis vom Presseoffizier ausgehändigt. In der Zwischenzeit war Bob schon nach Kambodscha geflogen. Während er auf einem Panzer fotografierte, erwischte ihn eine Granate. Brust und Einge­weide voll Splitter, lag er im Militärhospital Long Blinh, eine halbe Autostunde von Saigon entfernt. Zwei Wochen zuvor hatte der berühmte Bob noch in swinging London die Beatles porträtiert. Ich flog allein nach Da Nang.

Es war der vorletzte Tag der Militäroperation im Elephant Valley. Im Büro von Captain Novak, dem Public Affairs Offizier der I. Marines, studierte ich die Landkarte und las die patriotischen Sprüche an der Wand, während man längere Zeit in der Kleiderkammer passende Stiefel für mich suchte. Major Lefevre vom III. Battalion, zu dem wir anschließend fuhren, machte mir ungerührt diversifizierte Angebote, als deutsche Journalistin in Amerikas Krieg zu ster­ben. Die Lz (Landezone) im Elephant Valley sei zu unsicher für eine Heli­kopterlandung, aber wenn ich wolle, könne man mich am Seil herunterlassen, selbstverständlich unter Feuerschutz, mit Captain Novak an meiner Seite. Die tausend oder fünfzehn­hundert Meter zu seinen Leuten müßten wir dann allein zurücklegen. Möglichkeit zwei: Landung auf Op 39, einem kleinen Beobachtungscamp auf einer der Bergspitzen, dann sechsstündiger Abstieg hinunter zum Fluß, durch dichten Dschungel (wo es nebenbei bemerkt auch Leoparden gebe), um unten auf die Truppen zu stoßen.

Wenn es ihm recht sei, würde ich mir die Aktion nur von oben, von Op 39 aus, ansehen, verständigte ich mich mit ihm. Ich durfte mit Captain Novak in den Helikopter steigen. Es war nur ein kurzer Flug, ein Katzensprung über drei Bergketten. Unten qualmte die gelbe Rauchbombe, die dem Piloten die Wind­richtung anzeigte; psychedelisch. Der bird landete auf einer Fläche, nicht viel größer als ein Tanzparkett in einem Ausflugslokal.

Etwa zwanzig Mann starrten uns mit aufgerissenen Augen entgegen, als wir auf Op 39 aus dem Hubschrauber stiegen. Seit zwei Monaten lebten sie auf dieser trostlosen Bergspitze, die wie ein geköpftes Ei aussah, verschanzt zwischen unfertigen Bunkern und halb ausgehobenen Sand­sackstellungen. Das Camp war so winzig, daß sie sich kaum bewegen konnten, ohne einander umzurennen oder sich die Schaufeln ins Kreuz zu schlagen.Um sie herum dieses unendliche Grün. Und Grün ist nicht Grün in Vietnam, sondern eine totalitäre Farbe: wer ihr nicht gewachsen ist, endet im Koller. Und das hieß dann in ihrem Pidginvietnamesisch: dinky-dan, meschugge sein.

Hier oben waren sie allein, allein mit der Sonne, die ihnen den letzten Gedanken aus dem Gehirn sog, allein mit den Moskitos, die sie verrückt machten und doppelt allein, wenn die alberne Discjockey-Stimme von American Forces Vietnam Network ihre Ratschläge erteilte: „There’s a real life drama going on, boys, hunderttausend, nein, eine Million Moskitos geben ihre Vorstellung für euch, draußen im Busch, darum nehmt eure Malariapillen und gebraucht eure Moskito-Schutzlotion…“

Ob ich auch wie alle anderen Journalisten glaube, sie seien babykillers und warmongers – das war die spontane, die allererste Frage. My Lai machte ihnen zu schaffen. Der Krieg will sie dauernd in komplizierte moralische Überlegungen verwickeln, und denen fühlten sie sich nicht gewachsen. Sie wollten nichts weiter als all diese Fragen von sich schieben, die verbliebenen Tage zählen, die sie noch abzudienen hatten, und dumpf auf uralte Peanuts- und Blondie-Comics starren, die halb zerlesen auf ihren Knien lagen. Charlie war immer bei ihnen, lauerte um sie herum in den grünen Abgründen des Dschungels, der sich unter ihnen dehnte, ein Feind, den sie nicht zu Gesicht bekamen, denn den Feind bekommt man bekanntlich nur im Kriegsfilm zu sehen.

Unten im Tal: spiegelglatt der Fluß, dessen Namen nicht einmal der Bataillonskommandeur auswendig wußte; daneben eine jener roterdigen, verlassenen Straßen, welche die Dschungel Vietnams und Kambodschas wie langgerissene Wunden durchziehen. Mitten in all dem Grün unzählige kleine braune Narben. Bombentrichter. Zu beiden Seiten des Flusses lief der Angriff.Ihr letztes großes Ding: winzige Spielszene aus jener Super-Parodie eines Dschungelkrieges, der den Guerillas der Dritten Welt Hoffnung auf Sieg machen kann. Den Nachmittag über hockte ich mit steifer werdenden Gliedern auf einer Kiste mit Munition, in der etwa fünfzig Grana­ten lagerten. Die Marines neben mir kauten Zitronen und verfolgten den Rückmarsch der Kameraden unten, die mit Helikoptern aus der Tiefe des Elephant Valley zurücktransportiert wurden.

