Ostzone

von 
Essay
zuerst erschienen im Mai 1997 im jetzt-Magazin

Mitten in München gibt es ein paar Straßen, da sieht es ein bißchen aus wie in Essen, Bochum oder Gelsenkirchen. Seit ein paar Monaten eröffnet dort fast wöchentlich ein neuer Club, eine Bar oder ein Atelier. Kunstpark Ost heißt das Gelände, in das abends Tausende von Menschen zusammenkommen und oft aneinander vorbeireden.

WILLKOMMEN, lese ich. Die „Nachtkantine” ist um 21 Uhr wegen Überfüllung verriegelt. Es muß also irgendwo eine heimliche Premiere geben. Die „Nachtkantine”, eine ehemalige Kantine eines ehemaligen Kartoffelknödelkombinats. Eine langgestreckte Tischdeckchenhalle mit 800 Sitzplätzen, überforderten Drittberufskellnern, die eigentlich schauspielern oder modeln wollen, wie überall, und einer Fensterfront mit Ledersofas. Schnörkellos. Keine Dekorationen, keine Zwischengeschosse, keine Pinseleien. Stattdessen die üblichen Anzugstudenten mit Leihautos, an ihrer Seite Nachwuchspraktikantinnen mit gelben Seidenhalstüchern und bedrohlich verschränkten Armen.

Irgendwo hier muß doch ein Ereignis starten. Kunstpark Ost, ist es mir bis ins Rheinland entgegengeschallt, mußt du hingehen. Selbst der Gang zum Klo ist um 21 Uhr schon überfüllt. Ich drehe mich und sehe mich um, ich, ein Fremder aus Köln, wo man gegen Mitternacht normalerweise noch keine genauen Pläne für die nächsten Stunden hat.

„Das Schreckliche an diesem Gewühl sind die Augen”, flüstert ein Haarspangenmädchen im Gang zu ihrer Freundin. Die zweitausend Augen hier machen ihr anscheinend Angst. Überall Augen. „Es ist nicht die Enge”, sagt sie, und ihre Freundin Petra hört nicht zu, weil sie hochkonzentriert durch den langgestreckten Saal späht, „es sind die Augen. Obwohl es doch nur so zwei kleine Dinger sind.” Auf ihren weißen Platteausohlen sieht das Mädchen aus wie eine Playmobilfigur. Sie hat auch diesen verträumten Gang, den man anscheinend nur mit 18 haben kann. Wie von den Bewegungen der Hose und dem Schlurfen der Schuhe befehligt. Ihre Freundin schlurft genauso.

Petra kommt angeblich jedes Wochenende in den Kunstpark Ost, um einen ganz bestimmten Jungen zu treffen, und sie benutzt auch dieses merkwürdig lange Wort „Kunstpark Ost” und kennt keinen Kosenamen dafür. Sie kaut Kaugummi und prüft den Sitz ihrer Kontaktlinsen. „Ich komme aus Köln”, sage ich. „Kontaktlinsen tun mir weh”, antwortet sie und beobachtet konzentriert die Menschen um sich herum. Bevor sie ausgeht, schmiegt sie die Plastikstücke in ihre Augen: „Alles wird dann so groß und so nah und so deutlich. Dann komme ich mir vor wie auf einem Trip.”

„Warum ist es denn hier in München so früh schon so voll?” frage ich, aber Petra zieht ihre Freundin zum Ausgang, weil sie einen gewissen Alexander im Gewühl entdeckt hat. Der angeblich jedes Wochenende eine neue Freundin in die Nachtkantine führt, immer an einen anderen Tisch. Seit acht Wochen schon, jeden Samstag. „Auf Wiedersehen”, sage ich.

WILLKOMMEN. DEUTSCHLANDS GRÖSSTES KUNST-, KULTUR- UND VERANSTALTUNGSZENTRUM STELLT SICH VOR, lese ich zum zweiten Mal. Vor der „Kalibar” sitzt ein blondes Mädchen auf bloßem Beton und glättet abwechselnd einen Fahrplan, eine Getränkekarte und einen Schmierzettel mit einer Telephonnummer, als werde sie dafür bezahlt. Die „Kalibar” ist eine sogenannte Abfüllstation für die reifere Jugend ab 30. Roter Plüsch, schwarzer Jazz, handgemahlener Bohnenkaffee, also gesalzene Preise. In der „Kalibar” braucht man keinen Kunstpark drumherum. Hier trägt man rasierten Schädel und fächert mit Kunstzeitschriften. Also hockt das Mädchen auch auf dem Boden vor der „Kalibar”. Dort muß sie nichts bezahlen. Sie wohnt einem Ereignis bei – sie hockt im Kunstpark.

ACHTZIGTAUSEND QUADRATMETER GRUNDFLÄCHE, VIERZIGTAUSEND QUADRATMETER NUTZFLÄCHE, prangt vorne auf einem Werbeprospekt. Das Mädchen sitzt einfach nur da und bemalt nun Bierdeckel. Sie schaut nicht einmal zur Seite. Plötzlich springt sie hoch und tritt auf eine Zigarette, die sie weggeworfen hat und die noch verstohlen glimmt. Sie trampelt mit voller Wucht zweimal auf die Kippe und setzt sich wieder und bewegt sich nicht. Ich habe das Gefühl, dieses Gesicht schon einmal in Iserlohn gesehen zu haben. Oder war es Gütersloh?

