Rasuren

Essay
zuerst erschienen 2004 in der Welt am Sonntag

In ihrem empfehlenswerten Buch „Das Weltwissen der Siebenjährigen“ schreibt Donata Elschenbroich, zu den nötigen Erfahrungen eines siebenjährigen Kindes gehöre es, seinem Vater beim Rasieren zugeschaut zu haben. Die Rasur der Gesichtsbehaarung ist an sich ein beiläufig abgehandelter Vorgang, eine Routine, die täglich anfällt, legt der Mann Wert darauf, im Gesichtsbereich haarlos zu erscheinen. Für den kindlichen Zuschauer hat dieser Vorgang nichts beiläufiges, es ist eine Sensation, wie der Mann es macht: Ob nun weihnachtlich leise mit gepinseltem Schaum oder dem brummenden Elektrogerät - Bartstoppeln, die über Nacht das Männergesicht wie mit dem Bleistift gepünktelt haben, sie verschwinden; tatsächlich ist der französische Ursprung des Verbums Rasieren mit dem des Radierens verwandt.

Die Rasierszenen in den Filmen sind ähnlich selten geworden wie die Momente, in denen radiert wird. Wie aus dem Museum erscheint uns der Cowboy in seinem dampfenden Badetrog, vor sich den Spiegel, die bedrohliche Klappklinge in der Hand. Vor allem aber James Coburn als Berufsspieler, der sich feierlich vor dem Panoramaspiegel eines Hotels in Las Vegas rasiert, dazu den Zigarillo in die Seifenschale legt und Carly Simon singt „You’re so vain“. Die stille Viertelstunde der Sorge des Mannes um sich taugt nicht mehr zu einem Element der Filmhandlung. Sorge allein ist zu undramatisch, zu sehr innerlich, von Innen sollen vor allem Konflikte kommen, denn die Zuschauer wünschen es vorgeführt zu bekommen, wie es ihren Helden beinahe zerreißt. Auch ist das Bild des Mannes mittlerweile etwas unscharf geraten. Daß er sich rasiert, ist ein rudimentäres Müssen, längst nicht mehr Ritual seiner Zivilisation.

Nach dem Attentat auf das World Trade Center veröffentlichte Susan Sontag einen Essay über die Bedrohtheit der westlichen Welt durch den Islamismus, in dem sie unter anderem schrieb, sie fühle das Recht auf einen glatt rasierten Mann zu haben. Das Gleichsetzen der Vollbärte der Islamisten mit deren offensichtlich gewordenen Barbarei funktionierte, aus weiblicher Sicht heraus, reibungslos. Daß Bärte kitzeln, kratzen, sogar unangenehm riechen können, davon wissen am meisten die Frauen.

Erinnern Sie noch den Dreitagebart? Der gleichmäßig gestutzte Stoppelbart war in den achtziger Jahren modern, sein Träger erschien als Mittelwesen zwischen den zugewachsenen Kyffhäuserianern der Hippie-Ära und deren glattrasierten Vätern. Die Botschaft des Dreitagebarts war mediterran formuliert, zwischen stilvoll und lasziv, deutlich genußorientiert. Der Soundtrack zum Bart – Gianna Nanninis „Latin Lover“ – erschien 1982. Was den Dreitagebart besonders machte, war das hierfür erforderliche Gerät: Braun hatte einen elektrischen Rasierapparat mit verstellbarem Langhaarschneider herausgebracht, der die Pflege dieses ungepflegt wirkenden Bartes ermöglichte. Der Dreitagebart war zunächst im kreativen Milieu beliebt, Heiner Lauterbach als Werber in „Männer“, Mickey Rourke als kreativer Börsenspekulant in dem Film „9 ½ Wochen“ taugten zu den Stilikonen eines Männerbildes, das mit Attributen wie „liebenswert chaotisch“, „große Jungs“, „harte Schale weicher Kern“ umschrieben wurde. Der beschworene weiche Kern bestand in der Annäherung männlicher Interessen an die der Frauen – Mode, Körperpflege, was Filmstars so treiben – und die harte Schale – ein zwar pflegeintensiver, aber dennoch eher symbolischer Bart – sollte die sich angleichenden Geschlechter voneinander getrennt halten. Und den Dreitagebart-Mann hielt von den anderen Männern getrennt, das er ein etwas unbezähmterer, südlicher ausgeprägterer Typus war, als sie, die doch entweder nur angepasst-glattrasierte Nacktmulle waren – oder fahrradfahrende Rauke-Bauern aus dem Wendland.