Zuerst schoß die Artillerie von Da Nang aus, computerge­steuert, in das Tal gegenüber, dann erschienen zwei Kampf­hubschrauber, die die Landezone freischossen, als nächstes landete der Mannschaftshubschrauber. Und die da unten stoben hinaus ins Elefantengras. Auf Op 39 hockten oder lagen sie entspannt auf ihren Sandsäcken, baumelten fröhlich mit den Beinen und zählten grinsend, was da auf Dschungel und zerstörte Reisfelder herunterdonnerte, eine Million Dollar, zwei Millionen Dollar! Es machte ihnen immer noch Spaß, auszurechnen, was ein Viertelstündchen Krieg, auf ihre Art geführt, kostet. Geländespielstimmung. Fast alle von ihnen stammten aus armen weißen Familien, aber Amerika, ihr reiches liebes Vaterland, hat es ja, und so lebten sie im Munitionsrausch alle Tage. Alles für ihre Sicherheit – Bomben, Artillerie, das ewige Gebrumme der Helikopter. Lieber etwas zu viel von allem als zu wenig, lieber etwas versehentlich gebombt als gar nicht. Die eine Hälfte für Angriff und Verteidigung, die andere Hälfte manchmal nur so, aus Gefallen für Dow Chemi­cal und die amerikanische Rüstungsindustrie. Sie vertrauten auf ihre gewaltige M 106, das größte Raketenge­schütz im Zentrum ihres winzigen Camps, das mit einer Haube bedeckt war. Die M 106 garantierte ihnen Sicherheit.

Der zärtliche Haß in ihren Stimmen, wenn sie Charlie sagten, oder gook oder gooner, chuck oder zip oder einfach Vici. Charlie ist sneeky, er schleicht da unten rum. Charlie lebt wie ein Tier, ist nur Instinkt. „Ma’m, wer einmal einen Vici gerochen hat, vergißt den Geruch nie mehr. Der gook riecht wie ein Raubtier, wie einer, der sich seit Jahren nicht gewaschen hat. Zur Schule gegangen ist er nicht, der gook, aber er ist intelligent, smart, erfinderisch.“ Dazu das Loblied, das sie auf Nixon sangen. Cambodia: fabulous! Unser Präsident, der erste, der kurzen Prozeß macht! „Jede Kugel, die den Ho-tschi-Minh-Pfad runterkam, war für meinen Rücken bestimmt, Ma’m!“

Der Bataillonskommandeur, Ltnt.-Colonel Yeager, verstärkte für den letzten Tag der Aktion mit seinen Funkern die Belegschaft von Op 39. Ein sympathischer Mann saß uns gegenüber, nicht sehr gesprächig, was den Krieg betraf, aber keiner von der Sorte, die immer noch sagen, meine Jungs gewinnen hier den Krieg, und ihr Journalisten verliert ihn in euren Zeitungen. Lieber plauderte er versonnen über Tokio, Okinawa und Wiesbaden, die Stationen seines Offizierslebens, die ihm am liebsten gewesen waren. Er verhielt sich extrem vorsichtig, wollte jegliche Verluste auf dieser Sweep-and-destroy-Mission vermeiden und denen im Elephant Valley, den Vicis und NVAs (nach Schätzungen seines Intelligence Service zwischen 400 und 2000) nur die amerikanische Präsenz beweisen. Bei all dem Getöse, mit dem seine Leute im Tal landeten und aus dem Helikopter in die Büsche sprangen, gelang ihm das auch. Das Vietcong-Lager, das sie am ersten Tag der Operation, nach sechsstündigem Aufstieg, erreichten, war längst geräumt. Der 20-Sekunden-Kontakt mit dem Feind am zweiten Tag war Zufall. Sie marschierten in einem trockenen Flußbett, und einer hatte einen Vietcong gesehen, der ge­rade zwischen den Bäumen verschwinden wollte. Der Vietcong schoß, dann warf er eine Granate und war weg, nach bewährtem Fire-and-run-Prinzip. Zwei tote amerikanische Soldaten, einem hatte die Granate den Kopf abge­rissen; sieben Verwundete. Gegen sechs Uhr nachmittags zogen sie oben auf Op 39 die Haube von der großen Kanone und feuerten, um den unten Marschierenden das nächste Tal freizuschießen. Gebrüll: „Fire, M one o six!“ Wir steckten die Finger in die Ohren.

Jojo, ein Puertoricaner aus New York, umtanzte ausgelassen die Kanone: „Das ist unsere M 106, Ma’m, macht Pagoden und Bäume kaputt, Ma’m. Leute, die davor stehen und Leute, die dahinter stehen, boom, boom, oh…“ Er war der Jüngste und Lustigste auf Op 39, gerade acht­zehn, mit einer ausgedehnten Tätowierung auf dem rechten Arm: das Marine-Corps-Emblem. Besser hier oben auf Op 39 schwitzen als dreieinhalb Jahre Gefängnis abzusitzen: „Ma’m, ich war ‚n richtiger Lümmel, war ich!“ Nachdem Jojo eine imponierende Zahl von Autos geknackt hatte, fiel er der Polizei in die Hände. Ein Unfall mit einem gestohlenen Chevrolet-Impala brachte ihn hinter Gitter. Die Anklage lautete auch auf Drogenhandel, weil er Amphetamine verkauft hatte, und der Richter stellte ihn vor die Wahl: Gefängnis oder Paris Island, das gefürchtete Ausbildungscamp der Marines in South Carolina. Das Ziel der Ausbildung dort bedeute, schlechte Gewohnheiten durch noch schlechtere zu ersetzen, flachste sein Kamerad. Jojo sah es so: „Lieber kill ich den gook und hab, wenn ich hier raus komme, saubere Papiere.“ Die Behörden seien bereit, Jugendstrafen aus dem Strafregister zu löschen, wenn einer in Vietnam gekämpft habe.

