Flesh Drive

Essay
zuerst erschienen im Herbst 2015 in Numéro Homme Berlin Nr. 2, S. 310-313
Die gesamte Menschheitsgeschichte über galt: Um gesund zu leben, brauchte es Selbstbeherrschung und Willenskraft. Das hat sich geändert. Heute geben wir uns bereitwillig der gnadenlosen Kontrolle durch digitale Trinkbecher, iPhone-Apps und Fitnessarmbänder hin. Diese neue Technik ist ein Segen für die Selbstoptimierung des Menschen.

Vessyl heißt ein hübscher Becher, den man für 149 Dollar im Internet bestellen kann. Das isolierte Trinkgefäß ist über eine App mit dem Smartphone verbunden. Vessyl ist das erste Trinkgefäß, das rechnen kann, beziehungsweise wiegen. Der Becher hilft seinen Benutzern, die Flüssigkeitseinnahmen in den Griff zu bekommen. Es ist für kalte und warme Getränke gleichermaßen geeignet. Auf seiner metallischen Außenhaut erscheinen die Mengenangaben in eleganten Leuchtziffern – ob nun Bier, Grünkohl-Smoothie, Latte oder Evian: Vessyl zeigt an, wie es um die Hydration seiner User steht, was heute noch getrunken werden sollte, oder ob man seiner Gesundheit bereits Genüge getan hat. Natürlich steht der Holy Grail der Selbstoptimierung in ständiger Verbindung mit einer App für iOS und Android, die auf Anfrage eine detaillierte Auswertung der Flüssigkeitsaufnahme liefert. Auch die Proteineinnahme und der Koffeinpegel werden ausgewertet, und so kann man sich von seinem Telefon vor einem abendlichen Espresso warnen lassen, weil damit das Einschlafen gefährdet würde.

Wer dann noch eine Schlaf-App wie Sleep Cycle benutzt, die den Nachtschlaf qualitativ auswertet und einen optimalen Zeitpunkt für den Weckruf extrapolieren kann, hat es nach einem mit dem Vessyl verbrachten Tag eindeutig vor Augen: Seitdem man den wachsamen Becher benutzt, hat sich die Schlafqualität um soundsoviel Prozent steigern lassen.

Disziplin und Selbstbefriedigung

Das schenkt dem Benutzer ein Gefühl der Befriedigung. War die Produktivität einst noch dem Arbeitsleben vorbehalten und wurde im Ausgleich dazu das sogenannte Privatleben bewusst unproduktiv verbracht (Saufen, Spachteln, Ausspannen, Herumhängen), ist die Lust an der Produktivität inzwischen bis in diese unergiebige Zone der Lebenszeit vorgedrungen und will sämtliche Aktivitäten des Zeitgenossen erfassen. Wo es keine toten Winkel mehr gibt, wo alles Gewinn abwerfen kann und soll, braucht es ein Mehr an Selbstkontrolle, um nicht zurückzufallen. Ein übermenschlich anmutendes Maß an Beherrschung. Es braucht Disziplin.

Deren Todfeind wurde von Aristoteles als Akrasia bezeichnet. Und bis vor Kurzem, also bis zum Aufkommen von Fitnessarmbändern, wachsamen Bechern, schlafüberwachenden Telefonen und kommunizierenden Uhren blieb die Selbstbeherrschung eine bloße Lehre, war etwas Körperloses wie die Moral, also etwas, an das man sich halten wollte, aber an dem man nach menschlichem Ermessen und aus Erfahrung klug scheitern musste. Der Begriff des inneren Schweinehundes, der aus dem Jägerlatein in die Terminologie des Militärs übernommen wurde, blieb als Rechtfertigung für die Unbeherrschbarkeit der Akrasia: wenn das sogenannte Fleisch zwar willig, der Geist sich aber als zu wenig diszipliniert erwiesen hatte. Es macht keinen Spaß, im strömenden Regen zu joggen. Aber wenn die Sonne scheint, lockt eben der Biergarten.

