Gehard Merz – „Ich ringe nicht“

Interview
2003
Die Nacht verbrachte ich in Viareggio. Die Saison war vorbei, die Geschäfte an der Strandpromenade geschlossen, von dem berühmten Nachtleben des Badeortes nichts mehr zu hören. Ich frühstückte allein in einem Speisesaal, der für zweihundert Gäste eingedeckt war, die nicht kamen. Nach einer dreiviertel Stunde in der Vorortbahn erreichte ich Pescia. Etwas war schiefgegangen bei unserer Verabredung, ich hatte den Bahnhof zwei Stunden zu früh erreicht. Am Straßenrand war eine Bank unter den tief herabhängenden Zweigen einer Pinie. Ich setzte mich hin und wartete auf Gerhard Merz. Der Verkehr auf dieser Ortsdurchfahrt war merkwürdig: In der ersten halben Stunde kam er mir noch ungewöhnlich stark vor. Dann aber begann ich mir Notizen zu machen und stellte nach einer weiteren halben Stunde fest, daß es die immerselben elf Fahrzeuge waren, die, in ständig neuer Abfolge, an mir vorüberglitten, -knallten und -schoben. Merkwürdig auch, daß innerhalb der Fahrzeuge sich die Fahrer abzuwechseln schienen. Sie stiegen um, vom Dreiradlaster auf den Motorroller auf den Autobus und in den Jeep… Der Verkehrsreigen wurde dann unterbrochen von einem schwarzen Diesel und in dem saß Gerhard Merz. Wir fuhren einen Berg hinauf. Auf halber Höhe hielten wir vor seinem Haus. Von der Freitreppe aus konnte man weit in das Hinterland, eigentlich bis nach Pisa und Florenz sehen. Unter den Olivenbäumen waren die weißen und rötlichen Planen ausgelegt, in wenigen Tagen würde man mit dem Herunterschlagen der Früchte beginnen. Plötzlich erschien auf dem gegenüberliegenden Hügelkamm ein weißes Pferd. Im Haus war nichts als Leere und Stein. Sein Arbeitszimmer hatte einen Ausblick ins Land. Ein sehr breiter, leerer Tisch aus Holz. An einer Wand zwei Schemel, auf denen Bücher aufgeschichtet lagen. Eine Reclam-Ausgabe der ‚Emilia Galotti'. Gerhard Merz weist auf einen Satz hin, den er gleich auf der ersten Seite des Stückes gefunden hatte: „Wie Raffael ohne Hände" beklagt dort ein Künstler das Gefühl seiner Schaffenskrise.

Warum braucht man, um die moderne Kunst verstehen zu können, ein so großes Wissen?

Es liegt daran, daß Sie die Frage klären müssen „What to paint?” – Barnett Newman hat das gesagt. Seit dem 17. Jahrhundert ist der Künstler in Freiheit entlassen. Das heißt, Sie müssen für die eigene Sinnstiftung sorgen. Das ist das Problem. Wenn ich einen Studenten vor mir habe, dann ist es ja nicht meine Aufgabe, ihm artistische Tricks beizubringen; one trick ponies auszubilden. Plötzlich ist da kein Unterschied mehr zwischen Student und mir – sondern ich bin bloß noch der ältere Künstler, der halt mehr gelesen, mehr studiert, mehr an Lebenszeit hatte, der die Verhältnisse schon zum Teil kennt. Ich lehre ja nicht. Sondern ich teile mit den Studenten meine Überlegungen: Wie löse ich das Problem „What to paint?”. Was ist ein legitimes Bild? Wenn ich mir falsche Metaphysik, Aberglauben oder sonstwas unterlege, dann fallen mir die Formulierungen wie Äpfel vom Baum. Wenn ich zum Beispiel sage: „Ich bin ein politischer Künstler. Und male ein Bild gegen den Irak-Krieg” - Ja nun. Kann man machen. Wenn ich aber Kunst als das Existentiellste befinde; das, was Menschen bleibt, in dem Sinn: Was ist wirklich Stand der Dinge? Was ist die Erde? Ein dahin irrendes Gestirn? What to paint? Was soll ins Bild gesetzt werden? Aber legitim, ohne zu fälschen. Dann haben Sie ein irrsinniges Problem. Und dann sind Sie plötzlich bei „Raffael ohne Hände” – weil Ihre Hände spielen kaum noch eine Rolle, um ihre Gedanken umzusetzen. Dafür können Sie sich die Hände borgen. Wäre auch okay.

Sie meinen, ein Bild malen lassen?

Wie auch immer. Erst einmal muß geklärt werden „Was soll ins Bild gesetzt werden?” Aber legitim, nicht weil man sich die Kunst angewöhnt hat, aus falschen Traditionen heraus, sondern „Was ist wirklich?”. Dann nämlich verstehen Sie erst das Ringen von Künstlern wie Barnett Newman. Von Ad Reinhardt. Diesen enormen Drang, den diese Leute haben. Diesen enormen geistigen Drang. Aber diese Frage, „What to paint?,“ die stellt sich heute niemand.

Es gibt doch verschiedene Modelle. Der Künstler kann doch versuchen, sich auszudrücken, „was in ihm vorgeht”…

Sie können Gift drauf nehmen, daß im Menschen die Kunst nicht wohnt. So wie die Mathematik nicht in ihm wohnt. Wenn Sie mit Mathematik etwas zu tun haben wollen, müssen Sie zuvor Mathematik in sich einfüllen.

(Er zeigt ein Foto aus dem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung: Afghanische Schüler einer neueröffneten Kunstschule nehmen Maß an ihrem Modell, einem Stapel von Coladosen)

Besser geht es nicht! Damit fange ich das Semester an. Darunter steht ein Aufsatz: „Künstlerischer Neubeginn voller Todesverachtung – der lange Weg Afghanistans ins 21. Jahrhundert nach dem Ikonoklasmus der Taliban” - Damit sind die keinen Schritt weiter! Darin besteht der Aberglaube der Moderne! Das ist so blöd, wie die Taliban blöd waren! Da haben Sie es. Ich meine, ich bin fast aus der Hose gefallen, als ich das gestern gesehen habe. Und da meint man, und das ist das trostlose an Ost- und Westkunst: Wenn der letzte Moskauer meint, und der letzte Schwarze, daß wenn er eine Coladose auf die Wand nagelt, er sei nun einen Schritt weiter – oder er schüttet, er nimmt all diese Methoden der Moderne und denkt, jetzt sei er auch dabei… Das ist eben der Irrsinn! Es gibt doch nur dies eine Problem zu lösen: „Wie macht man Kunst, nachdem Gott tot ist” Sonst gar nichts. Eines muß man ja wissen: Kunst gibt es noch nicht so lange. Giotto war kein Künstler. Fra Angelico war kein Künstler. Das waren Gotteshandwerker. Der erste Künstler aus individueller Anstrengung heraus ist vielleicht Michelangelo. Und wahrscheinlich damit auch schon der erste schlechte Künstler. Denn: Was sieht man bei ihm in seiner individuellen Anstrengung? Die Aufhebung der Realität. Unvernunft: schwebende Körper. Stürze. Das ist für uns heute alles nicht mehr akzeptabel. Aber vo dem bestimmten ikonographischen Hintergrund wird es weiterhin getragen werden. Und  heute? Meine Hoffnung ist ein vollkommen ausgebrannter Klassizismus. Eine kleinstmögliche Abweichung von der Norm. Das ist es, was ich an Adalbert Stifter liebe. Wenn Sie „Kalkstein” lesen: Die Vernunft, das Landvermessen, ein Pfarrer als philosophisches Element, und dann dieses Stück edler Wäsche, das unter den Kleidern dieses abgerissenen Kerls hin und wieder hervorlugt. Dieses Hervorblitzen akzeptiere ich als kleinstmögliche Abweichung von der Norm. Sonst ist Kalkstein ein rein geologischer, geometrischer Befund dieser Zone: Das Land wird vermessen, parzelliert, das Wetter wird bestimmt – alles Vernunft. Das ist die einzige Möglichkeit. Ein Klassizismus ohne Tränen –das gilt es auch für die Leute zu verstehen. Es ist der Unterscheid zum alten Klassizismus: Der hatte Tränen. Ich denke an Klassizismus ohne Tränen. Bei meiner Arbeit in Berlin hat mich ein satz Samuel Becketts bewegt: „Eigentlich sollte man weiß sprechen”. Was ist das: „Weiß sprechen”? So ganz ausgebleicht, weiß sprechen.

Neutral?

Mehr! Weiß sprechen: das ist eine der irrsten Vorstellungen, die Beckett je hatte. Immer die Angst, nach jeder zweiten Überlegung: „Too rich! Too rich! Too rich!” - da hat man sein „en face le pire” - Angesichts des Schlimmsten… Das sind Künstler, die ich akzeptieren kann. Ihn, Ad Reinhardt, sie haben große formale Meisterschaft und setzen damit eigentlich nur die Sache selbst ins Bild. Ohne Verbiegungen. Ohne Kontext. Dem gilt auch mein Interesse.

Bei dieser Ausstellung, Berlin Moskau“ im Gropiusbau, was mich da interessiert hat, war: Man kommt da herein, der gesamte Lichthof des ersten Raumes ist ausgefüllt von dem Bau und man sieht die Besucher, die kommen da hinein und wandern hindurch und dann versuchen sie einen Halt zu finden bei den Bildern, die rund um ihren Monolithen herum an die Wände gehängt waren. Dabei ausgesprochen oder unausgesprochen die Beschwerde der Zuschauer, das Ganze würde erdrückt, überstrahlt, der Kunstgenuß würde beeinträchtigt durch diese Arbeit von ihnen, Sieg der Sonne“, diesem Monstrum.

Ja. Und?

Würden Sie sich den Fragen der Besucher stellen, hätte sich bestimmt jemand vorgewagt und gefragt, ob dies ihre Absicht gewesen war.

Ob was beabsichtigt war? Daß ich die anderen plage? Das ist natürlich nicht mein Vorsatz. Aber ich habe auch kein Mitleid. Nur: Vornehmen tue ich mir das nicht. Ich sehe meine Möglichkeiten, meine Bedingungen, und ich bin dazu eingeladen und ich interessiere mich grundsätzlich nicht dafür, wer sonst noch eingeladen ist. Ich stelle keine Fragen. Ich überlege mir nur, ob diese Situation für meine Interessen tauglich ist oder nicht.

Eine Arbeit wie ‚Sieg der Sonne‘ ist ja nicht mehr abzutransportieren. Wenn diese Ausstellung vorbei ist, wird sie demoliert?

Zerstört. Immer zerstört.

Und es wird auch nicht anderswohin ausgeliehen?

Nein. Das kann man ja nicht.

Es ist damit beendet?

All meine großen Arbeiten sind so. Sie sind nicht für eine Ausstellung da, sie sind für meine Überlegungen da. Sie sind für mich da. Barnett Newman hat einmal gesagt: „Ein Künstler malt Bilder, damit er selbst etwas zum Anschauen hat. Und manchmal schreibt er, damit er was zum Lesen hat.”

So etwas wollen Sie auch nicht verkaufen?

Nein. Ob das der Pavillion in Hannover war, oder die Grand Gallerie in Düsseldorf: Es wird alles zerstört.