Wo es einen Zentimeter Platz gab auf Op 39, das Friedenszei­chen! Sie hatten es in die Bäume rund um das Camp ge­schnitzt und in die Kolben ihrer M 16 automatic, in die Kolben der M 79 (der Granatgewehre) und in die Balken der Latrine. Sie hatten es auf die Sandsäcke gemalt, auf ihre Brust täto­wiert und in ihre Schuhsohlen eingekerbt: „Wir kämpfen hier nur für den Frieden“ - die Verlogenheit dieses Satzes haben ihnen die Kriegsgegner in der Heimat längst drastisch klargemacht: „Fighting for peace is like fucking for chastity“ ( Für den Frieden zu kämpfen ist wie vögeln, um Jungfrau zu werden.)

Aha, die Studenten! Auf das Stichwort hatten sie schon gewartet: „Die sollte man alle abknallen, hundert Runden mit dem Maschinengewehr, dann wäre wenigstens zu Haus Frieden!“ - „Bomben drauf“ - „Hungern lassen“ - „People at home need a kick in the ass.“ Einer war milder: „Die können nicht verstehen, wie wir hier leben, und wir verstehen sie nicht, aber daß sie uns in den Rücken fallen, das ist nicht fair!“ Nachts, wenn die Gedanken kommen – alle Mann sind auf Wache, alle zwei Stunden schießen sie die M 106 und machen Dschungelsalat in der Dunkelheit vor ihnen, nachts auf Wache, da rauchen sie schon mal mit einem „J“, einem joint, das Gefühl der Verlo­renheit hinweg (das Marihuana haben sie vor fünf Monaten bei einer Saigoner Prostituierten gekauft), und manchmal bleibt es nicht bei einem. „Wenn du dastehst und fühlst dich einsam und denkst an zu Hause, willst alles vergessen, weißt nicht, was passiert, vielleicht springt dir in fünf Minuten der gook an die Kehle …“

Die Besatzung von Op 39, und die Männer, die am nächs­ten Morgen abgekämpft vom Angriff im Elephant Valley zurückkamen, gehörten zur Kompanie India auf Höhe 190 (von Op 39 nur ein Drei-Minuten-Flug mit dem Helikopter). Die Höhe 190 am Ausgang des Elephant Valley, ein früheres französisches Fort, hielten die Marines seit zwei Jahren. Von hier aus sollten sie die Truppenbewegungen im Elephant Valley feststellen und den Raketenbeschuß auf Da Nang, nur zehn Kilometer weit weg, verhindern. Um die sowjetischen 107- und 122-mm-Raketen, die etwa 11 km weit tragen, nach Da Nang abschießen zu können, mußte der Vietcong bis an den Fuß der Berge vordringen.

Einer der Marines rief mir bei meiner Ankunft auf Höhe 190 zu: „He Ma’m, sagen Sie doch etwas zu mir, ich bin Gott junior, müssen Sie wissen, ich bin Gott junior …“ Die anderen reagierten müde auf seine Faxen, sie lagerten im Gras, Flakweste an und Helm noch auf, ausgepumpt von den Strapazen der Militäraktion, die sie unverletzt überstanden hatten, sie schwiegen. Ein schwarzer Soldat, in Embryo-Stellung gekrümmt, schlief den Schlaf der Erschöpfung. Die Zigarette, die er sich hatte anzünden wollen, hing in seinem Mundwinkel. Sein Feuerzeug war ins Gras gefallen. Ich entzifferte die Inschrift: „Wenn ich sterbe, beerdigt mich mit dem Gesicht nach unten, damit die ganze Welt meinen Arsch küssen kann.“

Captain Burlingame, der die Kompanie India befehligte, stapfte auf uns zu. Ein 32jähriger gutmütig aussehender Rundkopf, der den Einsatz ohne Kraftverlust wegsteckte, noch immer taufrisch. Als einfacher Marine-Soldat hatte er seine Karriere angefangen und nicht einmal Zeit gefunden, sich eine Ehe­frau zu suchen. Zu sehr beschäftigte ihn sein Aufstieg zum Kommandanten, und jetzt, wo er sein Ziel erreicht hatte, mußte er von Höhe 190 aus Briefe an Hinterbliebene, an Ehefrauen und Eltern schreiben, in denen jeder Satz Tonnen wog. Auf Captain Burlingame’s Wort gaben sie etwas auf Höhe 190. Ihn umgab die Aura eines natürlichen Gerechtigkeitsgefühls: „Mich interessiert nicht, ob einer schwarz ist oder weiß oder rot …“ Für ihn sei jeder seiner Männer in erster Linie ein Marine, und wenn er’s verdient habe, würde er befördert. Selbst die schwarzen Marines, die soulbrothers, redeten freundlich von ihm. Er galt als die ganz große Ausnahme unter den Offizieren. Weit entfernt von dem verblasenen Patriotismus ihrer weißen Kameraden, wollten die soulbrothers nur ihre Haut retten und soviel als möglich unter sich sein. Integration durch sozialen Aufstieg in der Armee, diese Vorstellung existierte in ihren Köpfen nicht mehr, weit weg im fernen Amerika war sie zu Beginn des Vietnamkriegs populär. Mittlerweile isolierten sich die Schwarzen, ließen keinen in ihre Cliquen und keinen in ihre Soulrestaurants in Saigon („Wenn da ‚n weißer Offizier kommt und ‚n Blick reinwerfen will, das tut mehr weh als ‚ne Cleymore-Mine, Ma’m!“).