Kabelloses Fitnesstraining

So in etwa schaut das Dilemma der Akrasia aus. Wer sich jetzt sein Helles in den Vessyl zapfen lässt, hat es leichter. Dann mahnt zumindest das Telefon, dass ein drittes Bier keine gute Idee bedeutet, falls man danach noch laufen gehen will. Ein Prosit der Ungemütlichkeit!

Wobei: stundenlang laufen? Das Fitnessarmband wird nichts dagegen haben, wenn man nach der dritten Vessylbefüllung direkt zum Elektrodentraining (EMS) fährt, um dort in zwanzig Minuten den Effekt von acht Stunden kabellosem Fitnesstraining einzustreichen. Angenehm auch, dass im Gegensatz zum Training mit Gewichten und Gymnastik eine Einheit EMS pro Woche auszureichen scheint, um das Körpergewicht zu halten und dem Muskelabbau vorzusorgen. So lange man sich eben bei der Nahrungsaufnahme im Zaume hält. Dabei kann der Becher helfen. Und ein wachsamer Teller ist vermutlich in Arbeit.

„There’s no metaphysical difference between your body and your mind, or between your laptop and your necktop“, stellt der amerikanische Philosoph Daniel Dennett fest. Auf den ersten Blick wirkt sein Argument zugunsten der Technologie, es wertet sie auf: ein Computer ist dem Menschen ebenbürtig, beziehungsweise erscheint seine Festplatte als eine Kolonie des Flesh Drive namens Gehirn. Diesem gegenüber jedoch mit einem entscheidenden Vorteil ausgestattet: Das Hard Drive kennt kein Gewissen. Es kennt nicht einmal kennen. Es gibt keinen Schweinehund im Prozessor. Er empfindet nichts, noch nicht einmal Wünsche.

Das Hard Drive funktioniert. Klaglos, frühmorgens, wenn es aus seinem sogenannten Ruhezustand gerufen wird, wie auch tagelang am Stück. So lange seine Batterie mit Strom versorgt wird. Selbiges gilt für die kommunikative Uhr, das Fitnessarmband, den wachsamen Becher, die Schlaf-App, die EMS-Konsole, die allesamt lediglich mit Strom versorgt werden müssen, um selbst dann noch wie zur Stunde ihres Release zu funktionieren, wenn das Flesh Drive des Benutzers einst den Geist aufgegeben haben wird.

Mensch und Maschine

Das kann man als übermenschliche Eigenschaft empfinden oder als unmenschliche. Beides ist zumindest nicht falsch (auch wenn Geräte keine Eigenschaften besitzen, sondern Funktionen). Philosoph Dennett provoziert gerne mit seinen Aussagen, wenn er beispielsweise behauptet, er könne keinen Unterschied erkennen zwischen einem menschlichen Gehirn und einem Thermostat am Heizkörper. Was Quatsch ist, denn ein wachsamer Becher hat ebenso wenig einen Begriff davon, was ungesund bedeutet, wie ein Thermostat auch nur eine Ahnung davon hat, wie es sich anfühlt, wenn uns kalt war und wir uns die Hände am Heizkörper aufwärmen können.

Die Zusammenarbeit aus Mensch und Maschine funktioniert vom Menschen aus betrachtet extrem unausgewogen, da ihre Erträge komplett dem Menschen zu Gute kommen. Der Maschine ist das egal. Und trotzdem glauben einer deutschen Studie zufolge mehr als die Hälfte der iPhone-Benutzer, dass ihr Gerät eine Seele besitzt. Steve Jobs selbst hat sich einst dem ehemaligen Apple-Designer Hartmut Esslinger gegenüber dementsprechend geäußert: mit dem iPhone sei das erste Gerät gelungen, das eine Seele besäße. Und dass es auch innerhalb des unermüdlich funktionierenden Hard Drives so etwas geben könnte wie ein williges Technofleisch und ein schwaches Betriebssystem.