Ist es Ihnen dann egal, was um sie herum gehängt wird, wie das ausssieht?

Egal nicht. Aber: Ich kämpfe grundsätzlich nicht gegen Künstler. Grundsätzlich nicht. Für mich scheint das allerwichtigste die äußerste Zurückhaltung meines Urteils zu sein.

Ein Urteil wollte ich auch nicht hören, sondern den Grund, wonach sich die Größe eines Werkes, ‚Sieg der Sonne‘ in diesem Fall, bemißt.

Rein nach der Architektur. Der des Gropius-Baus in dem Fall.

Und diese Neonröhren, die über dem Durchgang zum Inneren des Blockes aneinandergereiht sind, die sind doch genormt: Hat deren Abmessung einen Einfluß auf die Gesamtproportion der Skulptur?

Die Neonröhren können sie zu beliebiger Länge montieren. Es geht immer auf: Eine Box ist vier Zentimeter breit, das sind vierzig Millimeter. Wenn sie dann bei vierzig Metern um einen Millimeter schieben – das können sie am Endergebnis nicht mehr wahrnehmen. Das paßt immer. Vier Zentimeter ergäbe schon wieder ein ganze Box, es kann sich also höchstenfalls um 3,5 Zentimeter handeln. Bei dreißig Neonröhren, wenn sie die um einen Millimeter austarrieren, dann paßt das immer.

Was ist dann diese Zelle, aus der das gesamte Maß des Werkes entspringt?

Das war ganz einfach. Ich habe dafür eine Publikation gemacht. Und in dieser Publikation ist ein Plan enthalten. Es ist genau immer um ein Joch eingerückt. Das ist das Maß. Die Maße, die liegen immer im jeweiligen Bau begründet.

Auch die Höhe?

Auch die Höhe.

Und was ist obendrauf?

Es ist eben genau so gemacht, daß sich diese Frage nicht mehr stellt.

Aber diese Frage stellt sich mir, weil ich es versucht habe, herauszufinden.

Sie können es nicht herausfinden, weil sie oben nicht draufschauen können. Auf dem Plan sehen sie die Höhe – wie das gemacht ist: da ist die Höhe des unteren Teils, dies die Höhe des oberen und das liegt genau in der Mitte - Das meine ich mit der kleinstmöglichen Abweichung von der Norm. Es geht mir eben nicht darum, Maße zu erfinden, Verbiegungen zu erfinden, sondern die Begründung liegt in den Bauten selbst.

Und der Durchgang, orientiert sich dessen Öffnung an der Größe des Menschen?

Das interessiert mich überhaupt nicht. Überhaupt nicht. Es ist keine Anspielung auf menschliches Maß, all das. Solche Erwartungen entstehen doch nur durch die Konditionierung durch andere Kunst. Aber wenn sie sich von der richtigen Kunst konditionieren lassen, erinnert die Skulptur natürlich an ein Architektron von Malewitsch. Seine Architektronen kennen wir nur von außen. Und ich habe mich oft gefragt, wie könnte ein Architektron von  innen ausschauen? Und plötzlich… Mich interessiert eben genau diese metaphysische Welt von Malewitsch nicht mehr. Deshalb haben sie jetzt  hier einen Architektron von ihm und da sehen sie: Er ist vollkommen leer. Und ausgebrannt. Das ist es.

Was sehen Sie als die Aufgabe der Kunst?

In dieser Ausgebranntheit Schönheit zu sehen. Es ist eben nicht nur ein nihilistischer Diskurs: Man sollte nicht vergessen, daß es bei diesem Diskurs um Schönheit geht. Und genau hier fängt für mich Schönheit an. Nicht in dieser verfallenen Schönheit, die durch graphisches Training oder sonstwas gewonnen ist, sondern daß wir mit dieser Welt auskommen, die so ausgebrannt ist. Daß wir viel schöner, viel glücklicher leben können. Frei von diesem Okkultismus und Aberglauben leben können:In diesem neuen Klassizismus, da blüht es auf. Das ist eine ganz neue Chance. Ich habe mich immer gewundert, daß ich für das Gegenteil angegriffen wurde: Für das Rigide, für das Erdrückende eher. Doch ich habe meine Sachen immer als Möglichkeit von einer ganz neuen Freiheit empfunden. Frei von diesen Aberglauben der Moderne.

Was ist der Aberglaube der Moderne?

Pierre Bourdieu hat das in seinen Überlegungen auf einen Satz gebracht: „Die moderne Kunst ist für die meisten Menschen eine Möglichkeit, sich zum Spaß und vorübergehend vom Unglauben befreien zu lassen.” Und wenn sie die ganze Geschichte der Moderne, die Ikonographie anschauen, dann lastet auf dem zwanzigsten Jahrhundert ein schwerer Makel der Unaufgeklärtheit. Nehmen sie das Werk von Picasso: Pan, Minotaurus – mehr brauchen wir gar nicht zu sagen. Aber auch bei Mondrian: Antroposophie, philosophischer Kitsch – überall dräuten diese Momente herein. Es ist eben immer astrologisches Denken. Statt astronomischem Denken. Immer kosmisches Gemansche.

Gibt es nicht so etwas wie eine gemeinsame Grundlage von Kunst?

Hier finde ich den Ansatz von Demokrit entscheidend: „Alles was zählt, ist der leere Raum und die fallenden Atome. Alles andere ist Meinung.” Nur in der Meinung existiert das Süße, das Kalte oder sonstiges.

Wer möchte sich schon allein dem leeren Raum ausgesetzt sehen wollen?

Ich. Ich bin nirgends glücklicher, als im leeren Raum. Das erfüllt mich vollkommen. Endlich fällt alles ab. Deswegen hasse ich die Museen.

Das setzt eine Denkkraft voraus, die den Menschen in diesem leeren Raum erhalten könnte. Sonst wird er leicht wahnsinnig.

Ich bin nicht da, um die Menschen zu bessern. Ich habe auch gesagt: Weltveränderung kommt nicht in Frage. Und trotzdem ist es so, daß ich denke, daß ich für Einzelne etwas vorleben kann. Ich meine ja nicht „Designerleere”. Weil einer der ganz großen Übel und Ekel, den ich empfinde vor Welt ist:Design. Denselben Ekel empfinde ich vor Askese. Das meine ich eben auch nicht.

Was ist die Leere zwischen Askese und Design?

Die Leere, die ich meine, ist Tatsache. Das ist etwas ganz anderes. Der Tatsachendruck. Weil der Himmel leer ist. Weil mit uns nichts los ist. Weil es so ist, wie es ist. Die Leere entsteht aus diesem Tatsachendruck.

Bedeutet ein weißes Monument das Ergebnis der Einsicht, daß es bloß ein Trick wäre, seinen Platz leerzulassen?

Das ist der alte Traum: Dem Unsagbaren eine Form zu geben. Immer wieder. Das finden sie bei Keats, das ist überall. Daß man Kunst macht, weil es die letzte Möglichkeit bedeutet, daß sich durch die bloße Form ein Weltbild darstellen läßt. Ich denke, daß es sich in der Literatur, wie in der Bildenden Kunst, wie in der Musik um eine vollendete Grammatik innerhalb „gesetzter Horizonte” - wie Gottfried Benn es sagt - handelt. Und Benn sagt weiter: „Entweder gibt es ein geistiges Weltbild, das sich in diesem Formalen zeigt, oder nicht.” Darüber kann man ja diskutieren. Wenn nicht, dann sind die Opfer, die Nietzsche, Hölderlin und sonstwer gebracht haben, umsonst gebracht worden. So kann man sich dann schon verabschieden. Insofern könnte man auch sagen: Wenn das falsch ist, was ich mache, war es eine Verzweiflungstat.

Hat Ihre Verzweiflung etwas zu tun mit einer Vision, die sie haben?

Ich habe keine Vision. Ich kenne allein Tatsachendruck.

Was sind denn die Tatsachen?

Ich glaube, daß wir jetzt fähig sind, über Geschichte zurückzublicken. Wir merken, wo das Ende der Ideale liegt, das wissen wir jetzt alles. Und wir wissen, daß wir uns ganz wenigen Überlegungen überhaupt noch anvertrauen dürfen. Ich glaube: Überhaupt keiner. Wenn man nur lange genug hinschaut, kommt alles abhanden. Und da denke ich, daß man eine Formel finden muß, um Kunst auf ihrem kleinstmöglichen Nenner als eine Art von Erinnerung zu behalten. Als Form. Vollkommen unerfüllt. Ohne jegliche Selbstverwirklichung. Das hat nichts zu tun mit Minimal, nichts zu tun mit Design. Keine Designerleere, Askese, Verzicht - sondern Tatsachendruck.

Wann hatten Sie sich entschlossen Künstler zu werden?

Mit 13.

Wodurch fühlten Sie sich hingezogen?

Mich hat nie etwas anderes interessiert als Bilder.

Haben Sie damals eher gemalt, gezeichnet?

Alles. So wie ich es sage: Man wird immer aus den verkehrten Gründen ein Künstler. Und ich habe das genau so gemacht wie alle anderen auch: Mit sechzehn hatte ich eine Zeitung, voll mit überschießenden Texten und dem gleichen Pubertätsmulm wie überall. Ich war von Francis Bacon beeinflußt. Habe mit achtzehn, neunzehn schon im Haus der Kunst ausgestellt. Große Bilder nach Bacon. Und eines Tages in meinem Atelier, da war ich 19. Jahre alt, habe ich mir meine Sachen genau angeschaut. Und festgestellt, daß es alles, aber auch alles über meine Verhältnisse ging. Ich habe mir die ganze Nachkriegsliteratur von Peter Weiß und alles, was einen sonst noch konditioniert hatte, durch den Kopf gehen lassen und dabei festgestellt, daß dort überall ein Künstlertypus gezeigt wurde, der mich nicht  gemeint haben konnte. Um nie gesehene Bilder zu sehen, wurde Salz in die Augen gerieben, Drogen genommen, gesoffen, Ausschweifungen, Kokettieren mit Terrorismus, sonstige Dinge. Aber all das bin ich nicht. Ich kann weder Blut sehen, noch kann ich Tragödien leiden, ich kann das alles nicht ertragen. Und ich habe mich gefragt: Was kann ich eigentlich ertragen? Was ist eine Formulierung, die mir zusteht? Ich mußte feststellen, bei mir gibt es keine Engel, keine Teufel auf der Schulter – wie es in den Biographien von Künstlern steht. Ich habe keine innere Stimme. Keine brennenden Dornbüsche, überhaupt nichts spricht mit mir. Ich habe mich nur in meinem Kelleratelier gesehen, umringt von Dingen, von denen ich schlagartig gesehen habe: Das bin ich nicht. Und plötzlich habe ich erkannt, was ich machen kann. Es lag ein Millimeterblock herum. Den habe ich nachgezeichnet. Strich für Strich. Und plötzlich wußte ich: Das ist es! Das ist eine Möglichkeit, meine überbordende Liebe zur Kunst – ich liebe Kunst, grundsätzlich, ich bleibe bei jedem Pflastermaler stehen – im Nachzeichnen von diesem vorgedruckten Muster zu leben. Ich hatte  Stöße von Millimeterpapierbögen und ich habe Bilder gemalt, die waren riesig, Linienbilder, da habe ich gemerkt: das ist eine Möglichkeit für mich, Kunst auf der kleinstmöglichen Ebene zu halten. Und das wars. Das ist der erste große Einschnitt gewesen, wo ich für mich verstanden habe, um was es überhaupt geht.