In der Stube von Captain Burlingame arbeitete ein junger weißer Leutnant, der wenig Verständnis für die Herkunft seiner Leute aus armen weißen und armen schwarzen Familien aufbrachte. Ihre sprachlichen Defizite, ihre rohen Bemerkungen, entwerteten das heroische Bild der Marines, der Ledernacken, zu dem er in seiner Knabenzeit aufgesehen hatte. Nun schimpfte er über sie und über „ihr Massaker an der englischen Syntax“, unter dem er seelisch litt. Nach dem Studium der englischen Literatur hatte er seine Exa­mensarbeit über Jonathan Swifts politische Pamphlete geschrieben. Auf Höhe 190 tröstete er sich mit amerikanischen Literaturzeitschriften, die er sich ins Feld bestellte, und wenn seine Gedanken nicht draußen bei den Nachtpatrouillen waren, dann wanderten sie zu Robert Frost auf Seite 98 eines Bandes, in dem ein Zettel steckte und ein Gedicht über Amerika stand: „I smell America smelling…“

Neunzig Prozent des Marine-Corps sind Freiwillige, in Frie­denszeiten sogar hundert Prozent. Die meisten melden sich nach Paris Island in South Carolina, weil sie sich vom schonungslosen Drill mehr Überlebens­chancen in Vietnam ausrechnen, als wenn sie zur Army eingezo­gen würden. Wer dort die Lektion in „killing the communists“ nicht schnell genug begreift, dem wird sie mit dem Kolben des eigenen Gewehrs auf Brustkasten und Rücken ein­geprügelt. Antikommunismus als Dressurakt, Ausbildung zum Verfolgungswahn.

Der Krieg, in den sie danach geraten, trägt kaum noch ideologische Züge –- er ist längst zu einem Kampf zwischen feindlichen Stämmen geworden (auch den Vietcong begreifen sie als Stamm) – mit allen Attributen eines Stammeskrieges, in dem man in atavistischen Ritualen seine Angst übertönt. Während Nixon denen daheim unter Jubel erklärt, „what is right about America“, schneiden seine GI‘s dem toten Vietcong die Ohren ab, fabrizieren seine Leder­nacken aus den Ohren der toten Feinde Halsketten und schmücken mit verschrumpelnden Menschenköpfe ihre Fahrzeuge.

Auf Höhe 190 waren einige der Marines auf ein anderes Spiel­chen verfallen. Es hieß „Roll him over“ und bedeutete, aus toten Vietcongs Stücke herauszuschießen, soviele wie möglich, ganz langsam, genüßlich.„Ich kill den gook, und wenn er vor mir liegt und noch lebt, dann jage ich noch mal vier Magazine in ihn hinein.“ „Und dann denke ich immer wieder, Charlie ist smart, aber Charlie won’t make it, I will make it.“ - „Ich war Pazifist, Ma’m, ich hatte ‚n Bart und lange Haare, und ‚n Menschen umzulegen, das war wirklich nie in meinem Kopf, aber jetzt denke ich, wenn ich hier draußen liege, nur noch, kill them, it doesn’t matter how, kill them, and you almost take pleasure in killing gooks.“ Und wem es ein bißchen zu viel Spaß macht, gooks zu killen, der ist dinky dan - verrückt. So einen gab es auch auf Höhe 190. Der ging ihnen auf die Nerven, weil er ständig hin und her raste und dabei wie ein Wolf heulte. Die Vorderzähne hatte er bei einer Patrouille verloren, als sie auf eine Gruppe Vietcong gestoßen waren. „Am Weihnachts­abend, Charlie hat nicht damit gerechnet, daß wir draußen waren, haben wir 31 Vicis gekillt.“ Befriedigt von seinen Taten schickte er ein glucksendes Geräusch durch die Zahnlücke und lachte sich eins: „Charlie wollte sein Weihnachtsgeschenk. Er hat es gekriegt.“

Daheim in Amerika sitzen ratlose Psychologen und versu­chen, den Rückfall ihrer kids in Atavismus und magische Formen der Feindvernichtung zu analysieren. Doch ihre Soldaten verleiben sich den Feind auch auf unerhört zivili­sierte Weise ein, und die wird dem technischen Image ihrer Nation gerecht. Jeder Gl, jeder Marine-Soldat in Vietnam besitzt eine Kamera, und wenn er noch keine hat, dann legt er sich bei Dienstantritt eine zu, holt sie sich im PX oder läßt sie sich von einem Versandhaus schicken. Bei ihren Einsätzen im Dschungel und in Reisfeldern knipsen sie Farbfotos von den Leichen toter Vietcong und tauschen technische Daten über Belichtung, Einstellung und Entwicklung aus. Manche von ihnen bitten bei Fotozeitschriften um Rat, wie man solche Fotos am besten macht. Und dann kleben sie die glänzenden bunten Bilder mit dem wei­ßen Rand außen rum, diese Ansichten von zerschossenen, ins Gras gespritzten Gehirnen und herauskatapultierten Mägen und Augen, die noch irgendwo an einem Stirnknochen oder an einer Nase hängen, in ihre Fotoalben genau gegenüber der Seite mit den Fotos von Weihnachten 1969. Bilder vom Tannenbaum, Papa mit Zigarre, Mama im Brokatkleid, neben ihnen die jüngeren Schwestern gruppiert, die in einer kleinen Stadt in Ohio aufs College gehen. Das sei nun mal „Geschmackssache“, sagte einer auf Höhe 190 zu mir, er würde sich schämen, solche Fotos seiner Mutter oder seiner Braut zu zeigen, Filme von zerfetzten Leichen, die sie genauso belichteten wie die von Vögeln und Bäumen. Wenn sich die Kameraden darüber unterhielten, wie gut es ihnen tue, auf tote Vici-Körper in ihren Fotoalben zu gucken, würde ihm schlecht!