Die Jahre, in denen eine Rasur etwas über den Mann aussagen konnte, sind vorbei. Die Gegenwart zeigt innerhalb einer einzigen Fußgängerzone eine solche Fülle an Möglichkeiten zur Gesichts-, Kopf- und Körperrasur, daß es schon wieder schlimm wäre, wenn das auch nur irgendetwas anderes zu bedeuten hätte als die Freiheit zur Beliebigkeit. Sicherlich neigen stark eingespannte Familienväter zu einem markig gemeinten Bärtchen, das ihren Mund einfasst (weil sie um Fassung „ringen“?), klaro trägt ein Freund des Nachtlebens die neuesten, vielleicht in dieser Woche: spitzesten Koteletten aller Zeiten. Auch der Zusammenhang zwischen einer Bartmode und den Stilvorbildern hierfür, sowie der Rolle, die ein jeweiliges Erzeugnis der Rasierapparateindustrie dabei spielen dürfte ist nicht mehr zu entwirren. Schaut man sich ein Gesicht an, wie das von Dirk Bach, so entdeckt man darin zwei bis drei verschiedene Rasuren, die mit mindestens zwei unterschiedlichen Gerätschaften gearbeitet wurden: Wie eine Puderschicht bedecken Halbtagesstoppeln die Oberfläche, darauf erhebt sich ein zur Mundfassung gestutzter Zweitagesbart, die Koteletten wirken jedoch um noch ein paar Stunden älter und weniger rasiert als gefeilt. Der Schädel des Komikers wiederum ist haarlos gehalten, auch das bedeutet längst nicht mehr Skinhead oder Uralt. In dem Gesicht Dirk Bachs zeigt sich wie in einem Garten, was einem Mann heute möglich ist an Gesichtsschmuck kraft Haarwuchs und dessen Zucht. Es ist dabei völlig unerheblich, daß Bach ein Komiker ist, der im TV auftritt, und sich von daher (fahrendes Volk!) gewisse Schnurren leisten darf - der Verkäufer im Back-Shop, der Kolumnist der Wochenzeitung, Erdkundelehrer, die Schornsteinfeger sogar: Sie alle tragen Künstlerglatze, Dreitages- oder Islamistenbärte, den Backenbart der Schiffsschaukelbremser.

Dem zuschauenden Kind bietet ein solcher Vater ein viel nahrhafteres Bild, als derjenige, der sich schnöde glattrasiert. Die kunstvolle Rasur eines väterlichen Gesichtsornamentes beschert die selbe weihevolle Atmosphäre, die Töchter vor dem mütterlichen Schminktisch genießen – ist es nicht ein- und dasselbe? Die eine malt, der andere „radiert“ eben. Bei beiden dauert es. Und nachher sieht es aus. 

Einem interessierten Kind wird der Vater beim Rasieren von den alten Römern erzählen. Wie viele Anekdoten sich da um die Rasur geradezu ranken: Otho, der Weichling, der eine Perücke trug und sich nach der täglichen Rasur mit feuchtem Brot einreiben ließ; Caligula, auf dem Kopf so blank wie ein Osterei, sein Spitzname „Ziege“ bezog sich wohl auf Brust und Rücken – ebenfalls Perückenträger; Cicero, der über zeitgenössische Haarfetischisten spottete: Quis est istorum, qui non malit rem publicam turbari quam comam suam? (Wer von ihnen fürchtete nicht mehr um die Ordnung seiner Haare als um die im Staate?) Cäsar, der sich von einem griechischen Sklaven rasieren ließ; Augustus konnte es selbst und erschien nach der Schlacht im Teutoburger Wald mit einem Trauerbart.

Es kann natürlich passieren – wahrscheinlich legt Donna Elschenbroich auch deshalb solchen Wert darauf – daß Rasurgeschichten die Phantasie des Kindes unter Dampf setzen werden. Kann gut sein, daß es den Schornsteinfeger fragt, ob der sich heute schon mit feuchtem Brot eingerieben hat; oder den Erdkundelehrer mit der Frage verblüfft, ob er sich seinen Rasiersklaven aus dem Griechenlandurlaub mitgebracht habe.