Und diese Phase davor: Was das eine Suche nach Ihnen selbst?

Das wird einem doch nur durch schlechte Literatur eingeredet. Ich meine, ich bin jetzt 56 Jahre alt. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, von wie weit her ein deutscher Mensch kommt, der 56 Jahre alt ist. Wenn ich Ihnen von der Welt, die ich noch gesehen habe, erzählen würde…  das könnte ich nicht einmal meiner Familie, nicht einmal meinen Studenten erzählen, daß ich beinahe noch die mittelalterliche Welt gesehen habe. In ihrer ganzen Abhängigkeit von Religion. Daß der Katholizismus noch die Welt bestimmt hatte bei uns auf dem Dorf. Mit einer Kraft! Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.

Versuchen Sie einen Satz für mich zu finden!

Das führt ja auch zu der ganzen falschen Bewertung der Geschichte. Wir können uns aus unserer heutigen Sicht das Maß an Unaufgeklärtheit in Deutschland nicht mehr vorstellen. Ich bin tief davon überzeugt, daß in Deutschland das Mittelalter erst 1945 zuende gegangen ist. Daß wir aalein deswegen schon alle Fragen noch einmal und ganz anders stellen müssen. Wenn ich zum Beispiel an die alltägliche Rohheit der Menschen denke, die aber nichts dabei empfunden haben, weil sie keine Vergleichsgrößen hatten; die Beschränktheit der Information! Der Worte! Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Man kann es sich nicht vorstellen, daß Menschen Jahre nicht gesprochen haben. Mein Onkel hatte eine Schreinerei. Und ich war immer schon ein gesprächiger Mensch. Als Kind schon. Ich hätte gerne mit den Gesellen des Onkels gesprochen. Das mußte man pantomimisch tun. Man konnte sich selbst ein „Ja” oder „Nein” entnehmen, wenn sich am Gesprächspartner die Einstellwinkel der Augenbrauen verändert haben. Man mußte alles immer ahnen. Es waren wenige Ausnahmen darunter, die das Wort beherrschten. Oder Mitleid empfinden konnten. Ich war zum Beispiel immer allein mit meinem Mitleid. Das ist eines meiner einschneidendsten Erlebnisse: Es war in der zweiten Klasse der Volksschule, im Lesebuch war ein Holzschnitt von einem Grabkreuz. Und wir lesen das Gedicht, daß die Toten jetzt draußen frieren und alleine sind – es war im Winter, um Allerheiligen. Und ich mußte weinen und weinen und weinen. Ich war aber der einzige in der Klasse, der weinen mußte. Und die Lehrerin fragt mich, was ich habe. Und ich wußte, daß ich jetzt nicht sagen kann, daß ich über die Toten weine. Sondern ich habe behauptet, der Nachbar hätte mich gezwickt. Daraufhin mußte ich mich in die Mädchenreihe setzen. Ich mußte die nächsten Jahre neben einem Mädchen verbringen. Das hat mich vollkommen ausgesondert aus dem sozialen Leben, denn das war die größte Schande, die es überhaupt gab. Das hat mich der Kunst zugetrieben, weil die anderen Betätigungsfelder kamen für mich nicht mehr in Frage. So mußte ich ein häusliches Leben führen. Ich war zuhause, habe die Bücher angeschaut und Westermanns Monatshefte – alles was mir möglich war. Ich bin absonderlich geworden, für mich.

War etwas anderes für Sie vorgesehen?

Mein Vater ist Architekt. Ich hätte ein Architekt werden können. Aber Kunst war die Möglichkeit für mich, mit meinem weichen Herzen. Mit dem Mitleid, das ich hatte. Ununterbrochen habe ich gelitten. Mit allen Tieren. Das hat mich unterschieden von allen anderen.

Da Ihr Vater Architekt war, hat er sie sicher unterstützt in Ihrem Wunsch, Künstler zu sein. Ansonsten kann ich mir vorstellen, daß dies damals ein Berufswunsch war, der nicht auf Beherzigung gestossen war?

Das können Sie mit heute nicht mehr vergleichen. Daß man als Künstler auch nur das Minimum verdienen konnte, das stand nicht zur Debatte. Auch während meiner Studienzeit gab es das noch nicht. Es gab keinen Kunstmarkt. Man ist aus vollkommen anderen Gründen ein Künstler geworden. Das war von vorneherein ein ideelles Lebensbild. Es waren ganz andere Gestalten, die Künstler geworden sind. Auch wie ich mir selbst einen Künstler vorgestellt hatte. „Was kostet ein Bild?” diese Frage hat sich wirklich nicht gestellt. Heute fragt ein Student sofort: „Was kann ich dafür verlangen?” Wenn ich das meinen Professor gefragt hätte, der hätte mich totgeschlagen.

Antworten Sie heute auf diese Frage?

Natürlich nicht.

Was sagen Sie dann?

Ich sage, daß Kunstwerke gar nichts kosten. Das sage ich auch allen, denen ich etwas verkaufe. Dann mache ich klar, daß ein Kunstwerk nichts wert ist. Daß ein Kunstwerk einen Ausschnitt aus einem großen Denken bedeutet, ein Fragment, und es wird das weitere Denken damit ermöglicht. Für mich sind Künstler, die mit ihrer Kunst die eigene Wohlfahrt befördern, Drecksäue. Kunst ist nicht dazu da, die persönliche Wohlfahrt zu heben. Aber das soll jeder machen, wie er will.

Konnten Sie den von Ihren ersten Bildern welche verkaufen?

Ich bin arbeiten gegangen. Das war vollkommen normal, daß man, wenn man Künstler wird, aus dem Leben austritt. Das war auch das ganz große Vorbild. So habe ich mir die idealen Menschen vorgestellt: die aus diesem Rennen ausschieden und das Leben ganz anders in die Hand nahmen. Furchtlos.

Das erschien als der bessere Weg?

Nicht der bessere Weg, aber als der Weg, den man verkraften konnte.

Mit der Gesellschaft konnten Sie nichts anfangen?

Ich hatte ja nicht viel davon gesehen.

Und was Sie gesehen hatten?

Ich wußte eines: Daß ich woanders hingehören möchte. Und das fühle ich heute noch so. Ich denke wirklich ideal über Kunst. Immer noch. Ich kann es mir vorstellen, daß es den Gerichtshof der toten Künstler gibt. Das ist eine kindische Vorstellung. Aber ich denke, daß ich Kunst so ernst nehme, daß ich der idealen Form keine Schande machen möchte. Ich fühle mich selbst direkt der Kunst verpflichtet, sonst gar niemandem. Das klingt vielleicht pathetisch.

Nein. Vor allem deckt es sich mit genau allen Aussagen aller, mit denen ich zuvor gesprochen hatte. Es geht immer darum, in einer nicht enden wollenden Gegenwart mit allen, die man für vertrauenswürdig oder vorbildhaft erachtet, zu schaffen. Und sich vor deren Werk keine Schande zu machen.

Das ist es! Für mich sind es die toten Künstler. Und wem soll ich mich sonst zugehörig fühlen? Mit denen spreche ich, mit denen verkehre ich, so arbeite ich. Immer mehr genügen mir heute die Buchrücken – ich habe die Bücher ja gelesen. Mit den Buchrücken baue ich mir hier eine Wand, dann brauche ich nur hinüberschauen und fange an zu arbeiten. Ganz langsam.

Jetzt ist es aber so, daß sich das Bild des Künstlers komplett gewandelt hat. Er befindet sich nicht mehr außerhalb der Gesellschaft, sondern mittendrin. Hat sich dadurch bei Ihnen jemals etwas verändert?

Ich lebe als Bürger. Die Klischees vom Künstlerleben überlasse ich anderen Leuten.

Ich meine nicht die Ausschweifungen, ich meine allein das Akzeptiertsein in der Gesellschaft.

Das ist eigentlich nicht wahr. Wenn Sie die wirkliche Taktik von Kunst, wie ich sie sehe, zum Gespräch machen, dann sind Sie sehr schnell allein. Und nicht mehr mittendrin. Dann sind Sie ein absoluter Spielverderber. Ich sagte ja: Dieses Moment der Aufklärung von Vernunft, das ich meine, ist meiner Erfahrung nach ein großer Tabubruch. Es wirkt enorm herausfordernd und verletzend. Ich bekomme das immer wieder mit. Es ist merkwürdig: Die Gesellschaft, das Publikum bemerkt die Zumutungen der Moderne nicht mehr, die akzeptieren sie. Ich als Künstler akzeptiere nichts. Das ist ein großer Unterschied. Die Zumutungen, die lasten auf mir in einer ganz anderen Art, als auf dem Publikum – die können alles hinnehmen. Ich kann nichts mehr hinnehmen. Ich verkrafte nichts mehr. Die Tage verletzen mich in einem Maß, das kann ich ihnen gar nicht beschreiben. Und ich lebe deswegen hier, damit ich dem Dauerbeschuß dieser Verletzungen nicht ausgesetzt bin. In Arrezzo ist eine Uhr, darauf steht: „Jede Sekunde verletzt/Die letzte tötet”. Das ist wirklich so.

Warum werden Ihre Werke dann überhaupt ausgestellt?

Das ist so. Es sind ja keine Gesellschaftsbilder. Kunst kommt von Einzelnen für Einzelne. Wenn Sie periodisch einen Einzelnen finden, der von Ihrer Arbeit angerührt ist, dann stellt er sie aus. Der entscheidende Begriff für die Künstler ist meiner Meinung nach: Der Fürsprecher. Dieser Begriff taucht auch bei Gilles Deleuze auf. Das gefällt mir gut. Daß ein Werk nicht unter großem gesellschaftlichem Druck in die Welt kommt, sondern einen einzelnen Fürsprecher findet. Dahinter steht kein Wille der Gesellschaft oder von Institutionen, sondern der Fürsprecher, den es manchmal gibt. Genau dieser Produktionsmethode entspricht, daß man von Fall zu Fall Kunst macht und durch irgendwelche glücklichen Zufälle – keineswegs freundschafliche – ergibt es sich, daß ein Fürsprecher das aufnimmt. Der Fürsprecher. Das ist für mich die entscheidende Figur in der Kunst, der Fürsprecher. Das ist ein Begriff, der mir unglaublich gut gefällt.

Der ist aber nur für die Kunst da?

Nein, überhaupt. Das kann ich mir grundsätzlich gut vorstellen: Der Fürsprecher. Das ist ja eigentlich eine wunderbare Überlegung, ein Fürsprecher für etwas zu sein. Und plötzlich ist die Welt nicht grenzenlos. Nicht beliebig. Sondern der Einzelne wird ernstgenommen von seinem Fürsprecher. Und ich selbst bin auch Fürsprecher von etwas. Nicht mehr austauschbar.

Sie sind ein Fürsprecher der Kunst?

Das stimmt. Da geht es nämlich gar nicht um mich. Zum Beispiel wenn ich im Kontext der Akademie arbeite: Ich spreche nie von mir. Noch nie habe ich da von meiner Arbeit gesprochen. In 14 Jahren. Mit noch keinem Studenten habe ich über meine Arbeit gesprochen. Und ich verbiete auch, daß der über meine Arbeit spricht. Das lasse ich nicht zu. Wir reden über Kunst.