Früher Nachmittag. Die Morgenpatrouillen kamen gerade zurück. Die meisten hauten sich hin. Ein paar spielten Canasta, auf ihren nackten Oberkörpern leuchteten die blauen und roten Tätowierun­gen, Totenköpfe in Rosengirlanden, die sie sich auf ihren Sechstage-Urlauben von den Fronten machen lassen. Einige schrieben Briefe oder verfaßten schnell ein Gedicht wie Corporal Miller, ein blauäugiger weißblonder Marine-Soldat aus Pennsyl­vania. Schon als kleiner Junge hatte er davon geträumt, in das Elitecorps einzutreten, aus Protest gegen seinen Vater, der bei der Army diente. Hier im Dschungelcamp, einem unsichtbaren Feind ausgeliefert, war dieser Traum verflogen, jetzt wollte er nur noch Chemie oder Publizistik studieren.

Die Wolken werfen eine Bombe aus

Nebel über Höhe 190, und die Sonne

plötzlich durchsickernd,

schießt in die Augen der Männer,

Amerikaner und Vietnamesen,

die auf die Armeen der Ameisen

starren, die durch den Staub ziehen,

und beleuchtet grell einen Salamander

vor der Hütte, der sich alter Tage

erinnert - ohne uns

und sich vor unseren Füßen fürchtet,

während es Nacht wird,

zwischen den Hütten auf Höhe 190.

(geschrieben von Philip Miller, Vietnam Sommer 1970)

Von den vierzig Ledernacken, die ich auf Höhe 190 kennen lernte, schrieben ungefähr zehn Gedichte und Texte. Das Gedichteschreiben ist an der Front in Vietnam ebenso verbreitet wie das Rauchen von Pot. In den Redaktionen von Overseas Weekly und von Stars and Stripes kommen täglich Ladungen miserabler GI-Lyrik an. Hilflose Versuche, mit dem Erleben in Vietnam fertig zu werden. Unentwegte Bekenntnisse zur Größe der Nation, Beschwichtigung von Ängsten, Suchen nach Sinn und Ausweg. Zweifel, Hilfe­rufe: „Dear Lord, lieber Gott, ich bin mir in nichts mehr sicher. Was soll ich tun? Ich bitte Dich um Deine Hilfe! Was ist los mit unserer Welt? Wir töten überall, nicht nur in fremden Ländern, sondern sogar zu Hause. Der schwarze Mann kämpft mit dem weißen, doesn’t anyone love any more? In der Kirche nur Mißgunst, in der Regierung nur Korruption. Und auf dem Campus Gewalt. Alles scheint zu gedeihen in Amerika, nur die Liebe nicht, mein Lord…“ und so weiter, ein dreiseitenlanges Gebet. Der Marine-Corps-Pfarrer möge diesen Text einer Gemeinde in Amerika schicken und dort vorlesen lassen. Der Marine-Infanterist Walsh, der die M 106 auf Höhe 190 bediente und das Gebet verfaßt hatte, war erst in Vietnam fromm geworden. Seit seinem Dienstantritt im Dschungel suchte er Trost in Bibelstellen aus den Korintherbriefen, die er sich laut vorlas. „Ma’m ich liebe die Bibel“.

Er zögerte eine Weile, ehe er mir sein Vertrauen schenkte, und fragte, ob ich wisse, daß über Nacht hier jeder ein Feind sein könne, auch die eigenen buddies. „Wenn irgendeinem in deinem Camp etwas durch deine Schuld zustößt, oder wenn sie bloß denken, daß es deine Schuld war, dann machen sie dich fertig. Entweder killen sie dich eines Nachts und schieben es auf den Vici, oder sie schlagen dich, oder, das ist am schlimmsten, sie sprechen nicht mehr mit dir.“

Irgendein Stimmungswechsel in der Gruppe könne das Leben kosten. Er lebe mit drei soulbrothers in seiner Hütte, und vorläufig ginge es noch gut. Aber er habe schon zusehen müssen, wie Weiße mit entsicherter M 16 vor den soulbrothers saßen, weil die Schwarzen alle halb leer gegessenen Konserven auf den Boden schmissen, die Asche und jeden Dreck, auf den sich die Fliegen setzten und die Kakerlaken, und die weißen buddies hätten beinahe abgedrückt. Bei einer anderen Gelegenheit sei es umgekehrt gewesen. Die soulbrothers hätten  ihre M 16 auf ihre weißen buddies angelegt, weil die unbedingt Country-Musik von AFVN Saigon hören wollten und die soulbrothers haßten nichts mehr als Country-Musik und wollten nur Soul hören, nur ihre eigenen Tonbänder. Die einzige Lösung, die der fromm gewordene Walsh bei all seinen Erlebnissen für sich gefunden hatte: Beten, Beten, jeden Morgen und jeden Abend, und dazwischen in jeder freien Minute.

