Nicolette Krebitz

Portrait
zuerst erschienen 2001 im Playboy

Aus dem Gegenlicht der Straßenbahnscheinwerfer löst sich ein schmaler Schatten mit Handtasche und kommt quer über die Dorotheenstraße auf mich zu. Ich nehme an, daß dieser Schatten Nicolette heißen wird, denn hier wollten wir uns treffen: am Bühneneingang des Gorki Theaters in Berlin-Mitte, 19 Uhr 10. Neben mir tauschen zwei ältere Männer in wurstigen Parkas Autogrammkarten aus, mit einem Ohr höre ich ihnen dabei zu, während ich darauf warte, dass mir der Schatten näher kommt, mir freundlich zuwinkt oder irgendwas.

Dabei steht sie bereits neben mir. Ist gerade aus einem Taxi gefegt, muß noch ganz kurz an die Kasse, die Karten abholen und ihrer Freundin Anna viel Glück wünschen. Anna ist ebenfalls Schauspielerin und sie spielt in diesem Stück, das wir uns gleich ansehen wollen: „Die Möwe“ von Cechov.

Im Gedränge des Foyers treffen wir uns wieder und ich überrede sie, ihren Mantel an der Garderobe abzugeben – es wirkt ja dann doch ungemütlich und un-theatrig, im Mantel dazusitzen; so als schaue man nur kurz vorbei und ginge demnächst. Aber allein der erste Akt dauert zweieinhalb Stunden und die ganze Zeit sitzen wir still nebeneinander, nur einmal, als Nicolettes Freundin auf der Bühne einen Möwenschrei imitiert, da lachen wir gemeinsam. Es ist natürlich stockdunkel im Zuschauerraum aber im Foyer habe ich gesehen, daß Nicolette schwarze Fischernetzstrümpfe trägt und ein schwarzes Etuikleid, das von Costume Nationale sein könnte – vielleicht aber auch einfach nur von Michael Kors.

Das Stillsitzen wird uns auch dadurch nicht leichter gemacht, daß auf der Bühne andauernd Würstchen gegrillt werden; und zwar keine Bühnenwürstchen aus Pappmaché und Wolle, sondern echte aus Rindfleisch – wir haben beide den ganzen Tag nichts gegessen.

Also in der Pause schnell an den Weißweinpyramiden vorbei, durch einen Gang und die Kantine, wo sie sich kurz ein Brot zeigen lässt, das aussieht, als sei es mit Kartoffelscheiben belegt und dann über eine Außentreppe, durch einen verlassenen Saal in einen stillen Raum mit Billiardtischgrünen Wänden und Säulen aus russisch geschnitztem Holz: Die Tadschikische Teestube, ein mythischer Ort. 

Wo wir die Schuhe ausziehen müssen und auf Kissen am Boden sitzen, wie es bei den Tadschiken wohl Brauch ist. Und sie bestellt eine Teezeremonie und Blinis und Süppchen und einen Salat nach Tadschikischer Art. In ihren Tee, den sie unfassbar stark trinkt, rührt sie einen Löffel Himbeergelee. Dazu löffelt Nicolette russischen Borschtsch aus einem Schälchen – angeblich hat Lenin zu Ehren dieses Eintopfs aus Rote Beete bestimmt, dass die Farbe der Revolution die rote sein müsse. Vom Salat ißt sie eher überhaupt nichts, was an den tadschikischen Salatsitten liegen muß: In einer Schüssel ruht im Kranz aus Gurkenscheiben ein mächtiger Kloß aus Schafskäse und Eiercreme. 

Nicolette raucht nicht, jedenfalls kaum, und in der Tadschikischen Stube ist das Rauchen sowieso verboten. Sie begleitet mich sockfuß nach draußen in den Vorraum, wo man wenigstens heimlich rauchen darf, ohne Angst haben zu müssen, daß hier gleich halb Tadschikistan abbrennt, mitten in Berlin. 

Und es geht eben nie etwas über die Zigarette nach dem Essen. Da kommt man schlagartig auf neue Gedanken und wir kommen, an einen Heizkörper gelehnt und auf kaltem Steinboden stehend, zum allerschönsten Thema von allen: Musik.

Die Frage ist ja: Hören Männer Musik anders, als Frauen? Also nicht von ihrer Körperhaltung her, vom Gesichtsausdruck, sondern – vom Empfinden. Ganz wichtig, das Empfinden. Wenn sie mich so anschaut mit ihren fast schwarzen Augen – sind das einfach nur sehr große?, oder doch auch sehr dunkle Augen? – empfinde ich beispielsweise gleichzeitig Ruhe und Nervosität.

Auch drei geteilte Zigaretten (die letzten!) später steht die Antwort auf die sinnlose Musikfrage noch nicht. Fest steht aber, daß es schön ist, wie wir, neunundzwanzig zu sein und endlich zu der Musik tanzen zu können, zu der man will; daß, wenn wir uns schon entscheiden müssten, welches unser Lebenslieblingsstück sei, dann meins „Flugzeuge im Bauch“ von Herbert Grönemeyer wäre, und ihres “Search and Destroy“.

Nicolette ist ja nicht nur Schauspielerin, sie singt auch. Auf der ausgezeichneten Platte von „Terranova“ beispielsweise das jeden kalten Winter wieder schöne „Never“. Und bei ihrer Stimme ist es so wie mit ihren Augen, ihrem Blick: Ich fühle Ruhe und gleichzeitig Nervosität.

Für diesen einen Moment steht im Taxi ihre Handtasche offen. Ich sehe ein Telefon, einen Handschuh, eine Frequent-Flyer-Card mit Visa-Chip. Und es ist ja immer schon von vorneherein klar, daß die Abende in Berlin an den seltsamsten Orten enden werden. Aber wir landen in einem Ostberliner Ballhaus, so einer Art Café Keese mit Tischtelefonen, einer Balustrade und jungen Paaren, die den Lindihop können. Sie feiern ihr jährliches Klassentreffen und alle zwanzig Minuten kommt der Ballhauswirt, schaltet das Putzlicht an – Musik ist zu laut.

Nicolette erzählt mir, dass sie als Kind auch Klavierstunden hatte. Ihre Lehrerin war aus Russland und sagte, sie sei begabt. Nicolettes Mutter hatte ihr die Tasten aus Karton nachgebaut; mit dem selben Anschlag, wie bei einem richtigen Klavier. Es ging ihr wie Schröder aus der Serie „Die Peanuts“ – die schönen Lieder, die sie spielte, hörte nur sie allein.