Aber das tun Sie doch nicht neutral. Das tun sie doch mit mit dem von ihnen erarbeiteten Material.

Das ist schon richtig. Ich bringe es in die Welt. Das muß jedem bewußt sein, daß in der Vorauswahl immer eine Tendenz liegt. Das gebe ich schon zu. Aber das weiß ja auch jeder, der mit mir zu tun hat.

Und warum dann doch die Lehre, warum eine Professur?

Das kann ich so gar nicht mehr sagen. Der Grund dafür verändert sich ununterbrochen. Heute ist es nicht mehr der gleiche Grund wie vor 14 Jahren. Die Umstände haben sich derart verändert, daß es nicht mehr denselben Sinn hat, wie damals.

Ist es nicht ungeheuer optimistisch, zu sagen: Ich kann jüngeren Menschen, die dasselbe vorhaben wie ich, etwas beibringen?

Das können Sie nicht!

Aber das wäre doch die Aufgabe.

Sie können nichts beibringen.

Etwas lehren?

Auch nicht. Sie sehen doch meine Tragödie: Nur die Dümmsten sind produktionsfähig. Nur die Dümmsten. Nur die Dümmsten haben Erfolg. Weil nur die Dümmsten das Verhängnis nicht erkennen. Es ist eine feste Erfahrung von mir: Je intelligenter einer ist, umso geringer sind seine Chancen. Weil: Nur die Dummen sind bereit, diesen Status, den Kunst heute innehat, zu akzeptieren. Zum Beispiel den Status der Bricolage, des Bastelns. Wie unendlich dumm muß man sein, um Bricolage zu akzeptieren.

Es macht wahrscheinlich Spaß beim Machen, oder?

Das mag schon sein. Aber in der Welt geht es um Konstruktion – da können Sie niemals wieder als Künstler damit einverstanden sein, daß Sie in den Status der Bricolage abgedrängt werden, also mit den Abfällen der Gesellschaft zu arbeiten. Genau so, wie ich es vollkommen unakzeptabel finde, daß Kunst andauernd dorthin zieht, wo die Wirklichkeit Plätze verlässt: Zechen, Werkstätten, Hinterhöfe – das sind doch alles Kuhställe!

Die Kunst braucht halt sehr viel Raum.

Das braucht Sie eben nicht! Wenn Kunst die Oberstimme sein will, muß sie endlich wieder anfangen, und sei es die kleinste Zelle, selbst zu kreieren. Und daher denke ich, die Zukunft der Kunst ist das Studiolo. Es ist die kleinstmögliche Zelle, von wo aus ein Künstler sich universal ausdrücken kann. Das eigene Studiolo. Das ist die Möglichkeit, auf kleinstem Raum sein Ideal zu zeigen. Man kann nicht warten, bis die Öffentlichkeit diese Plätze zur Verfügung stellt; das kann sie gar nicht, weil sie es nicht denken kann. Das kann man auch gar nicht verlangen. Deswegen sind alle, alle Museen mißraten! Weil Museen automatisch von einem verfallenden Kunstbegriff ausgehen. Wenn Sie überlegen, wie lange es dauert, ein Museum zu planen und bis es sich dann realisiert hat, das ist ungefähr so, als wenn ein Jumbo gestartet ist und man beginnt erst dann, ihm eine Landebahn zu bauen. So schauen diese ganzen Museen heute aus: Unbrauchbar. Von einer Ideenfracht, die vollkommen überholt wirkt – im Äußeren schon! Man wundert sich ja immer wieder, daß immernoch postmoderne Museen „landen”. Weil sie nicht fassen können, wie einfach, wie naheliegend ein Museum sein kann.

Was die Menschen weiterhin zur Kunst ziehen wird, ist etwas wie Bilbao; wo es zusätzlich zur ausgestellten Kunst noch das Superlativ eines glänzenden Museumsbaus zu sehen geben wird.

Ich sage Ihnen, daß die Menschen nicht kommen sollen. Das ist eben auch der Irrtum: Daß man immer denkt, daß Kunst diese Art von Betrachtung braucht. Das ist doch eine Verrücktheit. Ich muß doch auch sonst einsehen können, daß ich in dieser Welt von ganz vielem ausgeschlossen bin, weil ich es nicht verstehen würde. Es hat keinen Sinn, daß ich die Motorhaube eines Mercedes hebe und mich auch nur irgendwie damit befasse. Es hat keinen Sinn! Sondern ich vertraue mich jemandem an, der sein Metier beherrscht und der das in Ordnung bringt. Und mir kommt es nicht auf die Hierarchie unter den Menschen an. Ich bin nicht der Meinung, daß Kunst innerhalb der Hierachie menschlicher Arbeit an erster Stelle stehen muß. Sondern jeder, der vollendet und ideal seine Sachen macht, ist Apostel für mich. Und so denke ich auch, daß eigentlich die Leute mich nicht verstehen müssen, sie können mir vertrauen. Sie brauchen sich nicht vor meinen Sachen abquälen. Das ist doch ein vollkommener Irrsinn heute in den Museen, wenn ich diese armen Menschen sehe, die sich vor den Gegenständen dort plagen und ein ungemeintes Bild zur Kenntnis nehmen. Dieses zumal in einer Zeit, in der alles kunstwürdig sein kann. Ich habe in Louisiana ein Erlebnis gehabt: Da war die Honigpumpe von Beuys ausgestellt. Ich habe die Honigpumpe in Kassel gesehen, wie sie aussah. Und plötzlich liegt dort die Honigpumpe – irgendwie­­ – in langen Fragmenten ausgebreitet. Und jetzt ist es so: Unsere Freunde der Kunst sind so gutwillig konditioniert, und machen sich Gedanken um Gedanken – vollkommen umsonst. Sie sehen einen Schmarrn, einen Unsinn. Es hat keinen Sinn, sich mit der Ausstattung, die ein Amateur zur Verfügung hat, mit Kunst zu befassen. Es hat keinen Sinn, wenn ich chemische Formeln anschaue und sage: Kalligraphisch sind sie in Ordnung. Es hat keinen Sinn, wenn ich der Formel geschmacklich verfalle. Die Welt enthüllt sich nicht mehr bei Augenschein. Und das sehen sie bei Cezanne. Wer ist denn bereit, zu erkennen, wo die Skrupel von Cezanne liegen; warum die weißen Flecken? Was der Mann überhaupt anstrebte, worunter er litt. Heute ist die Hauptbetrachtung das Feststellen des mimetischen Personals: Badende – die werden auch noch gezählt nach männlich, weiblich – das interessiert doch in Wirklichkeit niemanden!

Hat der Künstler eine mediale Aufgabe? Ist er der Vermittler zwischen seinem Werk und dem Publikum?

Wenn er kein Fälscher, kein Betrüger, kein Uri Geller ist. Dann sind wir bei einer neuen Dimension von Kunst. Bei Ethos. Und diese Frage wird sich in Zukunft ganz dringend stellen: Wie man in dieser Gesellschaft miteinander ethisch umgehen kann – wenn Himmel und Hölle leer sind. An dieser Wende stehen wir kollektiv. Wie schützt man sich vor einer Gesellschaft, in der das Gesetz herrscht: Nimm was du kriegen kannst! Das darf man ja nicht vergessen: Bei allen Exzessen, die die Welt hatte – die ganze Ökonomie wurde durch Mythos enorm eingedämmt. Enorm! Irgendwo schwebt in der westlichen Welt noch die Bergpredigt herum. Als Urbild. Und plötzlich – dieser größte Tabubruch ist wahrscheinlich im Nationalsozialismus passiert – konnte eine Gestalt wie Göring kurz vor seiner Hinrichtung sagen: „Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt”. Das konnte vorher noch kein Übeltäter sagen. Noch nie! Aber Göring konnte das mit großer Sicherheit sagen. Zum Glück ist dieser Satz relativ unbekannt geblieben. Es ist der ungeheuerste Satz des Dritten Reiches. Wenn ich mir die Verhältnisse in dieser Welt anschaue, die zeugen von einer Haltung, die macht einen wirklich fertig. Für uns bleibt die Frage: Wie bekommt man ethische Dimension hin mit einem leeren Himmel? Ich habe vor kurzem einen Vortrag darüber geschrieben. Da hatte ich bei der Vermittlung dieser Frage ein Problem: Kein Mensch hat mich verstanden. Um so etwas zu verstehen, fehlt die simpelste Zurüstung. Wir reden vom Ethos – gehen sie bloß nicht davon aus, daß dieser Begriff überhaupt verstanden wird. Wir reden von Mitleid, wir reden von ganz simplen Sachen. Ich sage ihnen eins: Wir unterschätzen die unmittelbare Blödheit der Menschen. Vor kurzem war eine Zahl publiziert worden: achtzig oder mehr Prozent der Deutschen verstehen die Tagesschau nicht mehr. So etwas geht ganz schnell. Das ist auch zum Beispiel ein Punkt bei meinen Studenten: Ab und zu bringe ich einen Artikel aus der FAZ oder der Süddeutschen mit einer guten Überlegung mit. Da ist nie einer darunter, der mir sagt: „Packen Sie den Scheiß ein, die Zeitung schaue ich mir schon noch selbst an” - für die ist es immer eine frohe Botschaft. Was ich auch mitbringe.

Das Niveau wird doch demzufolge immer weiter heruntergeschraubt.

Es gibt kaum einen Künstler, den ich so verehre wie Ad Reinhardt. In seinen Texten. Ich denke, man kann keine Überlegungen zur Kunst haben, wenn man diese Texte nicht kennt. Da nehme ich dieses Buch von Silke Schreiber, 1982 verlegt bei einer Auflage von 1200 Stück. Verkauft haben sich mittlerweile 300. Sie können das Buch heute noch in einer beliebigen Anzahl kaufen. Ich würde denken, damit man überhaupt in Deutschland sich irgendwie unterhalten kann über Kunst, müßte das Buch eine Auflage von dreißig, vierzigtausend Exemplaren haben. Denn das ist ungefähr die Zahl von Menschen, die von 1982 an die Akademien durchschritten hat. Der interessierte Kreis. Davon ist nichts da. Zwölfhundert – stellen Sie sich das einmal vor! Wahrheit ist, daß die Dinge heute eine Verbreitung haben, von vierhundert Stück. Als Michael Krüger im Hanser Verlag die sehr gute Duchamp-Biographie verlegt hatte – ich meine Hanser Verlag! – fünfhundert Stück! Fünfhundert. Jetzt muß ich wiederum sagen: In Deutschland leben wir, was das betrifft, in einem Paradies. Deutschland ist die einzige westliche Nation, innerhalb derer Potentiale eingebaut sind, Bücher, so sie verfügbar sind, mit denen man wenigstens etwas bewegen könnte. Theoretisch. Leben Sie in den romanischen Ländern, ist die Blödheit grenzenlos. Die Deutschen haben den Vorteil, daß sie ein Pensum zu sich nehmen könnten, das von ihrer eigenen Geschichte absieht, weil es keinen Grund mehr gab, auf die Deutsche  Geschichte stolz zu sein. Aber zum Beispiel kann sich ein Italiener oder Franzose nicht vorstellen, daß es eine amerikanische Lektion apodiktisch zu lernen gibt. Die ist hier auch nicht als Möglichkeit eingelagert. Sie können hier nicht in die beste Buchandlung gehen und Ad Reinhardt, Barnett Newman, Donald Judd kaufen. Sie können gar nichts kaufen. Und übersetzt schon gar nichts. Das ist in Deutschland ein unglaublicher Wert, dieses deutsche Verlagswesen. Eine deutsche Buchhandlung -  auch wenn das nicht wahrgenommen wird-  aber als theoretisches Potential: Enorm! Denn in den Sternstunden haben die Deutschen dennoch die Möglichkeit, dieses Potential zu aktivieren, es abzurufen. In anderen Ländern ist das hoffnungslos. Wenn sich irgendwo einmal etwas bewegt, dann wird es sich in Deutschland bewegen. Das merkt man erst hier, in welcher unendlicher Blödheit sich die Leute hier bewegen. Hier in Prato war eine Ausstellung von Gerhard Richter. Richter hin oder her, wir brauchen nicht über ihn zu reden, aber wir verstehen schon, daß seine Kunst eine konzeptionelle Tat ist. Meinen sie, daß hier in Italien jemand so etwas denken kann? Die denken, wenn sie die Bilder von Richter sehen, das sei ein Ausdruck einer Lebensgestimmtheit, heißt „Heute geht es mir gut, dann male ich bunt”; „Heute geht es mir schlecht, dann male ich grau”. Wir wissen ganz genau, daß es fragwürdig ist, eine Caprilandschaft zu malen und daß es einen konzeptuellen Trick bedeutet, wenn Richter das macht… Hier geht es immer 1:1. Wenn jemand diese Caprilandschaft anschaut, gefällt die ihm. Und er kann das Schillernde, das darin liegt, nicht erkennen; daß es eigentlich eine verdorbene Frucht ist. Das können die hier nicht.