Unten im Dorf Ouang Nam 1 probten sie die Vietnamisie­rung des Krieges. Zwölf Marines der Kompanie India lagen zusammen mit der südvietnamesischen Armee (regional forces) in einem Lager im Dorf. Diese CUPP-Einheit (combined unit pacification program) war Teil des Pazifizierungsprogramms, das der Bevölkerung Vertrauen in die südvietnamesische Regierung geben und eine wirksame Selbstver­teidigung gegen Überfälle des Vietcong aufbauen soll. Die zwölf ins Dorf abkommandierten Marines waren, gemessen an den Sprüchen und Taten ihrer Kameraden auf Höhe 109, idealistische Soldaten, tief durchdrungen von der Mission des großen Bruders, dem kleinen Bruder zu helfen. Die Angehörigen der südvietnamesischen Streitkräfte, mit denen sie zusammen campierten, entwendeten jeden Tag Tonbänder, Radios, Kameras, sogar die Stahlhelme aus den Hütten der Amerikaner, alles, was einen Moment lang unbeaufsichtigt herum lag. Und es gab nicht einmal eine Schlägerei deswegen, kein böses Wort, so sehr hatten die zwölf Marines ihre Verständnisbereitschaft für die Armut in der verbündeten Armee trainiert. Die südviet­namesischen Soldaten im Lager bezahlten einen Koch, der ihnen täglich warme Mahlzeiten, Reis und Fisch, kochte. Ihre ameri­kanischen Bundesgenossen aßen fluchend die sterile Kost aus kalten Konserven. Und immer, wenn sie ein Verpflegungspaket aufmachten, fehlten die Döschen mit dem Fruchtcocktail, das einzige, was die geschmäcklerische südvietnamesische Army von der ameri­kanischen Verpflegung mag.

Vor drei Wochen auf einem nächtlichen Patrouillengang hatten die Marines unten im Dorf ein junges Mädchen erschossen. Das Mädchen führte eine Gruppe von Vietcong an, und ging während des Gefechts an deren Spitze. Neben einer sowjetischen Pistole fanden sie eine Menge amerikanisches Militärgeld bei ihr – offenbar dazu bestimmt, den nordvietnamesischen Soldaten ihren Sold zu zahlen (auch die Bauern, von denen der Vietcong Reis kauft, akzeptieren lieber amerikanisches Geld als Piaster). Am nächsten Morgen, im Tageslicht, entdeckten sie dann die ganze Wahrheit. Das Mädchen war schön und höchstens neun­zehn Jahre alt, und sie war eine der drei oder vier Prostituierten ihres Dorfes gewesen, eine junge scheue Frau, die sie tagsüber in einem Hinterstübchen bei Mamma-san, der örtlichen Bordellmutter, gestreichelt und geliebt hatten. Nachts hatte sie als Vietcong gegen sie gekämpft, und sie waren ihre Mörder geworden.

Sie fragten mich, ob ich mir den toten Vici ansehen wolle, den sie in der Nacht zuvor erwischt hatten. Es war noch früh am Morgen. Er sei noch nicht entstellt, gegen Mittag würde er dann blau und schwarz werden, und seine Leiche würde min­destens doppelt so groß sein. Der Tote lag in einem flachen Lotosblumenteich, neben einem Reisfeld. Er war nackt, und als ich mich näherte, legten sie ihm ein Tuch über die Hüften.  Der Fotograf vom Intelligence Service sammelte die Dokumente, einige Briefe und einen Gürtel der nordvietnamesischen Armee ein, er hatte seine Pola­roid-Fotos gemacht - niemand im Dorf kannte den Toten - und sagte nur: „Gut genährt!“ - Hinter dem Ohr quoll immer noch Blut. Der Tote, vielleicht Anfang zwanzig, lag da wie eine Skulptur, eine Hand, in der letzten Bewegung erstarrt, mit der er sich an den Kopf gegriffen hatte. Im Gras lagen zwei Grana­ten, selbstgebastelt aus kleinen Thunfisch-Dosen. Er hatte sich im Sterben auf sie gelegt, damit er seine Feinde, bei dem Versuch, seinen Körper umzudrehen, noch mit hochjagen konnte. „Das ist ihre übliche Strategie“, sagten die Marines gleichmütig. Nach uns kamen die Dorfbewohner, um den Leichnam zu begraben.

Auf dem Rückweg beobachtete ich, wie eine Patrouille Marines von zwei Wasserbüffeln verfolgt wurde, die der fremde Geruch der Weißen irritierte. Aber als idealistische Ignoranten wollten sie aus alledem keine Schlüsse für ihre Anwesenheit in Vietnam ziehen: daß man sie nicht liebte in einem Land, wo sie nachts die Verwandten der Familien umbrachten, denen sie tagsüber halfen (der amerikanische Sanitäter behandelte jeden Tag alle kranken Kinder im Dorf). „Man muß diesen Leuten eine Chance geben, Demokratie zu lernen“, sagten die Marines in Quang Nam 1. „Sie lernen es ganz langsam, aber eines Tages werden sie soweit sein…“ Bis dahin handelten sie wie Amerikaner: „entschlossen, Gutes zu tun, nicht irgendeiner individuellen Person, sondern einem Land, einem Kontinent, einer Welt“ (Graham Greene).Vielleicht bemäntelten sie auch nur die Aussichtslosigkeit ihres Tuns. Von den Vietnamesen im Dorf kannten nur wenige den Namen ihres Staatspräsidenten Nguyen van Thieu. Diejenigen, die seinen Namen wußten, sagten: „Thieu oder Diem, Präsidenten sind alle gleich“. Eine Antwort, die ihr Desinteresse an Herrschaft und Herrschaftsformen ausdrückte. Was die Bewohner von Quang Nam 1 für die nächsten Jahrhunderte wollten, war Reis anzubauen und dem Wasserbüffel zu folgen. Und sie wünschten, daß jeder Tag dem vorangegangenen an Ruhe gleiche. Irgendwann, wenn das allnächtliche Geknalle und die Detonationen rings um ihr Dorf ein Ende nähmen, würden sie wieder so leben wie ihre Ahnen zuvor. Darauf hofften sie.