FÜNF DISCOTHEKEN, VIER LIVE-BÜHNEN, FÜNF BARS. Willkommen Ereignis, sage ich. Ein Borstenschnittbetrunkener richtet sich umständlich vor dem Mädchen auf, als sei er ein Soldat bei einer Parade. Das Mädchen verschwindet im „Babylon”, wo man NDW spielt, also sogenannte Neue Deutsche Welle, was im ausgehenden Jahrtausend nur als Warnhinweis gewertet werden kann. Der Betrunkene zwingt sich unablässig zur Kontrolle, damit sein Vollsuff nicht auffällt. Dabei stolpert er zwei Schritte, dann rückt er sich wieder gerade.

JEDEN FREITAG UND SAMSTAG FLOHMARKT. Der Betrunkene summt und pfeift ansatzweise eine Melodie, die aus dem „Babylon” bis auf den Hof herausschwappt, gleichzeitig geht ein breiter Securitymann mit einer schnelleren Melodie an ihm vorbei. Der Aufseher trägt eine blaue Jacke und pfeift ein Lied, das er aus der „Nachtkantine” mitgebracht hat. Für einen kurzen Moment durchmischen sich diese beiden Melodien, und der Säufer schaut, als habe ihn der Wachmann entlarvt. Er glotzt und starrt, dann schluckt er umständlich und wankt zum Ausgang.

KINO, 35 ATELIERS, INLINE-SKATING-HALLE. Farbe, sehe ich erschrocken und halte den Ärmel meiner Lederjacke, nachdem ich mich an eine frischgestrichene Wand gelehnt habe. In einer fremden Welt bin ich gelandet, denke ich, in einer verschachtelten Schluchtenwelt aus Kneipenwegen und Lärmstraßen und Imbißecken. In einer Welt, in der angeblich immer noch Kartoffelstaub aus der ehemaligen Kartoffelknödelproduktion herumwirbelt. In den Ateliers der Künstler, die sich über der Spielhalle eigene Claims abgesteckt haben, wie im Wilden Westen, und die dort mit dem Staub zu kämpfen haben. Der sich in die Maschinen frißt und auf die Pinsel weht.

In einer überbelichteten Filmkulisse bin ich gelandet, denke ich, als plötzlich das Gelände durch grüne und rote Scheinwerfer erhellt und theatralisch gestaltet wird sodaß, wie auf ein verabredetes Signal hin, Menschenmassen sichtbar werden. Es gibt vielleicht keinen anderen Ort auf der Welt, an dem der Übergang von Tag zur Nacht so eindeutig beweisbar ist. Weil tagsüber in all diesen Gassen Fernsehfrauen herumlaufen, also Sonnenbrillenfrauen, also beim sogenannten Fernsehen beschäftigte Vorzeigeschönheiten, die sich von einem Handy zum nächsten hangeln – die dann aber, mit Sonnenuntergang, schlagartig verschwunden sind. Weil der Tagesmensch in München anscheinend die Nachtmenschen verachtet.

KUNSTPARK OST, lese ich. „Du mußt dir vorstellen, du machst Mädchen ein Kind”, sagt ein blonder Nachwuchsbeau zu einem Bewunderer. „Dann bist du unwiderstehlich.” Beide wollen in das „Babylon”, wohin ich ihnen folge, auch weil ich dort einen der Geschäftsführer suche, der dort selbst als DJ arbeitet. Der Eroberer trägt eine weiße Stoffhose mit breitem Schlag. „Schon Achtzehn? Ausweis?” fragen die Wachsoldaten zur Begrüßung. Als sich der Eroberer kurz dreht, sticht ein Scheinwerferlicht genau durch seinen leichten Hosenstoff und zeigt dürre Beinchen, wie unter einem Mikroskop.

Innen drei Groß-Säle, getrennt in Gesangs- und Getränkeabteilungen. Hohe schwarze Hallen, abwechselnd mit Nebel und Stroboskopzittern ausgefüllt. Und Gesang. „Walking on sunshine…” Im Babylon feiert die Mehrheitsjugend, die sich nicht um Mode und Moneten schert. Schmerbäuchige Pferdeschwanzträger, inmitten und jenseits der Jugendlichkeit, lässige Angestelltenkarrieristen, liebenswerte Kichermädchen vor ihrem ersten Liebeskummer, und nette Trinker mit Motorradführerschein. Zwischen dem Gesangs- und dem Getränke-Hangar stehen flackernde Spielautomaten. Im Babylon wird noch richtig altmodisch in dunklen Ecken geschmust. Und gesungen. Viertausend Kehlenzäpfchen schmettern „Walking on sunshine”.