Um noch einmal auf Berlin zurückzukommen: Diese unglaublich gefüllte Ausstellung wird doch im Hindurchflanieren genau so rezipiert: gefällt mir, gefällt mir nicht so gut?

Das spielt doch gar keine Rolle. Öffentlich wird das alles scheitern.

Brauchen die Bilder nicht die Aufmerksamkeit?

Nein.

Walter Benjamin schreibt doch im Passagenwerk, daß die Aufmerksamkeit in die Bilder eingeht, sie gleichsam auflädt?

Was Walter Benjamin zur Produktion von Kunst gesagt hat, ist ein Schmarrn. Das ist ein vollkommen überholter Punkt. Und zwar schon einmal, weil die großen Kunstwerke des 20. Jahrhunderts nicht reproduktionsfähig sind. Das wußte Benjamin noch nicht. Wir können keinen Barnett Newman, keinen Ad Reinhardt abbilden. Meine Arbeit – das geht nicht. Sondern: Wenn wir abbilden lassen, dann sind das Erinnerungsstützen. Aber doch nicht, wie Benjamin meint, eine Realität an sich. Das sind die Abbildungen eben nicht! Das Bild wird zu einer Schrift, zu einer Notiz. Das sind sie dann. Eine Begleiterscheinung zum Text. Und es ist vollkommen Wurscht, ob das stimmt oder nicht, wie es dann ausssieht. Weil es so und so eine Realität für sich ist. Und funktioniert nur als Gedankenstütze. Da ist Benjamin obsolet geworden. Von Kunst hat er keine Ahnung gehabt. Das hat doch keinen Sinn, wenn Yves Klein sich bemüht, daß seine Bilder extrem matt erscheinen - ja und: Wenn sie gedruckt sind? Dann ist dieser Hauptaspekt seiner Bilder weg! Oder das überwältigende Format von diesem oder jenem Künstler: wenn es auf eine Abbildung eingedampft wurde… so geht das nicht! Gerade bei der Moderne ist das Original entscheidend. Das hat sich alles genau umgekehrt. Benjamins Theorie gilt nur für für die Frühmodernen, die er noch kannte. Die noch sehr im 19. Jahrhundert gestimmt waren. Die europäische Kunst – mehr kannte er nicht. Bei Benjamin steht ja auch der Surrealismus als letzter Höhepunkt des europäischen Geisteslebens. Aber der Surrealismus war ein Dreck.

Also braucht das Kunstwerk keinen Betrachter?

Doch! Den Einzelnen. Aber nicht die Masse! Denn heute stellt die Masse etwas Fürchterliches an mit der Kunst. Angst des Künstlers vor der Masse! Früher hat die Masse gegen die Kunst protestiert. Autodafés veranstaltet. Heute hat die Masse etwas Tückischeres auf Lager: Das ist die Affirmation. Die Kunst geht den Weg über die Verdauungsapparate und es wird ein dicker Brocken ausgeschieden. Und je erfolgreicher ein Künstler ist, desto schneller fällt er den Verdauungsapparaten anheim und wird ausgeschieden. Darum habe ich nie Konkurrenzneid. Ich weiß ganz genau, wenn ein Künstler an einem bestimmten Punkt angelangt ist, dann werden ihn die Verdauungswerkzeuge ergreifen und zurück bleibt nur der Brocken, der einen langen Schlaf der Erholung braucht, bis er wieder fruchtbarer Boden wird. Es ist das Allerschlimmste, was heute einem Künstler passieren kann: der Welterfolg. Dann ist es aus!

Kann man sich im Schaffensprozeß gegen die Konsumierbarkeit immunisieren?

Absolut! Marcel Duchamp sagt: „Ab heute entsteht Kunst nur noch im Untergrund”. Jetzt nicht underground! Untergrund, wie Duchamp ihn in jenen Tagen wahrgenommen hatte. Mit Untergrund meinte er: das Studiolo. Abgeschiedenheit. Ich habe die Aufgabe, meine Studenten zu schützen. Ich rede ihnen jede Ausstellung aus. Jede! Daß sie bloß nicht ausstellen. Sie machen es halt trotzdem. Weil sich inzwischen etwas verändert hat. Nehmen sie den Fall Duchamp: Als der in Paris als mittelmäßiger Maler erkannt wurde, konnte er nach München gehen. Ein ganz neues Leben. Als er dort in Schwierigkeiten gekommen war, konnte er nach Berlin. Samuel Beckett konnte von Dublin nach Paris. Ich sage ihnen eins: Heute können sie ihren Chip nur noch einmal setzen. Wenn sie mit 24 den Welterfolg bekommen, dann sind sie ein toter Mann. Wenn sie niemanden finden werden, der sie ein Leben lang begleiten wird. Sondern nur so lange, wie sie als one trick pony ihre Milch hergeben werden. Dann ist es aus. Von den Jungen merkt man sich die Namen schon gar nicht mehr. Das hat so ökonomische Gründe, denn man weiß es inzwischen: „Es lohnt sich nicht. Wir sehen uns ja doch nie wieder.”

Kommt die Lust am Betrachten junger Kunst von der Lust an der Gewißheit, daß dies alles bald wieder verschwunden sein wird?

Nein, es ist ein noch gedankenloserer Leichtsinn. Man kann einem jeden nur raten, sich selbst zu schützen. Denn das Wesen der Hitparade ist es, daß der, der an der Spitze steht, weg muß. Dort sind Sie verloren. Das meine ich mit: nie in diesem Metier tätig werden. Man muß eine andere Struktur finden, wenn man über das 25. Lebensjahr hinaus Künstler sein will. Denken Sie daran: Sie haben nur den einen Chip, um zu setzen.

Das ist in etwa die Argumentation für eine Subventionierung der Kunst.

Bei solchen Dingen kann ich überhaupt nicht mitreden. Ich habe nie Subventionen beansprucht, ich weiß nichts von jener Welt.

Wovon soll der Künstler leben?

Er soll arbeiten gehen.

Irgendeine Brotarbeit?

Was weiß ich! Ich habe das auch gemacht. Entweder kümmert er sich, daß er zu einem Vermögen kommt, er wird von Freunden gestützt, Fürsprecher, er muß schauen, daß er möglichst bescheiden lebt, die Nullinie anstreben… Das darf man nämlich nie vergessen: Wenn Sie das 19. Jahrhundert nehmen, bedingt auch das 20. Jahrhundert in seinen Zwanziger, Dreißiger Jahren: Es war ja kein Risiko, Künstler zu werden. Wenn Sie sich an den unteren Einkommensschichten der Bevölkerung orientierten: ob Sie den ganzen Tag, sechzehn Stunden, in den Gipsbrüchen am Montmartre gearbeitet haben und abends zu zwanzigst in einem Zimmer lebten, TBC hatten und die Wassersuppe aßen – oder Künstler wurden: Das hob sich auf. Der Unterschied war nur, daß Sie von der eigentlichen Arbeit getötet wurden. Man darf ja nicht vergessen, daß die Arbeit nichts brachte. Wenn der Künstler damals seine Chancen mit denen dieser Schichten verglichen hat, mußte er sehen, daß es kein materielles Risiko gab, um Künstler zu werden.

Aber dort sind wir beinahe wieder angelangt! In Deutschland lebt die Masse doch inzwischen so, daß die erreichte Nullinie bereits das Vermögen bedeutete; die meisten leben im Minus.

Das ist es ja: das Minus! Bald aber wird der Punkt kommen, an dem abgerechnet werden wird. Wo diese Rechnung nicht mehr aufgehen wird „Erlebe jetzt und zahle später” - das war doch die Parole der Achtziger und Neunziger Jahre. Das geht jetzt nicht mehr. Mit ist das, ehrlicherweise, schon lange klar. Es ist mir noch klarer geworden, durch mein Leben hier. Es schaut jetzt vielleicht nicht so aus, das Haus oder so, aber wir leben bescheiden. Das merke ich erst in dem Maß, wenn ich in Berlin bin, in diesem Kontext, in dem ich mich halt, durch meine Arbeit bedingt, aufhalte: Wenn diese Leute herumziehen, was die für ein Tempo vorgeben! Plötzlich erschrecke ich fast kleinbürgerlich davor, wenn ich sehe, was die dort treiben. Ich komme mir absurd vor. Solche Gedanken hatte ich früher gar nicht. Ich komme mir vor wie verrückt. Ich merke, die sind delirious. Die haben kein Gefühl mehr für Ökonomie, für Werte. Und gleichzeitig ihr unglaubliches Klagen!

Woher rührt diese Anspruchshaltung?

