Die Luft ist rein

Portrait
zuerst erschienen im Frühjahr 2012 in Dummy Nr. 34 (Thema: Geheimnisse), S. 22-29
vom Autor neu durchgesehen
Es sollte nur eine Affäre sein, doch es wurde viel mehr daraus. Seit seine Frau kaum noch mit ihm schläft, ist Herr Gruber den Aufblaspuppen verfallen. Besuch bei einen Mann, der sich nicht mehr länger verstecken will

Ich liebe dich. Und ich bin so glücklich. Und …eigentlich soll ich gar nicht lebendig sein. Das weißt du doch, nicht?
(Charles Bukowski, Fuck Machine)

Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich.
(Mose, Kapitel 1)

Es wäre schöner, wenn es nicht so wäre, sagt er. Aber es ist so, wie es ist. Sein zweites Leben hält Herr Gruber vor seiner Frau geheim. Er hat es im mittleren Fach eines weiß lackierten Holzschranks verstaut, hinten links im Arbeitszimmer. Davor liegt eine alte Matratze, die er sich vor ein paar Jahren besorgt hat.
Er will sich nicht mehr im Keller des Hauses seiner Mutter verstecken müssen um Sex zu haben, denn dieser Keller, den er wechselnd seine Werkstatt, seine Höhle oder den „Ort des Grauens“ nennt, liegt zwanzig Minuten Autofahrt entfernt. Er tut es seit neuestem also auch bei sich zuhause – wenn seine Frau schläft oder nicht da ist. Aus der Schublade zieht er ein Plastikbündel, entfaltet es, legt es auf das Bettlaken. Der schrumpelige Körper einer namenlosen, schwarzhaarigen Frau, 1,55 lang, mächtige Brüste. Sie trägt ein rotes Oberteil. Ihr fehlen bloß die Hände, das sieht grausam und nach Amputation aus, aber Herr Gruber, ein Mann von 45 Jahren, schlank, krummer Rücken, Haarspitzen ergraut, findet den Anblick nicht weiter schlimm. Die Hände seien am schwierigsten herzustellen, die habe er da hinten irgendwo. Er beugt sich über den rechten Fuß der Frau, entfernt den Stöpsel und bläst in ein am Ballen angebrachtes Loch hinein. Sie ist nach ein paar Atemzügen ein bisschen weniger schrumpelig, aber für eine Frau immer noch sehr schlapp. Sie blinzelt nicht. Ihre Augen blicken starr an die Decke über ihr.
Herr Gruber glaubt zu wissen, dass es an diesem Nachmittag ungefährlich ist. „Meine Frau ist bei der Arbeit. Sie wird garantiert nicht kommen. Es sei denn, sie hat Kopfweh“, sagt er. Läuft alles nach Plan, wird sie erst irgendwann abends die Tür aufschließen, müde sein, vielleicht genervt von ihren Kollegen. Herr Gruber und die Frau sind seit 25 Jahren ein Paar. Der Vorteil ist, dass er sie liebt, dass sie ihn versteht und Ordnung in sein Leben bringt. Der Nachteil ist, dass sie keine große Lust auf Sex mehr hat. So erklärt Herr Gruber das Problem.
Er streitet nicht ab, dass das Risiko entdeckt zu werden in letzter Zeit gestiegen ist. Herr Gruber weist darauf hin, dass er den Schrank abschließen könnte, es aber nicht tut, weil seine Frau, dieses Zimmer ihrer gemeinsamen Wohnung sowieso nicht betritt. Hier in seinem Raum ist es chaotisch und auch ein bisschen schmutzig, was seine Frau überhaupt nicht mag. Sie hat alle anderen Zimmer in ihrer gemeinsamen Wohnung, die in einer feinen Villengegend mit Blick auf Bäume und Gärten liegt, stilsicher dekoriert. Die Frau liest gerne Einrichtungszeitschriften und arbeitet in einem Architekturbüro. Herr Gruber sagt, dass sie jede Art von Gummi hasst.
Es wäre in der Tat suboptimal, wenn die Frau Kopfweh hätte und spontan beschlösse nach Hause zu fahren, wo sie auf einen fremden Reporter im Arbeitszimmer träfe, der mit einem Aufnahmegerät neben ihrem auf der braun bezogenen Matratze kauernden Mann steht und sich keine Ausrede für seine Anwesenheit ausgedacht hat.
Fünf Minuten nachdem Herr Gruber den zusammengefalteten Plastikkörper aus dem Regal gezogen hat, kommt er in Stimmung für eine kleine Bums-Demonstration. Auf seinem Schoss sitzt die schwarzhaarige Gummifrau. Vorne ein Loch, hinten ein Loch. „Schau, da kannste hier so….und dann so.“ Auch wenn er seine Hose, eine blaue Jeans, noch an hat, befindet er sich jetzt offenbar in seinem ganz eigenen, äußerst dynamischen Porno-Film. Er vögelt sie presslufthammerartig von unten, verdreht ihr die Gelenke, steigt auf ihr Schienbein drauf. Triumphierend sagt er dann: „Das würde mit einer echten Frau doch gar nicht gehen!“
Kurze Zeit später sieht es plötzlich so aus, als liefe heute ausnahmsweise mal doch nicht alles wie geplant. Geräusche aus dem Treppenhaus nähern sich. Wir zucken beiden zusammen. „Ohoh!“, ruft Herr Gruber, danach Schockstarre, er hat sich offenbar ebenfalls keine Ausrede ausgedacht, doch die Türe bleibt zu, es ist es nur jemand, der zu den Nachbarn will. Die Frau hat kein Kopfweh. Die Frau kommt nicht nach Haus.
Herr Gruber erinnert sich noch an sein erstes Mal. Er war alleine in der Wohnung und hatte sich eine Vinyl-Aufblaspuppe gemeinsam mit einem Freund aus dem Sexshop besorgt. 150 Euro. Sie erregte ihn nicht besonders. Als er sich auf sie legte, passierte folgendes:

Puuhhp.
Schhhhhhhhhhh.
Leer.

Die Naht der Gummifrau platzte, die Luft entwich, Herr Gruber sank gemeinsam mit ihr auf die Matraze herab. Einen anderen Mann hätte diese Erfahrung bis in alle Ewigkeit hinein deprimiert, ihn aber spornte sie an. „Was mir so gut gefallen hat in dieser Nacht, obwohl ich ja gar nicht zum Zug kam, war dass da etwas Greifbares war, etwas, das ich mit meinem Körper umschlingen konnte“, sagt er. Enttäuscht von den Produkten der Masturbations-Industrie fing Herr Gruber mit dem Bau eigener Gummipuppen an.
Seine erste selbst konstruierte Frau war potthässlich und eigentlich nur ein Rumpf. Aber zumindest ging sie nicht kaputt. „Ich konnte mit dem Monster Sex haben“, sagt er und lacht. Er zündet sich noch eine selbstgedrehte Zigarette an. Schwarzer Krauser, die Fingerspitzen gelblich verfärbt. Herr Gruber ist arbeitslos, abgesehen davon, dass er Latex-Puppen zum Aufblasen baut und diese gelegentlich anderen Männern verkauft. Er ist ein stolzer, sensibler Kerl. Er passe einfach nicht in die Erwerbswelt, sagt er. So einfach sei das. Seine Fähigkeiten und Leidenschaften liegen anderswo.
Im Internet hat er Menschen gefunden, die genauso sind, wie er. Familienväter, die ihre Gummipuppe vor den Kindern verstecken. Geschäftsleute, die zusammengefaltete Aufblasfrauen in Koffern mit auf Reisen nehmen. Alleinstehende, die wie traurige Kanarienvögel funktionieren, denen irgendjemand einen Plastikartgenossen in den Käfig hängt. Sie fühlen sich besser, weniger einsam, manch einer verliebt sich sogar, wenn er jahrelang mit einem perfekt nachgebauten Silikon-Supermodel (kostet zwar 6000 Euro, stellt aber keine weiteren Ansprüche) gemeinsam am Esstisch oder vor dem Fernseher sitzt. Außerhalb ihrer Computer treffen sie sich fast nie, weil der Schutz und der Zuspruch, den sie sich in ihren Foren geben können, sich dann irgendwie nicht einstellen will. Sie werden oft angegriffen von anderen Menschen, die sich lustig machen über sie. Ihr seid doch zu feige, um in den Puff zu gehen, schrieb einer. Den Spruch hat Herr Gruber sich gemerkt.
Er würde nie in den Puff gehen, weil er die Vorstellung nicht erträgt, dass jemand Geld nimmt für Sex. Er würde sich keine Geliebte suchen, weil er niemanden verletzten will. Er wäre auch mit einer anderen Frau nicht glücklicher als mit seiner Frau, sagt er. Deswegen also die Puppen in seinem Schrank.
Geschämt habe er sich nur einmal, behauptet Herr Gruber. Das sei neulich gewesen, in der Nacht. Er habe etwas Sensationelles erlebt mit der Puppe, erzählt er, einen ungeheuer guten Orgasmus, der nur mit viel Übung möglich sei. Und dann lag er da auf dem leblosen Latexkörper in der Dunkelheit und dachte offenbar an seine Frau. Stellte sich vor, wie sie im Nebenzimmer der selben Wohnung schlief, nichts mitbekommen hatte von seinem ungeheuer guten Orgasmus, in ein paar Stunden aufwachen würde und den nächsten sexuell unbefriedigten Tag ihres Lebens mit einer Tasse Kaffee beginnt.
Die Frau betritt das Haus seiner Mutter, in dem er seine Puppen baut, so gut wie nie. Es steht in dem Ort, in dem sie beide aufgewachsen sind. Militärkaserne, CDU-Bürgermeister, Mitte des Saarlands. Nicht viel los. Die Putzfrau sei übrigens ein Tratschmaul, sagt Herr Gruber auf der Fahrt durchs hügelige, von Autobahnen zerschnittene Niemandsland. Sie habe seine Puppenwerkstatt entdeckt und erzähle es jetzt den Nachbarn weiter.
Herr Gruber macht das jetzt seit etwa sieben Jahren. Man mag es Tollkühnheit oder Nachlässigkeit nennen, aber er versteckt sich nicht mehr so gut wie früher. Es scheint, als warte er auf den Aufprall, den großen, erlösenden Knall. Mittlerweile ist ihm offenbar alles ein bisschen egal.
Obwohl es dämmert, brennt im Haus kein Licht. Man erkennt Teppiche, Holzmöbel, Ölgemälde, die von einem gutbürgerlichen Seniorenleben künden. Ein weißer Hund läuft herbei. Aus der Dunkelheit taucht die Mutter auf. Sie ist 79 Jahre alt und katholisch, sie kennt sein Geheimnis und  findet es natürlich fürchterlich, was ihr Sohn da in ihrem Haus treibt. Wenigstens kommt er sie dadurch häufiger besuchen, das freut sie natürlich schon. „Ja, Mutterchen, wie isse’s?“, ruft Herr Gruber ihr zu. Ob sie etwas kochen solle? Nein nein, wir gehen nur kurz in den Keller hinab. Die Mutter schaut uns argwöhnisch hinterher und zieht sich in ihr Zimmer zurück.
Herr Gruber schaltet das Neonlicht an und steigt die Stufen nach unten. Wir tauchen in etwas ein, das aussieht, wie das Set eines schlechten Horror-Films. Es riecht nach Gummi, Farbe, Lack. Braun verkrustete Spinnweben hängen wie Lianen von der Decke, weißer Gipsstaub auf dem Boden, abgerissene Gliedmaße verstreut. Bücherregale. Die Bibel. Dann wieder eine Vagina aus Silikon. Zwischen dem Gerümpel stehen und liegen Frauenköpfe, eine zerklüftete Landschaft aus blind starrenden Augen, wassermelonengroßen Brüsten, offenen Fischmäulern, einem Bett. Herr Gruber baut nicht nur, er sammelt auch. Er zeigt die Chinesin, die Französin und einen vergilbten Gummitorso, der angeblich schon 30 Jahre alt ist. Auf einer Ablage stehen Deos, die er benutzt, um den Puppen einen Frauengeruch zu verleihen.