Nachts hat jeder Angst, die drinnen im Camp und die draußen auf Patrouille und die Bauern im Dorf. Keine Gewöhnung kann diese Angst überdecken. Die Angst beginnt in jener Sekunde, in der die Soldaten den ersten Schritt in die Dunkelheit tun, hinaus aus dem Lager. Auf ihren Nachtpatrouillen kämpfen sie Mann gegen Mann. Sie sind schon mit den Köpfen zusammengestoßen, sie und der Vietcong, draußen in der Dunkelheit, der Vietcong auf dem Weg nach Quang Nam, um Reis zu holen. Nachtpatrouille: das ist die Zeit zwischen acht Uhr abends und fünf Uhr morgens, sie gehen in kleinen Gruppen, nicht mehr als zehn, manchmal nur vier. Daß ich mit ihnen gehen wollte, konnten sie nicht begreifen. Sie hielten mich für dinky-dan. Während ich mein Gesicht mit Holzkohle färbte, redeten sie über den gook. Irgendwann einmal wird der Vietcong am Fluß, den sie an der immergleichen Stelle durchwaten, auf sie warten und sie abknallen wie die Wild­enten. Irgendwann einmal wird der Vietcong in der Stellung, in der sie nachts liegen, seine Minen vergraben haben, aber sie hoffen, heute nacht nicht.

In der zweiten Nacht waren wir kaum hundert Meter vom Camp weg, als die Schießerei losging. Das Feuer war fünf, sechs Meter entfernt. Ein paar Minuten später raste eine Granate vor mir ins Gras, sie fiel wie ein stählerner Apfel zwischen die hohen Halme – und explo­dierte nicht! Ich hätte sie mit der Hand auffangen oder mit den Fingerspitzen berühren können, wenn ich den Arm ausgestreckt hätte. Das Kinn auf den Boden gepresst, die Augen krampfhaft nach oben gedreht, sah ich sie im Gras schimmern. Und sie wurde größer und größer, wäh­rend ich sie anstarrte und wegzukriechen versuchte. Dabei fühlte ich mich voll­kommen leer, so leer wie es einem indischen Guru als Ideal­zustand der Versenkung vorschweben mag. Nicht ich, nur mein vegetatives Nervensystem, wartete auf den Tod wie auf eine Pointe.

Ich dachte an einen Großangriff des Vietcong, so nahe beim Camp. Vor mir bewegte sich Marcel, der Sanitäter, der so sanft und scheu war, daß er immer nur yes, Ma’m oder no, Ma’m sagte, wenn ich ihn etwas fragte. Vor ihm der Funker und der Patrouillenführer Corporal Miller, an der Spitze als pointman, Funkie, der Junge aus Brooklyn, ihr Spaßmacher … Hinter uns von Höhe 190 wurden sofort Leuchtkugeln geschossen. Ein falscher Sonnenschein, der die nächtlichen Gefechte in Viet­nam für gut eine Million Dollar pro Nacht beleuchtet.

Nie habe ich Gras so grün gesehen wie in diesem Licht. Plötzlich stoppte das Feuer, hinter mir hörte ich Stiefel, ein Soldat zog mich hoch: „Get up, Ma’m! - Verdammte mother­fuckers!“ Vor mir schrie einer, Funkie sei verletzt: „Wir warten auf den Helikopter.“

„Lebt er noch?“

„Ja“!

„Dort drüben stehen sie, Ma’m!“

„Wer?“ fragte ich, fassungslos auf die Gruppe Stahlhelme starrend, die ungefähr sechzig Meter von uns entfernt, zu uns rüberschauten: „Wer ist hier wer?“

„Die Südvietnamesen, verdammte motherfuckers! Funkie stirbt, wo bleibt der chopper?“

„Dafür müssen die Hunde bezahlen!“

Der hinter mir riß das Gewehr hoch und legte auf die südviet­namesische Patrouille an, die uns beschossen hatte. Einer trat ihm das Gewehr aus der Hand, fuck it! Wir marschierten zum Camp zurück. Weder war Funkie gestorben noch schwerverletzt. Durch den Stahl seiner Flakweste waren ein paar Granatensplitter in seinen Rücken gedrungen. Er lächelte schon wieder, das Gesicht schmerzverzogen.

Natürlich hatten sie auf Höhe 190 sofort gemerkt, dass sich ihre eige­nen Patrouillen beschossen, aber ehe die Südvietnamesen den Feuerstop über Funk befolgten, hatten sie schon drei Granaten geworfen, eine davon auf mich. Nach zwanzig Minuten gingen wir wieder hinaus. Es war so dunkel, daß ich meinen Vordermann manchmal aus den Augen verlor. Stehenblei­ben, hinknien, flachliegen, aufstehn, weitergehn, –- einmal lagen wir zehn Minuten im Morast eines Reisfelds, sie glaubten, vor uns lägen boobie-traps verbuddelt.

