Die nackten Wahrheiten

Essay
zuerst erschienen am 20. Juni 2010 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 24, S. 28
Der französische Philosoph Alain Badiou kämpft mit Platon und Mao für eine bessere Welt

Alain Badiou ist der Philosoph der Stunde. Wenn in den weitverzweigten und alles andere als kohärenten Kunst- und Politikdiskursen dieser Tage eine philosophische Referenz konstant auftaucht, dann ist es Badiou. In Jean-Luc Godards Film „Film Socialisme“, der im Mai auf dem Festival in Cannes gezeigt wurde, spielt er sich selbst: den „berühmten französischen Philosophen“. Wenn das vorherrschende liberale Denken sich überhaupt einen Gegner sucht, taucht prinzipiell der Name Badiou auf; totalitär und menschenverachtend sei der Mann, heißt es dann. Und wenn man sich hierzulande bei den linken, antideutschen Freunden des Staates Israel unbeliebt machen will, muss man nur affirmativ Badious Diktum „Le juif, c’est moi!“ zitieren.

Badious Wirkung ist erstaunlich und auch nicht einfach damit zu erklären, dass einer schließlich die Position des Meisterdenkers besetzen muss, die nach dem Ableben von Foucault, Deleuze/Guattari und Derrida lange Zeit verwaist war. Denn es gibt derzeit kaum einen Philosophen, dessen Bezugsgrößen ihn stärker aus der Zeit fallen lassen als Badiou. Badiou, 73, ist Platoniker, Maoist und dazu ein strenger Anwender der Axiome von Cantors Mengenlehre; einer mathematischen Lehre, von der selbst „die Mathematik die Nase voll hat“, wie kürzlich ein Philosoph treffend formulierte.

Badiou hat sein Denken, seit den Anfängen in den frühen sechziger Jahren, stetig und nüchtern, in fast schon protestantischer Beharrlichkeit weiterentwickelt, ohne Wende, ohne Kehre. Dabei erreicht er in seinen beiden mittlerweile auch auf Deutsch vorliegenden Hauptwerken, „Das Sein und das Ereignis“ und „Logiken der Welten“, ein systemisches Komplexitätsniveau, das mit dem Werkplan Hegels oder Niklas Luhmanns verglichen werden kann. Im Unterschied zu Hegel und Luhmann schwingt in Badious Denken jedoch immer die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Revolutionen mit.

Neuer Meisterdenker

„Scheitern“, hat er einmal geschrieben, „heißt, einen gegebenen Zustand der Gewissheit nicht zu unterbrechen.“ Die Gewissheiten, denen Badiou die Gefolgschaft verweigert, sind nicht nur die des „Kapitalparlamentarismus“ - Badious Begriff für die westlichen Demokratien -, sondern auch die des Marxismus. Die marxistische politische Ökonomie habe es nicht vermocht, ihre eigene Kritik zu kritisieren, stellt er 1984 fest. Sein Beispiel für das Scheitern der marxistischen Orthodoxie ist die polnische Solidarnosc-Gewerkschaftsbewegung Anfang der achtziger Jahre. Für Badiou eine authentische Arbeiterbewegung, der er vorbehaltlos seine theoretische und politische Sympathie zukommen ließ.

Das war unter französischen Intellektuellen nichts Besonderes; bemerkenswert war jedoch, dass Badiou seine maoistische Position beibehielt. Im Unterschied zu André Glucksmann, dem Renegaten des Maoismus par excellence, und zu Michel Foucault, der seine maoistische Phase mit einer Hinwendung zu den griechischen Klassikern ausklingen ließ, sah Badiou Solidarnosc in einer Reihe mit der Pariser Kommune und dem Aufstand der Kronstädter Matrosen in den Anfangsjahren der Sowjetunion.

