Apokalyptische Arbeiter im Flutlicht

Kolumne
zuerst erschienen am 28. Oktober 2008 in Die Tageszeitung

Die feierliche Eröffnung des ersten H&M am Hackeschen Markt. Den verkitschten Rosenhöfen jugendliche Wirklichkeit anbeistellen, super. Dass die Kette mit ansässigen Modemacherinnen zusammengearbeitet und ein T-Shirt herstellen lässt, dessen Verkaufspreis den Berliner Tafeln zugute kommt, schön. Und endlich mal eine Gästeliste vorm H&M, witzig. Eine Mitarbeiterin bindet mir das „Alles-umsonst-Bändchen“ ums Handgelenk. Sie trägt Palästinenserschal über einem gepunkteten Hemd aus der Comme-des-Garçons-for-H&M-Kollektion, die in zwei Wochen in die Läden kommt. Wir lächeln uns halbironisch an.

Tom erklärt mir, wie es läuft: „Früher war ich immer in illegalen Clubs unterwegs, das hat sich eben verlagert, nun geht man auf Eröffnungen, da sind alle Leute von früher.“ Er nippt an seinem „Beautiful-Plus-Drink“, den ein „feel good fast food“-Restaurant sponsert, und beschreibt anschließend das neue Superparfum von Marc Jacobs. Den von herbem Basilikum bestimmten Duft sprühe man über sein eigentliches Parfüm drüber, so würden die Essentials sich zu einer nur leicht veränderten Note mischen. Funktioniert eher wie ein Raumduft. „Check mal die Metaphorik, Alter!“ Ich nicke zustimmend und übergebe mich plötzlich in den exklusiv von C.Neeon bedruckten Leinenbeutel, den es hier geschenkt gibt. Schnell greife ich zu den gereichten Frühlingsrollen, um meine Mundflora wieder in Einklang zu bringen. Die devote Bedienerin hält mir ein Schälchen mit Sojasauce, die schrecklich nach Maggi schmeckt, bis ich aufgegessen habe. In der Ecke sehe ich ein junges Mädchen kauern. Sie ist vielleicht 11 Jahre alt und ihre Schminke verwischt. Hypnotisch murmelt sie, kaum verständlich: „I prefer not to“ vor sich her.

Während DJ Fuck Hugo das Disco-Stück „Plastic Dreams“ von Jaydee spielt, tritt ein Kameramann auf ihre zarten langen Beine. Sie trägt eine Hose aus der Kollektion „Divided“ von H&M, die in diesem Jahr besonders durch folkloristische Romantik, klare und sportliche Entwürfe und den künstlerisch angehauchten Bohemian-Stil besticht.

Später im Kaminzimmer des Belle-Etage-Salons Münzclub, wo der Internet-Guide Unlike mit anderen Web 2.0-Aktiven etwas feiert, erklärt mir eine soziologische Klatschreporterin, die Zielgerichtetheit und Geheimnislosigkeit solcher Happenings mache das eben Betrachtete weniger zu einem unsympathischen als vielmehr rührenden Komplex. Anderen entgleitet derweil der Überblick. Ein dicker Mann an der Bar besteht darauf, seinen Champagner zu bezahlen. Er will nichts davon hören, dass alles gratis ist. Offensichtlich war auch er im H&M gewesen, denn wie von Sinnen schreit er das Model hinter der Bar an: „Im alten Ägypten trugen Männer und Frauen fast fünfzehn Jahrhunderte lang die gleichen fließenden Körperhüllen, die je nach Stand mit mehr oder weniger Brust- und Gürtelschmuck ausstaffiert wurden. Also was soll der Scheiß?“ Ich muss mal. Ein paar queere Jungsmädchen in miesmuschelschwarzen, eng anliegenden Rollkragenpullovern und Bob-Frisuren stehen erregt in den luxuriösen Unisex-Toiletten. Sie skandieren: „Kein Bock mehr auf Online-Jobs“ und „Existentialism!“. Lieber würden sie wie die apokalyptischen Arbeiter unten im gleißenden Flutlicht die Straße aufreißen, starken, selbst gebrannten Schnaps trinken und auf ihren heißen Teerschaufeln gelehnt gegen den schon recht kühlen Herbstwind stehen, erklären sie. Oder einfach ihre Zeit vertreiben. Wie früher. Sie weinen jetzt ganz schamlos. Als ich sie trösten möchte, beginnt eine von ihnen „Killing an Arab“ zu singen, die andere zieht einen kleinkalibrigen Revolver aus ihrer Prada-Jeans. Ich flüchte aus der Toilette, aus dem Salon. Von draußen höre ich Schüsse, Schreie und springendes Glas.

Auf dem Gässchen, in der Finsternis sehe ich auf eine alte graue Steinmauer. Es gibt wenige so stille, gute, schweigende Flächen im Inneren der Stadt. Da fällt mir auf, dass man diese alte Mauer missbraucht und eine Leuchtreklame angebracht hat. Die fluoreszierenden Buchstaben sind diffus und kaum leserlich, doch ich kann einige von ihnen erhaschen: „Magisches Theater. Eintritt nicht für Jedermann“ steht dort. Darunter hat jemand in pink „Softcore“ gesprüht. Ich habe keine Lust mehr auf weitere Gästelisten, gehe einfach weiter.