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Personifizieren, nennt er das.
In der Mitte eines Kellerraums liegt eine kopflose Frau auf etwas, das wie ein Operationstisch aussieht. Von der Decke baumelt eine Wärmlampe herab und strahlt rötlich auf ihren Bauch. „Das wird meine Superpuppe“, verkündet Herr Gruber. Die Form sei aus Styroporkügelchen und Expoxidharz gemacht. Bis zu acht Stunden am Tag forscht er hier an der Herstellung der perfekten Frau. Wie gießt man glatte Haut? Wie bekommt man die Po-Falte, den schwierigsten Teil, richtig hin? Würde es Sinn machen, einen Reißverschluss am Hinterkopf einzubauen, damit man kleine, vibrierende Eier einlegen kann? Könnte man so vielleicht das Gefühl eines echten Blow-Jobs simulieren? Das Chlorbad, das fünfschalige Gusssystem, Kombination aus Wattefüllung und Luft. Er ist ein Tüftler und Erfinder, im Grunde ein innovativer Typ. Immer wieder ruft Herr Gruber im Keller seiner Mutter: „Das hat vor mir so noch NIE JEMAND gemacht!“
Dann holt er eines seiner frühen Werke herbei. Ein aus kleinen Silikonlappen zusammengenähter Oberkörper, der überhaupt nicht sexy aussieht, sondern wie die Kreatur des Doktor Frankenstein. Eindeutig schlimm. Andererseits: Der Fortschritt seiner Arbeit ist nicht mehr zu leugnen, wenn man dieses Wesen mit der schwarzhaarigen Gummifrau in seinem Schrank vergleicht.
Herr Gruber geht genauso wie die meisten anderen Männer, die sich mit Puppen vergnügen, davon aus, dass es in der Zukunft nahezu perfekte Sexroboter geben wird. Sie werden nicht nur ficken können wie Göttinnen. Sie werden sprechen. Sie werden laufen. Sie werden schön sein, den Männern dienen, nicht altern und dick werden und sich trotzdem anfühlen wie eine echte Frau. Er arbeitet weiter an diesem Ziel, mit kleinen Schritten, mit dem Geld, das er noch übrig hat. Utopia ist fern. Herr Gruber weiss, dass er die nahende Epoche, in der Frauen durch Maschinen ersetzt werden, nicht mehr erleben wird.
Auf der Fahrt zurück in die Stadt, in der er lebt, erzählt Herr Gruber einen Anekdote aus der Jugendzeit. Seine Kumpels und er seien ziemlich schüchterne Jungs gewesen. Sie hätten sich eines Tages auf dem Schulhof geschworen, wenn sie später keine Frauen abbekämen, würden sie nicht einfach so abwarten und nichts tun, sondern sich selber welche bauen. Und genau so sei es dann auch gekommen, sagt er. Herr Gruber hat zwar eine Frau, eine ganz gute sogar, aber die gebe ihm eben nicht das, was er braucht: „Ganz normalen, intensiven Blümchensex.“