Ich habe als junger Mensch in München viele Künstler kennengelernt, führende Tachisten. Zum Beispiel Gerhart Baumgärtl – die kennen Sie alle nicht mehr. Noble Männer, die Wände tünchen mußten. Und die natürlich von ihrer Arbeit nicht leben konnten. Das war selbstverständlich. Der Tachist Baumgärtl lebte mit seiner Frau in einem ganz kargen Haus. Die haben ganz arm gelebt. Und er war vollkommen vom Wert seiner Arbeit überzeugt. Er hatte eine Holzhütte, da waren tausende seiner Bilder aufbewahrt. Sylvester stand er mit einem Gartenschlauch neben der Hütte, weil er Angst hatte, da könnte sich eine Rakte hineinverirren. Großartig! Und dann kam Minimal auf, Carl André, und Baumgärtl war da vielleicht 60 Jahre alt. Und ich war jung. Er rief mich an und sagte, er wollte mich unbedingt treffen, er müßte mir etwas geben. Der hatte damals etwas verrücktes gemacht: Er hatte ein Buch gegen Carl André geschrieben, im Selbstverlag und das hatte dreißigtausend Mark gekostet. Diesen Irrsinn! Das können Sie sich heute nicht vorstellen: Daß ein Mann von dieser Ausstattung – ein intelligenter Mann, der anderen die Wohnung als Weißbinder streichen mußte – auf eigene Kosten meinte, er könnte auch nur irgendwie Wirkung bekommen; da war der beseelt davon, stellen Sie sich das einmal vor! Der hatte keine Ahnung davon, wer Castelli war. Das ist übrigens etwas, was wir jungen Deutschen Künstler damals ebenso erfahren mussten : Die Wilde Malerei wurde ja hierzulande als eine Sache von Innen nach Außen, zu einem Aufbruch verklärt. Die Wahrheit ist eine ganz andere. Wissen Sie, warum die Wilde Malerei entstanden ist?

Nein.

Das ist heute niemandem mehr klar! Das war ja meine Generation. Und plötzlich fanden wir uns vor eine Professionalität der Amerikaner gestellt: Ein Stella-Relief, eine Judd-Kiste, Land-Art. Ein Siebdruck von Warhol maß vier auf vier Meter! Wir mußten sehen: Mit unserer Methode – Kunst auf eigene Kosten, Bricolage – ist endgültig Schluß! Wenn man als deutscher Künstler vor einem großen Stella-Relief stand, das ungefähre Produktionskosten hatte von hunderttausend Mark … Es hat keinen Sinn,  so zu tun, als daß ein Lumpenbild von Walter Dahm daneben die gleiche Wirkung tun könnte. Es ist hier den deutschen Künstlern nichts anderes übrig geblieben, als diese Verzweiflungstat der Wilden Malerei: Sich ein Bettuch zu greifen, es zu bemalen und somit aus dem Wettrennen professioneller Kunst auszuscheiden. Bis heute ist diese Unterbietungsstrategie erhalten geblieben. Darunter leidet der deutsche Film, die deutsche Literatur. Daher kommt das Überschätzen der Innerlichkeit. Ein amerikanischer Autor verlangt zwei Millionen Dollar Vorschuß. Fertig! Und diskutiert nicht um eine Auflage von fünfhundert Stück. So betrachetet ist das ganze Europa eine einzige Elendsveranstaltung! In der Kunst: Es gibt keine Galerie, mit der ein Künstler wie ich zusammenarbeiten könnte. Eine deutsche Galerie kann sich das nicht leisten.

Haben sie keinen Galeristen?

Ich hatte immer welche. Ich hatte die größten, aber die gibt es heute nicht mehr. Und die es heute noch gibt, die haben nicht das Geld, um mit mir arbeiten zu können. Die wollen nur ihre Provision von meinem Verdienst. Mir bringt das aber gar nichts, denn die können sich weder den Raum leisten, den ich brauche, noch die Produktion. Weder den Transport, noch sonstwas. Die Galerien sind auch nicht fähig, einen Künstler zu begleiten, etwas zu entwickeln. Ich sage das jedem Galeristen: „Du wirst nie wieder zu einem jungen Mann ins Atelier gehen und 40 Sachen finden für den Kunstmarkt. Du wirst aber einen intelligenten Menschen finden, der wird dir etwas erzählen, und dann müßt ihr das entwickeln.” Die nächsten fünf oder zehn Jahre kann dann nicht die Rede davon sein, daß man etwas verkaufen kann. Sondern die Entwicklung ist es. Aber das kapieren die nicht. Und wir sind so abgebrannt, wir haben nichts mehr auf Halde. Es muß alles neu entwickelt werden. Das kapieren die nicht. Entwickeln heißt: Da muß Geld mitgebracht werden. Nichts sofort verkaufen! Daher der scheinbare run auf junge Kunst: Weil die Gesellschaft so arm ist und bei junger Kunst scheinbar jeder mit vier-, fünftausend Mark etwas machen kann. Für vier-, fünftausend Mark gibt es aber keine Kunst.

Leidenschaft hat dabei nichts zu suchen”, haben Sie zu Anfang gesagt. Wenn wir aber vom Gang zur Brotarbeit sprechen, dann wird die Kunst zum Ausdruck einer Leidenschaft, die einen selbst dazu treiben kann.

Das ist schon richtig. Ich war Ausgrabungszeichner, zwölf Jahre lang.

Was macht der?

Zum Beispiel im Schwarzwald, eine Römerstraße, die ist 400 Meter breit, fünf Meter lang, da liegt Stein neben Stein und die zeichnen Sie im Maßstab 1:50. Und wenn Sie ein fünf Meter langes Blatt haben und jeden Stein an drei Punkten gemessen haben, dann ist der Sommer vorbei. Davon habe ich gelebt. Das übt eine unheimliche Selbstkorrektur aus. Weil auf der einen Seite können Sie sagen: „Welch ein Mensch! Steht hier unter der Sonne und muß arbeiten auf diesem Feld der Schande. Wenn ich nur Geld hätte!” Und dann passiert folgendes: Nach fünf Monaten ist die Arbeit zuende und sie haben 6000 Mark verdient. Dann gehen Sie Material kaufen. Sie spannen sich zehn Leinwände auf, dann ist das reinliche Material im Atelier „Welch ein Mensch!” - und mit dem ersten Schlag haben sie das Material versaut! Das ist als ob sie den Stöpsel aus der Luftmatratze ziehen. Die Sie mühsam aufgepumpt haben. Nach zwei Tagen haben sie alles versaut, nichts ist zu etwas geworden, es waren alles Flausen im Kopf – es ist weg. „Welch ein Mensch” und Sie nähern sich wieder dem Feld der Schande. Wo Sie wieder anfangen zu schaufeln, die Schubkarre zu fahren. Das korrigiert Sie enorm.

Überlegt man sich dann genauer, wie der erste Schlag auf die Leinwand plaziert werden müsste?

Das hilft aber nichts! Sie versauen es immer wieder. Bloß dieses Überschiessende, dieses Moment „Wenn ich nur Geld hätte” - man merkt, daran hängt es auch nicht nur. Es ist ein Mischhaushalt, es bleibt schwierig. Aber damals war es selbstverständlich. So hatte es einem der Vater auch vorausgesagt, daß es so kommen würde, und man war ganz überrascht, daß man mit 25 tatsächlich eine Schaufel in der Hand hatte, für Hungerlöhne gearbeitet hatte. Aber: Ich habe dort viele wilde Typen kennengelernt, es wäre nie einer auf die Idee gekommen, auf das Sozialamt zu gehen. Weil der Staat ein natürlicher Feind war. Von denen wollte man im Guten wie im Schlechten nichts. Und heute? Es gibt in Düsseldorf an der Akademie den sogenannten Akademiebrief. Für mich ist der vollkommen unsinnig.

Was ist das?

Es ist eine Abschlußarbeit für das Kunststudium, da liefern die Kunststudenten einen Plazebo ab und drei Professoren stehen dabei und beurteilen das und dafür erhält der Student seinen Alademiebrief. Mit diesem Brief erhält man das Recht auf verschiedene Ansprüche. Das wußte ich nicht. Bis ich einen Studenten gefragt habe, warum er dabei mitmachte. Denn nach meiner Erfahrung ist ein solches Diplom wertlos. Und dann hat der mir gesagt „Das mache ich für meine Rente”. Das hat mich so bestürzt, das kann ich gar nicht sagen, wie.

Warum sollten die denn sonst auf die Universität gehen?

Ja, wissen Sie, das wußte ich nicht. Da komme ich aus einer anderen Welt. Daß die dann direkt auf das Arbeitsamt gehen würden, um Geld zu holen, jetzt schon – das sind Überlegungen… Können sie sich vorstellen, daß ein Mann wie Picasso oder Giacometti auf dem Sozialamt erschienen wäre, um sich 400 Mark abzuholen? Man kann sich schon nicht mehr vorstellen, daß Giacometti Professor geworden wäre. Schon das ist eine gewisse Schande. Also da sieht man, welch mangelnder Lebensmut hinter all diesen Dingen steht. Das ist die Dekadenz dieser Gesellschaft. Die ist bodenlos. Ich bin es wirklich leid! Schon Ad Reinhardt hat zynisch gefragt: „Warum muß ein Künstler überhaupt essen?” Warum warum warum? Diese Existenzfrage ist blöd. Das war immer ein Problem. Künstler ist eben dadurch immer ein sehr männlicher Beruf gewesen. Weil man bestimmte Überlebensfähigkeiten braucht. Während Kunst heute durch dieses Humangedusel und die falschen Versprechungen für die schwächlicheren Ausprägungen des Menschen interessant geworden ist. Früher hat man eben eine bestimmte Kraft gebraucht, um Ezra Pound zu sein. Auch für das sich ins Unrecht setzen – in jeder Hinsicht. Da gehen wir heute auch so feige damit um! Als wären wir alle geborene Widerstandskämpfer. Wir verlieren unsere Zeit, indem wir in der Vergangenheit nach Moral schnüffeln. Ob jemand irgendwo einen braunen Punkt hat: das können wir doch gar nicht beurteilen, ist doch alles lächerlich! Wir wissen doch nicht, was es bedeutet, so wie unsere Altvorderen in die Welt gestellt zu sein. Das würden wir doch nicht aushalten. Wenn man sich diese kärglichen Zustände anschaut - selbst die der Erfolgskünstler der frühen Moderne – das können wir uns nicht vorstellen! Fernand Léger konnte in den Fünfziger Jahren nicht von seiner Arbeit leben. Wir setzen voraus, mit 26 Jahren aus der Akademie zu kommen und dann: Galerist, Dokumenta und auf geht’s!

Heute geht es aber auf allen Feldern bloß noch darum, irgendwie abzuschöpfen um durchzukommen.

Das weiß ich. Wir müssen einen ganz anderen Menschentypus denken, der zum Trotz, ohne Belohnung, ethisch handelt. Zum Trotz. Als Vorbild. Da ist die große Chance für die Kunst. Für die Kunst stehen ja jetzt nur die verwahrlosesten Typen ein. Aber das könnte schon sein, daß durch ein Vorleben dieses anderen Menschentypus, Kunst eine neue Sprengkraft bekommt. Und zwar im Bereich der Ethik. Noch ist diese Künstlertyp nicht verbreitet, es sind Einzelne, aber darin läge eine Aufgabe. Es dauert halt alles.

Oft überlebt es den Künstler.

Ja! Das ist halt so. Wenn Sie wirklich etwas entwickeln, etwas machen – ich habe das Gefühl, ich kann gerade erst anfangen. So langsam. Jetzt habe ich alles beieinander, so langsam. Und das meine ich wirklich nicht kokett. Die anderen Künstler verlieren eben wahnsinnig viel Zeit. Auch durch ihre Gier. Die können sich nicht vorstellen, daß sie bereits tot sind. Diese wahnsinnige Feigheit! Die erscheint schon überall an ihnen. Plötzlich werden sie sich umschauen und alleine sein.

Fordert die Rezeptionskultur diese unbedingte Fortentwicklung?