Dieser Glaube, der wie aller Glaube zugleich Aberglaube bedeutet, rührt vermutlich von der Bedienweise des iPhones her. Man streicht über die gläserne Oberfläche, die wie jene eines Gewässers ist, wie die eines Brunnens, auf dessen leuchtendem Grund die Informationen darauf warten, ins Gehirn heraufgeholt zu werden.

Metaphysisch gibt es wohl einen Unterschied zwischen Laptop und Necktop. Letzterer ist der Ort für die Interpretation von Informationen. Für ihre Verknüpfung. Für Fantasie.

Mother’s Little Helpers

Wer heute älter als vierzig Jahre alt ist, kann sich an eine Zeit erinnern, als man sich Telefonnummern merken musste und wollte. Das war auch eine Zeit, als die Namensgedächtnisse besser zu funktionieren schienen als heute. Das Auslagern diverser Funktionen des Flesh Drive, wie zum Beispiel Gedächtnis, an Google und Adressbuch, Selbstbeherrschung an Mother’s Little Helpers wie Fitnessarmband, Vessyl und Schlaf-App, bedeutet unbedingte Bereicherung an Lebensqualität, denn theoretisch müsste das im sogenannten Oberstübchen Kapazitäten freiräumen. Zwischen den Meldungen und Warnungen der Geräte hat ihr Benutzer wiederum gehirnlich gesprochen seine Hände frei, um gedanklich mehr mit sich anzufangen. Die Routinefunktionen des Bewusstseins belegen weniger Speicherplatz mit Hadern (noch ein Bier?) und moralischem Dampf, weil das der wachsame Becher übernommen hat. Wer so ausgestattet lebt, hat vor allem die Chance, zunehmend mehr quality time mit sich selbst oder mit anderen zu verbringen. Anstatt mit dem inneren Schweinehund zu ringen, befolgt man die Empfehlungen der unbestechlichen App und denkt einfach nicht weiter darüber nach. Das Schöne ist, soviel lehrt uns die jüngere und jüngste Geschichte der Informationstechnologie: Es wird alles immer nur besser und noch besser werden. Die wahrlich goldenen Zeiten, in denen wir uns um gar nichts Profanes mehr kümmern werden, bloß noch Anweisungen befolgen und aus Geräteperspektive betrachtet einwandfrei funktionieren dürfen, stehen uns ja erst noch bevor.

Das Gegenteil von Akrasia, der von Aristoteles definierten Unbeherrschtheit, wird Enkrateia genannt. Die Selbstbeherrschung galt viele Jahrhunderte lang als utopisch, weil das Fleisch bekanntlich willig, aber der Geist et cetera. Viele Jahrhunderte lang war das nicht schlimm, weil es ja ohnehin für viel zu viele Menschen viel zu wenig zu essen gab, viel zu wenig zu trinken, viel zu wenig Lebenszeit, als dass es da noch etwas am Selbst zu optimieren gegeben hatte (noch im römischen Reich starb die Hälfte der Bevölkerung vor dem Erreichen des 20. Lebensjahres).

Das hat sich massiv geändert. Und aus den Augen der Geschichte betrachtet: in einer nie zuvor bezeugten Kürze der Zeit. In der industrialisierten Sphäre haben Millionen heute lebender Menschen zumindest das Potential und die Chance, ein aus früherer Sicht unheimlich lang währendes Leben genießen zu dürfen. Das heißt: Wenn sie sich entsprechend am Riemen reißen, Enkrateia üben, um das Zentrum ihrer Lustproduktion, ihr Selbst beherrschen zu lernen. Das fällt freilich unmenschlich schwer in einer Zeit, in der es so köstlich und üppig und vor allem bequem zugeht wie nie zuvor. Alles frei Haus lieferbar, alles rings ums Jahr verfügbar: wer kann, wer will da widerstehen?

Da alle Menschen so schwach konstruiert scheinen, selbst Geistliche, selbst Athleten, Supermodels, Stars – weil keiner ausreichend Selbstbeherrschung aufbringt, alle heimlichen Exzessen frönen, erscheint die Technik segensreich: Der Flesh Drive mag ja willig sein, doch der Hard Drive bleibt hart.