Das ging im Paris der sozialistischen Regierung Mitterands und der Wiederentdeckung von Antitotalitarismus und Menschenrechten nun gar nicht. Badiou fand sich daher lange Jahre in einer philosophischen Einsamkeit wieder, in denen niemand etwas von ihm wissen wollte. Erst Ende der neunziger Jahre entkam er dieser Schattenexistenz. Die Veröffentlichung seiner Monographie „Paulus. Die Begründung des Universalismus“ (1997) sorgte für einen Paukenschlag. Der heilige Paulus, bis dahin eher als Begründer der starren Struktur der christlichen Kirche angesehen, wird von Badiou als Eröffner der geschichtlichen Möglichkeit einer universalen Botschaft vorgestellt. Die unerhörte Geste des Paulus, schrieb Badiou, bestehe darin, die Wahrheit dem kommunitären Zugriff entzogen zu haben, egal ob es sich um ein Volk, eine Stadt, ein Reich oder eine soziale Klasse handele. Das war wie ein frischer Wind in den Seminarräumen zwischen London, Paris und New York, aus denen die Dekonstruktivisten alle Universalien verbannt hatten.

1999 wurde Badiou dann auf einen hoch angesehenen Philosophielehrstuhl an der École normale supérieure (ENS) in Paris berufen. Damit schloss sich ein Kreis. Im Treibhaus der französischen Intellektuellen, der ENS, hatte Badiou studiert, dort hatte ihn sein Lehrer, der strukturale Marxist Louis Althusser, 1960 gebeten, ein Kompendium der Begriffe des damals völlig unbekannten Psychoanalytikers Jacques Lacan zu erstellen. 1960 war das Jahr, in dem Lacan sein Seminar zur „Ethik der Psychoanalyse“ hielt. Darin hatte Lacan an zwei Textpassagen eine Strukturidentität zwischen der Argumentation des heiligen Augustinus und des Marquis de Sade herausgearbeitet. In dieser Konfrontation lassen sich bereits Motive und Methode Badious erkennen.

Es gehört zu den für deutsche Liberale wie Linke unverdaulichen Eigenarten Badious, dass er auch Martin Heidegger und Zhou Enlai, den Premierminister der Volksrepublik China von 1949 bis 1976, als Gefährten in seiner philosophischen Einsamkeit bezeichnete. Bis heute zitiert Badiou, wie ein schwererziehbarer Junge, dort Mao und andere chinesische Denker, wo er auch hundert andere Philosophen oder Dichter zitieren könnte.

Mao steht für ihn in einer Reihe mit Platon, Descartes, Kant, Marx und Hegel; Philosophen, deren Wahrheiten man weder überwinden noch widerlegen kann, weil sie Fragestellungen eröffnet haben, die, einmal in der Welt, potentiell ewig sind. Zwei Dinge sind hier bemerkenswert: Es gibt ewige Wahrheiten, und zwar im Plural; und einer der Orte der Wahrheit ist die Philosophie. Badiou ist ganz entschieden Philosoph; dass er sich genauso entschieden auch als Mathematiker, Dramaturg und Romancier versteht, macht ihn zur Verkörperung des wirklichen Pluralismus im Denken. „Logiken der Welten“, das gerade auf Deutsch erschienen ist, trägt diesen Pluralismus schon im Titel. Badiou unterscheidet darin vier philosophische Wahrheitsprozeduren: Wissenschaft, Kunst, Politik und Liebe. Auf je spezifische Weise bringen Mathematik, Dichtung, Malerei und Liebe Wahrheiten hervor. Kennzeichen der Wahrheiten ist, dass sie universell sind, unaufzählbar, unendlich und nicht immer sichtbar. Es gibt so viele Wahrheiten, dass man sie nicht alle aufzählen kann - was aber auch nicht nötig ist, denn wir können sie unmöglich verfehlen, wenn die Gelegenheit kommt, an sie zu denken.

Zugleich löst Badiou die Wahrheiten von der Sprache ab. „Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es Wahrheiten gibt“, lautet die zentrale These. Damit wird die äußere Realität weder geleugnet noch als unwichtig erachtet, wenn es um eine Wahrheitsprozedur geht. Jede Wahrheit muss immer versuchen, eine Realität oder ein Reales zu fassen; allerdings kann sie, wenn sie einmal als Wahrheit da ist, unabhängig von spezifischen Gegebenheiten werden und außerhalb der zufälligen Begegnung existieren, im Modus der Unendlichkeit.