Nein, es gibt überhaupt keine Rezeptionskultur. Kunst lebt in diesem Widerspruch, daß man auf der einen Seite so viel wissen muß, wie in keinem anderen Metier. Und gleichzeitig erscheint kein anderes Metier dümmer als die Bildende Kunst. Und zieht die dümmsten Menschen an. Das ist eine Tragödie. Aber das wird sich ändern. Gerade funktioniert eben alles nach der Ökonomie, aber wenn die Belohnungen ausfallen, ziehen die sich alle wieder zurück.

War denn die Idee von Joseph Beuys nicht gut, eine Akademie ohne Aufnahmeprüfung, ein survival of the fittest“?

Beuys war ein steindummer Mann. Wie diese ganze Generation: steindumm. Böll ist ein steindummer Mann, Günter Grass ist ein steindummer Mann, alle.

Aber wo könnte dann das Regulativ herkommen?

Das wird ganz von selbst gehen. Durch Verödung. Die Gesellschaft wird sich von der Kunst abwenden, in Wirklichkeit tut sie das schon lange. Es ist doch vollkommen menschenunwürdig, wie mit Kunst umgegangen wird! Die Museen sammeln ja nicht. Das Museum für Bildende Kunst gibt es noch nicht. Das meint man nur, daß es Museen für Bildende Kunst gibt. In Wirklichkeit sind es Völkerkundemuseen. Ethnologische Sammlungen. Und so ist auch diese Ausstelluung „Berlin Moskau” im Gropiusbau konzipiert: Keine Ausstellung von Bildender Kunst, sondern eine ethnologische Ausstellung. Die DDR-Ausstellung in der Nationalgalerie war eine ethnologische Ausstellung. Und sie würden diese Ausstellung sofort verstehen, wenn sie tatsächlich im Museum für Ethnologie stattgefunden hätte. Sie hätten kein Problem, die DDR-Kunst zu verstehen: Wenn man Menschen zu lange fett zu essen gibt, dann malen sie eben so. Dann denken sie so. Ich bin tief davon überzeugt, daß es das Museum für Bildende Kunst noch gar nicht gibt. Denn dort würde ein anderes Kriterium herrschen. Im Museum für Bildende Kunst denkt man sich eben nicht in jede Windung des Künstlerhirns hinein. Da fällt die individuelle Anstrengung aus. Da herrscht ein objektiver Wind. Ein kälterer Wind. Da erlischt die Sympathie für die individuelle Anstrengung, ganz egal, was daraus wird. Im Museum für Bildende Kunst geht es formal zu: Stellen Sie sich das einmal vor! Da werden natürlich nicht mehr die Artefakte so gesammelt, daß der eine Künstler dem anderen widerspricht. Kann ja gar nicht sein. Hat tatsächlich niemals so stattgefunden. Heute wird aber von vorneherein so gesammelt, daß ein Widerspruch entsteht. Der Irrsinn wird immer perfekter! Als Künstler müssen Sie ja begreifen, daß sie von dem Augenblick an, wo Sie mit dem Aufbau ihres Werkes im Museum beginnen, innerhalb der Museumsstruktur schon obsolet geworden sind. Denn die befassen sich bereits mit ihrem Gegenteil. Das muß nach der Schließung ihrer Ausstellung dort zur Geltung kommen. Der Museumsdirektor kann abends mit ihnen kein Kotelett essen gehen, weil er gerade an einem Text arbeitet, der Ihre Sache konterkarieren wird. Das muß man erst einmal kapiert haben.

Also geht es um das Spektakel?

Ich weiß nicht, ob es das Spektakel ist. Aber als ich gerade in Bregenz ausgestellt habe, fiel mir auf, daß der Direktor dort einen merkwürdigen Sprachgebrauch hatte. Jeder vierte Satz von ihm war „Das ist mir so lang wie breit” - klar: der sieht die Welt als großes Füllhorn. Museumsdirektoren begreifen jeden einzelnen Künstler als ein Collage-Element. Oder stellen Sie es sich so vor: Früher gab es Schlachtenmaler, die hatten eine Palette, auf denen sie die Töne für ihre Schlachten angerührt hatten. Die Ausstellungsmacher drücken die Köpfe der Künstler auf ihre Palette und malen damit ihre Ausstellungen. Das heißt, für die hat der einzelne Künstler keinen Rang. So wie man als Maler sagt: Das Ocker ist mir so recht wie das Gelb, wenn ich es brauche. Ein Künstler hat keine Lieblingsfarbe! Er benutzt sie alle, um den Klang in die Welt zu setzen. Haben sie etwa einen Lieblingsbuchstaben? Das merken die Künstler nicht, daß sie auf der Dokumenta und auf den Biennalen bloß noch Collageelemente sind.

Es gibt doch die Schwerpunkte, zum Beispiel Videoinstallationen.

Video ist vom Zeitverbrauch her rigider als die klassische Malerei. Ein Museum wie den Prado können Sie im Spurt nehmen. Das Video ist gespeicherte Zeit. Dem müssen Sie sich unterwerfen. Inzwischen sind so viele Videos in die Ausstellungen eingespeist, daß Sie das innerhalb der Öffnungszeiten nicht mehr schaffen können. Allein dieser Irrsinn! Das hat alles nichts mehr mit Bildender Kunst zu tun. Ein Mann wie Barnett Newman – kann man sich denn noch vorstellen, für was er sich einsetzte? Es gab keinen Künstler mit einer so überragenden intellektuellen Ausstattung. Damit ist ein neuer Künstlertyp da: Der des Philosophenkünstlers! Der Philosophenkünstler konnte Begriffe wie erhaben oder sublim für die Kunst aktivieren – das hatten wir in Europa alles gar nicht. Mit Barnett Newman ist ein Künstler von einer Geisteskraft erschienen, wie noch nie zuvor! Bis heute bleibt das übersehen. Und Barnett Newman wird dann in dieser Ausstellung im Gropiusbau mit einem Gursky konfrontiert, der einen Pollock abfotografiert – man muß sich das einmal vorstellen! Mit einem Surrogat vom Surrogat! Welch eine Gemeinheit! Welch eine Infamie! Welch ein Schurkentum! Unvorstellbar unvorstellbar unvorstellbar… aber das kann nur registrieren, wer das weiß. Wer weiß, was hinter diesem Bild „Who is afraid of red yellow and blue?” für extreme geistige Anstrengungen stehen. Wer weiß, welche enormen geistigen Einzugsgebiete dahinter stehen. Welche erhabene Gestalt Barnett Newman war. Und was ihm da angetan wird. Unglaublich. Unglaublich! Das spüre ich körperlich.

Aber anscheinend niemand sonst.

Das ist ja auch das Interessante. Ich bin zusammen mit Bazon Brock durch die Ausstellung gegangen. Wir standen da und dort und er sagte: „Die werden es aber kriegen!” Ich habe alle Kritiken gelesen: Nichts haben sie gekriegt. Außer 10 000 Besucher. Es macht alles nichts. Und zwar deshalb, weil die Sache keinen intellektuellen Fürsprecher mehr hat. Der Ariadne-Faden ist gerissen. Niemand hat das gemerkt. Ohne weiteres ist das nicht mehr zu aktivieren. Es muß gelernt werden. Dabei ist es doch merkwürdig, daß sie noch nicht einmal mehr an der Kunstakademie das Prinzip „Lernen” voraussetzen können. Wenn ich meinen Bub nehme: Was macht man eigentlich mit so einem sechsjährigen Kind? Man hebt ihn um halb sieben aus dem Bett, gibt ihm ein sauberes Brot ins Gesicht, schickt ihn in die Schule und dort muß er Lesen und Schreiben lernen. In einer irrsinnigen Anstrengung. Man korrigiert, lernt, stützt – können sie mir sagen, warum Kunstmachen leichter gehen soll? Ab dem Augenblick, in dem sich die Studenten an der Akademie einschreiben, betrachten sie sich als Künstler. Schon Paul Valéry hat sich gewundert, wie wenig es bedarf, um als Künstler zu gelten - gemessen an der Selbstzucht von Sportlern.

Was wird denn gemacht an der Kunstakademie?

Nichts.

Malen?

Das Hauptproblem besteht eigentlich darin, aufgenommen zu werden. Daraufhin verkehren sich schon die Hierarchien. Damit kommen Sie vielleicht als Eltern an, wenn Sie nicht die Autorität haben. Sie kommen in den Zugzwang, daß Sie möglicherweise eine im Verfall begriffene  Option sein könnten. Das Kunstleben spielt sich unter 26-Jährigen ab. Ich kenne Studenten, die mit 25 das Gefühl haben, zu alt zu sein. Die können in bestimmte Kontexte geraten, in denen sie sich wichtig nehmen dürfen. Das ist so. Welche Kriterien wollen Sie denen noch nennen, wenn die unwahrscheinlichsten Dinge in der Öffentlichkeit Bewunderung finden? Wie wollen sie einem Studenten sagen: „Weißt du was, das wird nichts!” Wenn ihr Urteil außerhalb de Akademie durch den Kunstmarkt konterkariert werden wird. Dieser junge Künstler hängt wahrscheinlich bereits im Museum! Ist wahrscheinlich bereits honoriert! Daher rührt wahrscheinlich bei allen das Gefühl, daß sie das selbst ebenso können. Dies blöde Verdikt von früher „Das könnte mein Sohn auch, oder ein Affe” ist ja auf umgekehrte Weise wahr geworden. Da können sie nur alle Hoffnung auf das Studiolo und auf den aristokratischen Alleingang setzen. Nobel, für sich.

Gehen Sie denn manchmal in die Ateliers junger Künstler und schauen sich deren Arbeiten an?

Es ist ja eher so, daß die Auflehnung der jungen Künstler gegen mich sehr schnell zustandekommt. Weil ich für die ein Vertreter der Macht bin. Das schätzen die natürlich verkehrt ein.

Sehen die in Ihnen eine Pforte zum Erfolg?

Das ist natürlich ganz falsch. Ein Erfolgloser kann sich nicht vorstellen, daß es den Erfolg in Wahrheit nicht gibt. Das ist der Grund, warum alternde Künstler permanent verbittert sind. Warum die immer noch herummaulen und –mosern, anstatt daß sie endlich ihre Lebenschance benutzen: Das Leben war gut zu ihnen, jetzt sollten sie in ihre Selbstvollendung investieren. Und sich nicht in dem kleinlichen Krieg gegen die Welt verzetteln. Die haben alle das Gefühl, daß sie mit der Welt schlecht gefahren sind. Die befinden sich immer noch im Rachefeldzug gegen Menschen, die sich vor 30 Jahren ungerecht gezeigt hatten.

Was soll denn der Erfolg noch anderes sein, als daß man finanziell unabhängig ist, nur noch schaffen kann?

Das hat sich doch ganz merkwürdig entwickelt, aus welchen Schichten heraus die Künstler heute ihre Anerkennung beziehen. Für mich war Politik immer der natürliche Feind. Möchten Sie wirklich der Begleiter des deutschen Bundeskanzlers sein? Wollen Sie, dass der Bundeskanzler zu Ihnen geflogen kommt, um mit Ihnen Karten zu spielen? Wer will denn ein Bundesverdienstkreuz haben? Wer will denn in so einem Hubschrauber mitfliegen? Das ist doch unglaublich! Wer will denn das?

Vielleicht kommt es daher, daß diese Berufe eben zu lange Zeit in dieser Elendsexistenz bestanden. Sodaß man sich nun daran erfreut, wie ein Industrieller geherzt zu werden?