Meistens ist er nachdenklich und still. Manchmal bricht aber auch die Wut aus ihm heraus. Er versteht es einfach nicht. Warum kann er nicht frei sein und tun, was er will? In seinen kämpferischen Momenten fordert Herr Gruber, dass man in Deutschland dringend mal eine männliche Alice Schwarzer installieren müsse, weil es doch ungerecht sei, wie normal und akzeptiert Vibratoren für Frauen geworden sind und wie sehr dagegen Menschen wie er für ihr Sexspielzeug geächtet würden. Ein Bekannter von ihm wurde aus dem Sportverein ausgeschlossen, als man seine Puppe fand. Ein anderer bangt, dass man ihn für pädophil halten könnte und als Grundschullehrer entlässt. Fast alle leben in ständiger Angst entdeckt zu werden. So wie Herr Gruber das erzählt, sind sie keine Perverslinge, sondern Pioniere der selbstbestimmten Masturbation. Die Puppen würden Ehen retten. Er habe zum Beispiel jeden Groll gegen seine Frau verloren, seit er es nicht nur heimlich in diesem Keller, sondern auch heimlich bei sich in der Wohnung auf der Matratze macht. Man müsste Krankenkassenzulassung für Aufblaspuppen bekommen, weil sie gesund für die Menschen seien. Man sollte Aufblaspuppen in den Gefängnissen verteilen, weil man so den Triebstau mindern könne. Er hat ohne Zweifel ein paar gute Ideen. Aber er ist sicher nicht die die neue Alice Schwarzer, die der Nation erklärt, warum es völlig in Ordnung ist, wenn ein Mann eine Aufblaspuppe besteigt. Bislang hat Herr Gruber es ja noch nicht einmal seiner Frau gesagt.
Er behauptet, dass er ja eigentlich sehr gerne über sich und seine Bedürfnisse rede und schon mehrfach seine Unzufriedenheit über ihr Sex-Leben geäußert habe. Sie dagegen sei ein „Schweigemensch“. Es scheint eine starke Macht zu geben, die Herrn Gruber davon abhält, sich als das zu offenbaren, was er ist. Ein Gummipuppen-Fan. Vielleicht würde sie schreiend aus der Wohnung laufen. Vielleicht würde sie ihn verlassen. Vielleicht würde sie aber auch einfach sagen, „aha, so ist das also mit dir“, und dann wieder schweigend in ihr Zimmer gehen. „Sie würde es sicher eklig finden“, glaubt Herr Gruber. Manchmal raunt er auch vieldeutig: „Ich gehe davon aus, dass meine Frau es sowieso schon weiss.“
Herr Gruber kann sich nicht vorstellen, dass seine Frau vielleicht ein ebenso großes Geheimnis hat wie er. Dass sie gar nicht arbeiten geht, sondern mit fremden Männern schläft, oder in ihrem Schrank eine gigantische Sammlung mit selbstgebauten Vibratoren vor ihm versteckt. Herr Gruber lacht schrill. „Also nein, dieser Gedanke…..meine Frau! Das ist doch wirklich absurd.“
Am Abend parkt er seinen Wagen also wieder vor dem Haus, in dem die Wohnung ist. Er kocht ihr etwas. Sie essen mehr oder weniger wortlos und gehen dann getrennt ins Bett. Wenn seine Frau eingeschlafen ist, holt er die Schwarzhaarige aus dem Schrank und besorgt sich einen netten Orgasmus. Es wäre schöner, wenn es nicht so wäre, sagt Herr Gruber. Aber es ist so, wie es ist.