Das klingt einigermaßen abstrakt, ist es aber nicht. Vielleicht kann man Badious sehr klaren Stil als stilistischen Kontrapunkt zur Komplexität seines Verfahrens ansehen. Es kann auch helfen, mit einer einfachen Frage in sein Denken einzusteigen: Was ist die Wahrheit der Liebe? Formelhaft gesprochen, ist es die Umkehrung von Freuds positivistischem Optimismus. Freuds Programm „Wo Es war, soll Ich werden“ hält Badiou entgegen: Wo Ichs sind, wird, wenn es um die Wahrheit der Liebe geht, Es. Die Liebe ist also das Unbewusste. Und den ersten Ausdruck ihrer universellen Kraft findet Badiou in der Liebeslyrik Sapphos.

Die Lyrik als Ort der Wahrheitsproduktion ist bei Badiou kein Nebenschauplatz. Er nennt Stéphane Mallarmé einen seiner Lehrer, und sein Werk durchziehen Verweise auf Ossip Mandelstam und Fernando Pessoa. Seine Deutung von Pessoas „Meeresode“ gehört zum Besten, was man seit Heideggers Hölderlin-Kommentaren an philosophischen Gedichtinterpretationen lesen kann. Dabei geht es immer um die Kennzeichnung des individuellen künstlerischen Vorhabens, im Fall Pessoas um sein Leben als Einsiedler in Lissabon, und um das Element, in dem die Dichtung eins wird mit einer allgemeinen Tendenz der Zeit.

Alte Welten

Am deutlichsten arbeitet Badiou seine These von der Existenz der Wahrheiten außerhalb der zufälligen Erscheinungen am Beispiel von zwei Pferdedarstellungen in der Kunst heraus; er bringt Picasso mit den namenlosen Malern zusammen, die in der Altsteinzeit, vor 30 000 Jahren, ihre Darstellungen an den Wänden der Grotte von Chauvet im Tal der Ardèche hinterlassen haben. Wo die steinzeitlichen Jäger vielleicht ihre Angst im Umgang mit den unberechenbaren Tieren bannen oder ihre mögliche Jagdbeute beschwören wollten, erfand Picasso in einem Atelier, in dem ihm alle Errungenschaften der Chemie und der Technik zur Verfügung standen, aus Freude am malenden Denken neue Formen oder bearbeitete bestehende neu.

Trotz dieser gewaltigen Differenz erkennen wir auf beiden Bildern Pferde. Was geht da vor? Badious Antwort: Wir leben und sprechen nicht nur inmitten von Dingen oder Körpern, sondern auch in der Weitergabe des Wahren. Und gegen den Kyniker, der Platon mit den Worten verspottete: „Ich sehe wohl Pferde, aber ich sehe keine Pferdheit“, schreibt Badiou: „Im ungeheuren Prozess der pikturalen Schöpfungen, vom Jäger mit der Fackel bis zum modernen Millionär, ist es eben die Pferdheit, die wir sehen.“

Das ist eine vehemente Verteidigung des Universalismus gegen jede Form des Kulturrelativismus. Die Kunst, heißt das, hängt nicht von der Vergänglichkeit des Menschen und seiner Artefakte ab, sondern von der Wahrheit. Das ewige Leben der Kunst widersetzt sich jedem Todeskult. Dass der gegenwärtige Kulturrelativismus in Badious Denken sofort das Totalitäre glaubt identifizieren zu müssen, sagt wahrscheinlich mehr über die herrschende Orientierungslosigkeit aus, als den Kritikern lieb ist. Badiou lesen bietet dagegen selbst dann noch Anregungen, wenn man seinen Gedankengängen nicht folgen mag. Eine Kritik seiner Kritik macht einen in den meisten Fällen klüger, als man es vorher war.