Die Nacht verbrachten wir am Flussufer in einem Gebüsch. Rund um das Lager legten sie Cleymore-Minen aus – Routine. Ich hatte das Gefühl, daß in dieser Nacht Jahre vergingen. Stundenlang das singende Geräusch der Artilleriegeschosse über unseren Köpfen, die in die Berge hineinknallten. Die Ochsenfrösche, oder waren es die Enten, quakten wie kaputte Lautsprecher. Neutönermusik im Monsunregen. Ich lag in einer Pfütze und fror. Der nächste Mann war zehn Meter von mir weg. Keiner von ihnen konnte schlafen in dieser Nacht, obwohl sie sich sonst bei der Wache abwech­seln.

Als wir zurückgingen, gegen vier Uhr morgens, machte unser Patrouillenführer einen winzigen Fehler, der von Angst diktiert war und uns das Leben hätte kosten können. Er schlug eine Abkürzung ein, ohne dies über Sprechfunk zu melden. Wir waren schon in der Nähe von Höhe 190 (aller­dings eine halbe Stunde zu früh). Vor uns in einer Ruine aus der Franzosenzeit wartete wieder die südvietnamesische Patrouille. Sie hatte uns längst bemerkt und wartete darauf, die Gewehre in Anschlag, daß wir näher kamen und ein besseres Ziel abgaben. Wieder hielten sie uns für Vietcong. Mit Fragen der Logik hielten sie sich nicht erst auf. Im letzten Moment schoß unser Patrouillenführer einen Popper hoch, eine grüne amerikanische Leuchtkugel, um das Gelände vor uns zu übersehen, staunend ließen die Südvietnamesen die Gewehre sinken. Dann diskutierten sie wild.

Wir ließen sie stehen.

„Scheiß Vietnamisierung – erst bringen wir ihnen bei, wie sie ein Gewehr halten müssen, dann schießen sie auf uns, schießen auf alles, was sich bewegt, fuck it.“

„In neunundzwanzig Tagen bin ich zu Hause, dann seh‘ ich mir den Krieg nur noch im Fernsehen an.“

Es dämmerte schon, die Sonne ging auf. Noch zwei Stunden Schlaf, dann mußten sie auf Morgenpatrouille.

Auf dem Weg zum Flugfeld von Da Nang zählte ich auf der Strecke neun tote Zivilisten, die bei Tageslicht zur Identifizierung nebeneinander gelegt wurden.Jede Nacht wird in Vietnam Lotterie gespielt. Alle Hauptgewinner bleiben am Leben. Nachts schießt die nordvietnamesische Armee Raketen auf Da Nang, die ihre Ziele häufig verfehlen und überall einschlagen können. Der nächtliche Himmel ist laut von den schweren amerikanischen B 52 Maschinen, die ihre Bomben über vermuteten Feindstellungen abwerfen. Sie schlagen in den free fire zones ein, Gebiete im Umkreis von der Hauptstadt, die angeblich von Zivilisten geräumt sind. Mit einem Truppentransporter flog ich nach Saigon zurück, tief unter uns durch Agent Orange entlaubte Wälder. Im Sonnenlicht sähen sie wie ein abstraktes Bühnenbild aus, erzählte der Presseoffizier auf dem Weg in die Stadt.

In der City von Saigon waren die Bäume im Smog der Mopeds abgestorben. Entlang mancher Straßen standen sie wie blattlose vertrocknete Ruinen, gärender Abfall lag auf den aufgerissenen Bürgersteigen herum. Nur auf der Terrasse des Palace Continental herrschte unverändert Frieden. Einem Gerücht zufolge zahlten die Eigentümer des Hotels Schutzgeld an den Vietcong, damit die Presse der freien Welt ein extraterritoriales Gelände hatte, in das der Krieg nicht eindringen konnte.

Die jungen französischen Lehrer eines Saigoner Lyzeums, die während der Siesta auf die Terrasse des Continental kommen und eine citron pressé à l’eau trinken, unterhielten sich über die Höhe der Bestechungsgelder, die südvietnamesische Beamte und Senatsmitglieder ihnen bezahlen, damit ihre Söhne das Bakkalaureat (Abitur) bestehen – mittlerweile die einzige Garantie, nicht zur Armee eingezogen zu werden. Fünftausend Dollar für eine gute Note in Mathe­matik, nur für den Mathematiklehrer, was da wohl erst der Direktor des Lyzeums einnehmen müsse.

Der kleine Junge mit dem von Napalm verbrannten Gesicht verkaufte wieder seine weißen Blütenkränze. Auch die Attentatssirene heulte auf, aber das Geschehen schien diesmal sehr weit weg vom Hotel zu sein. Ein ambulanter Buchhändler ging herum und bot verschiedene Titel an. Einer war dabei, bei dem die Gi’s, die sich vor ihrer Cola rekelten, hell auflachten und zugriffen. Das Buch hieß „How to stay alive in Vietnam“.

Die ausländischen Korrespondenten saßen wie immer an ihren Tischen und tranken Pernod, vor sich einen Text, den sie redigierten, ehe er per Telex an die Heimatredaktion ging, Zahlen von toten Vietcong und von toten Amerikanern.

Alles wie gehabt.

Vierzig Jahre nach der Veröffentlichung meiner Reportage erhielt ich den Anruf eines Freundes von Klaus Kinski. Im Nachlass von Kinski hatte er das 18 Seiten umfassende Treatment für einen Film über den Vietnamkrieg gefunden, das dieser offenbar unter dem Eindruck meines Textes verfasst hatte. Die Hauptfigur sollte eine Journalistin sein, einen großen Teil meines Berichts hatte er wörtlich übernommen.

Peter Geyer und OA Krimmeln (Hrg.)
KINSKI Autobiographisches, Erzählungen,
Briefe, Photographien, Zeichnungen,
Listen, Privates.
EDEL, 400 Seiten