GRUNDIDEE DES KUNSTPARK-OST-KONZEPTES IST DIE REALISIERUNG EINER SYMBIOSE VON KUNST, KULTUR, GASTRONOMIE UND HANDEL. Matthias Scheffel legt eine neue Platte auf. Seine Frau Gabi ist eine der Geländepächterinnen. „Am Anfang sind wir nicht mit offenen Armen empfangen worden”, sagt er. Die Nachbarn erwarteten offenbar Mord und Totschlag, Sodom und Gomorrha. Ausgerechnet in München, denke ich. „Riem”, sagt Matthias Scheffel und meint den alten Flughafen, wo er zusammen mit der legendären Gastronomenfigur Wolfgang Nöth die Tanzarbeit organisiert hat, bevor sie dann den Kunstpark planten. „Riem war in ganz Deutschland bekannt, aber in München gab es nur Naserümpfen.” Anschließend sprechen wir über Riem wie zwei alte Männer über den Krieg. Über die alten Zeiten. „Durch den Kunstpark jammert Schwabing, aber Schwabing ist auch schlecht, ganz schlecht, nur Abzocker”, sagt er. Was ich noch in keiner Stadt erlebt habe, denke ich, so eine unentwegte Sorge um ein ethisches Investment und darum, korrekten Gewinn zu machen.

„In München gibt es ein klares Spartendenken”, erklärt Scheffel, „und es haben alle bezweifelt, daß hier Techno neben einem Kino existieren kann. Auch die Gastronomen und Veranstalter untereinander hatten Angst. Im Kunstpark soll aber der Porschefahrer neben dem Arbeitslosen sitzen.” Was natürlich eine Frechheit ist und gleichzeitig doch eine Möglichkeit bietet, denke ich noch, und trinke schnell mein Bier aus, weil ich mit einer Bierflasche nicht zwischen „Babylon” und „Natraj Tempel”, oder zwischen „Heizkraftwerk” und „Bongo Bar” herumwandeln darf. Obwohl doch dieses Laufen und Schauen und Laufen und Vergleichen unvergleichlich ist. Menschen aus jeder Alters- und Gesellschaftsschicht, an einem einzigen Ort versammelt, aus kulturellen oder aus primären Beweggründen.

DURCH DEN STARKEN INFORMATIONSFLUSS UND STÄNDIGE KOMMUNIKATION ENTWICKLE SICH ÜBER DIE GRENZEN DES KUNSTPARKS HINAUS NEUE TRENDS UND STRÖMUNGEN. Von den wärmenden Fabrikheizungsrohren im „Ultraschall”-Badezimmergewölbe gleich hinüber in die einzigartige Nebelwelt des „Natraj Tempel”, ohne Bierflasche, mit zwanzigtausend Schaumenschen auf dem Betonparcours. Mit den Händen voller Stempelmuster. Aus der bezaubernden Geisterbahnstimmung des „Natraj Tempel”, wo fernöstliche Mystik und fluoreszierende Leuchtfarben gewisse Hirnsynapsen jenseits der Rationalität massieren, wieder zurück in das „Babylon”, wo Matthias Scheffel viertausend Umlandsängern einpeitscht, denke ich noch, weil doch dieses Laufen und Schauen so einzigartig ist.

Aber ich bin der einzige, den das interessiert, merke ich plötzlich, als Kölner Fremdling, während der ansässige Münchner keine unbekannten Münchner sehen mag, sondern nur seine alten Kindergartenfreunde. Und sich nicht bewegt. Also entweder im „Natraj Tempel” einkehrt oder im „Incognito”, entweder in der „Bongo Bar”, um unrasierte Kleinkunst groß zu machen, oder im „Ultraschall”, um in hellgekachelter Bunkeratmosphäre den eigenen Herzrhythmus zu beschleunigen – wobei doch diese unmittelbare Nachbarschaft eine wirkliche Unglaublichkeit darstellt, wie nirgends in der Welt. Die hier aber auch niemanden interessiert. Sodaß es also schon noch eine Gemeinsamkeit zwischen Köln und München gibt, nämlich, daß in beiden Städten so eine Überzeugung herrscht, zwar in einer großartigen und bezaubernden Stadt zu wohnen, aber vorsichtshalber ständig einzuflechten, daß es letztlich nur Provinz ist. Um sich abzusichern. Dann wird auch dieser Gedanke von einem alten Mercedes mit massiven Keilriemenproblemen und Parkplatzsorgen zerschnitten. Das scharfe Keilriemenschleifen zersetzt alles.

IN SEINER GRÖSSENORDNUNG UND QUALITÄT IST DER KUNSTPARK OST BUNDESWEIT EINZIGARTIG. Dortmund, blitzt ein letzter alberner Einfall zwischen meinen Ohren. Bochum, Essen, Dortmund. Da sieht es schließlich genauso aus wie im Kunstpark. Da geht es genauso rund. Aber als ganzes ist Bochum oder Dortmund natürlich größer. In Essen oder Gelsenkirchen gibt es auch mehr Pferdeschwänze und alte Schallplatten. Außerdem ist in Dortmund der Eintritt billiger. Und die Menschen sprechen nicht so einen merkwürdigen Dialekt. Dortmund, spricht eine elfenhafte Stimme in mir, Dortmund wird Meister…