Alberto Giacometti hat 16 Millionen Dollar hinterlassen. Gelebt hatte er wie ein Penner. Da ist doch jetzt ein neuer Künstlertyp da: Wer will nach Bayreuth, wer will nach Salzburg, wer will denn als Künstler ein Teil dieser Gesellschaft sein?

Vielleicht wollen sich die Künstler nur im Bild der Gesellschaft spiegeln?

Aber doch nicht angesichts so einer Gesellschaft!

Wo denn dann?

Vor dem Hund! Wenn der Hund vor einem zärtlich aufschaut, dann ist man doch glücklich! Die Familie, das Nächste, Freunde! Einzelne! Aber doch nicht belohnt von der Gesellschaft! Also für mich wäre das die Hölle. Damit würde man mir – persönlich – etwas antun.

Diese Idee eines neuen Künstlertypus besteht aus der Idee vom Künstler, frei nach Toulouse-Lautrec…

Das hat doch nichts mit Toulouse-Lautrec zu tun, sondern - wissen Sie, was es ist: Die Kunst bietet allen die Möglichkeit, ihre Herkunft auszutricksen; den Fluch der Geburt. Die Biographie zu fälschen. Wie Gottfried Benn sagt: Die Abstammungsseufzer zu ändern. Dadurch simulieren Sie, was Sie nicht sind. Dandys! Wenn ich in Düsseldorf bloß sehe, wie die Welt der Anzüge dort ausschaut… Ich gehe dort im normalen Straßenanzug mit meiner Krawatte herum, mit einer normalen Brille. Wenn Sie die Sehgeräte, die Monokel, wenn Sie diese Schuhe sehen, Gamaschen! Schmuck! Es ist doch alles eine einzige Plage. Für Sie selbst ist es eine Plage! Permanent das Besondere und auf Ihre Bedeutung Hinweisende… mittlerweile ist es mitleiderregend.

Aber das ist doch ein Bild des Künstlers, dessen Werk eigentlich er selbst ist.

Es ist ein anderes Metier dieses Metier hat ausgedient. Stellen Sie sich den neuen Künstler als ganz normalen Citoyen, als aufgeklärten Bürger vor. Der seinen Abstand hält, der ein vernunftbegabtes Wesen ist und der sich in seinem Studiolo zurückzieht. Der eine erlesene Bibliothek hat. Und er arbeitet. Der ist nicht daran interessiert, Tatsachen zu verbiegen, um aus den verbogenen Tatsachen Gewinn zu schlagen… Vielleicht war das das Wesen der Kunst bisher: Tatsachen zu verbiegen. Denn langsam muß man sich fragen: Wo kommt eigentlich das Prinzip Deformation in der Kunst her? Warum muß eigentlich deformiert werden? Warum das Krude, das Absonderliche, das Schiefe? Warum spielt der Bereich der secrete sickness so eine große Rolle?

Man braucht die Freakshow, um sich noch erhaben fühlen zu dürfen.

Ja, was ist das denn! Wer will denn so sein?

Wir haben eine voll entwickelte Stuntmankultur: Vom Künstler verlangt man, daß er etwas durchlebt, was mir selbst unmöglich erscheint…

Schauen Sie doch ins Fernsehen: Da sind Sie überrascht, wie alles unter die Niederungen der Menschheit gefallen ist.

Aber so kann der Einzelne, wie mit einem Taucheranzug angetan, hinuntersteigen.

Ja, aber das ist doch vollkommener Irrsinn! Die Künstler, die ich kenne, die ich schätze, die führen heute die bürgerlichsten Existenzen. Frei von Ausschweifungen. Ich interessiere mich im Augenblick für chinesische Malerei. Im Katalogtext einer Ausstellung in Berlin fand ich folgenden Vorschlag, wie wäre es damit: „Die Person des Künstlers: Das Herausgehobensein des Künstlers aus der Sphäre des banalen Alltags spiegelt sich in der besonderen Eigenart des traditionellen chinesischen Künstlers. Wer eine kreative Tätigkeit als Beruf ausübt, darf sich eigentlich nicht Künstler nennen. Er ist Handwerker oder Malereiarbeiter. Und wurde in eine niedrige sozial Schicht eingestuft. Der wirklich Künstler hat es nicht nötig, für seine Werke Entlöhnung zu erwarten. Er ist ein Mann des Adels und betreibt die Künste zu seinem Vergnügen wie Prinz Xing Dong, der spätere Kaiser der Liang-Dynastie, 552 nach Christus. Der sich in Mußestunden des Freiseins von amtlichen Anhörungen, von Verwaltungsaufgaben oder literarischen Diskussionen der Malerei widmete […] Seit alten Zeiten waren die guten Maler Männer mit Roben und Amtskappen und solche von adliger Abstammung und hohen offiziellen Rängen oder aber außergewöhnliche Gelehrte und hochgesinnte Persönlichkeiten. Diese erregten dann das Staunen ihrer ganzen Ära und überlieferten ihre Aura für 1000 Jahre. Dies ist jedoch etwas, was ein bescheidener Bauer aus dem Dorf niemals bewirken kann. Solche Männer reagierten dann auch empfindlich darauf, wenn man ihre Fähigkeiten zu mißbrauchen suchte und durch Auftragsarbeiten einen Gesichtsverlust heraufbeschwor. Exemplarisch hierfür ist die mehrfach zitierte Geschichte, wie im Siebten Jahrhundert der für Adelstitel zuständige Großsekretär im Staatsbüro namens Yan Li Ben, der wegen seiner Malkunst berühmt war, vom Kaiser zu einer Audienz herbeizitiert wurde, um seltene  Wasservögel auf einem Teich zu skizzieren. Wobei man ihn als Malermeister ansprach. Yan war tief verletzt und warnte seinen Sohn vor der außerkünstlerischen Tätigkeit.” Das ist doch was. Dazu brauchen sie nur noch das „Lob der Naturtreue”, eines der ältesten Malerbücher, das habe ich schon als 20-Jähriger gelesen. Dann haben Sie die modernsten Anweisungen zur Kunst. Im klassischen „Buch der Zither” heißt es: „Alle, die das Zitherspiel studieren, müssen gebildete Gelehrte sein und sie müssen sich gut auf das Rezitieren von Dichtung verstehen. Ihre Erscheinung sollte rein und außergewöhnlich sein. Und altehrwürdige Originalität suggerieren. Auf keinen Fall dürfen sie grob oder vulgär sein. Ihre Worte seien wahr und zuverlässig. Und sie sollten nicht nach oberflächiger Schönheit streben. Oder nach einer dünnen Tünche von Kultiviertheit. In der Theorie war es Schauspielern, Kurtisanen oder Singmädchen, die den untersten sozialen Schichten angehören, sogar verboten, das Instrument zu berühren.” Und jetzt kommt etwas Interessantes: In der europäischen Kunst befasst man sich ja immer mit dem Ringen. Ringen um Ausdruck. Das gibt es in China überhaupt nicht. Wer noch ringt, der kann nichts. Kunst macht man erst, wenn man nicht mehr ringt. Und dann ist es ein Vergnügen! Man muß die Sache, das Metier so beherrschen, daß das Machen nicht tragisch ist. Und das ist ja bei uns erst durch das Klischee von Koch entstanden, daß das Ringen so wichtig wäre. Das Ringen mit dem Material. Dieses Niedermalen. Während hier in der chinesischen Kunst etwas ganz anderes gemeint ist. Das meine ich mit Vollenden. Wenn ich so eine Arbeit mache, wie im Gropiusbau, ringe ich nicht. Das wäre philosophischer Kitsch. Ich könnte zwar das Ringen so vermitteln, daß es zu einem Aspekt würde und damit könnte ich die Leere hüllen. Aber ich ringe nicht. Ich ringe nicht, wenn ich ein Linienbild mache. Ich ringe nicht, wenn ich ein Glasbild mache. Ich ringe nicht, wenn ich ein Lackbild male. Wenn ich eine Monochromie mache, ringe ich nicht. Dieses Ringen ist eine Obszönität.

Es entspricht vor allem einer Forderung des Zuschauers: Was er zu sehen kriegt für sein Geld.

Der, der gelernt hat – der Vorbereitete –, braucht keine Vision. Dieses mühevolle Spiel auf dem Instrument können und dann spielen – da reden wir längst nicht mehr vom Training. Aber man weiß um die Mühen. Daher faßt mir hier keiner meine Pinsel an. Dieser asiatische Begriff von Kunst hat in den Fünfziger Jahren in New York unglaublich Fuß gefasst. Während bei uns die billige kitschige Abart des Japanischen Fuß gefasst hat - Zen-Buddhismus, Kunst des Bogenschießens, Lotussitzens, Teekochens, Töpferns, Sushi und so weiter. Ad Reinhardt hatte es als Erster ganz anders gemacht: Große Kunst muß eine Formel sein. Das ist klassizistische Kunst. Eine Formel. Grammatik. Das gilt auch für die Literatur, für alles. Es sind viele Leute unter uns, die darüber wissen. Bloß: Dieses Wissen steht nicht abgebunden in den Buchhandlungen bereit. Aber das gibt es an den Akademien. Stellen Sie es sich einmal so vor: Sie haben heute eine zivilisierten Beruf. Haben gewisse Interessen, sind sehr eingespannt in der Welt. Und dann sehen Sie, wie Kunst heute öffentlich erscheint - durch die üblichen Informationsmöglichkeiten. Ist doch ganz klar, daß einer, der seine fünf Zwetschgen im Kopf beieinander hat, davon abgestoßen wird. Und sich von der Kunst abwendet. Das heißt, der Bereich stößt die hochwertigen Leute ab. Ich denke, daß wunderbare Leute unter uns sind. Und daß die Gesellschaft inzwischen wahnsinnige Möglichkeiten hat, tolle Sachen zu machen. Es geht nun darum, einen Publikumstransfer zu schaffen.

Eine Erhöhung des Niveaus von Kunst?

Wir brauchen neues Vertrauen. Es ist einfach so: Haben Sie im Fernsehen schon einmal „Bilderstreit” gesehen? Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Physiker, ein Hochwertiger, der sich in Garching mit seiner Sache befasst. Abends kommen Sie müde nach Hause, schalten den Fernseher ein und sehen da die drei Irren sitzen. Dann sagen Sie doch zu ihrer Frau „Leg mal einen Mahler auf”. Oder sonstirgendwas. Bach. Dann schaue ich mir einen Bildband über Pierre dela Francesca an. Das antwortet auf avancierte Fragen mehr als alles, was die drei Irren da reden. So wie Kunst öffentlich erscheint, ist sie eben abstoßend. Das muß man sehen.

Wo sind für die Kunst überhaupt noch Orte denkbar?

Wir müssen alles neu machen. Das ist auch eine Chance. Wir müssen die Orte, die schon da sind, alle brachliegen lassen. Eine künftige Gesellschaft, die etwas in Ordnung bringen will, die wird auch das Kanzleramtsgebäude aufgeben müssen. Ich glaube nicht, daß zukünftige Regierungen es sich erlauben können, mit so einem Gebäude, wie dem Kanzleramt in Berlin, zu arbeiten.

Meinen Sie jetzt von dem Anspruch her, den dieses Gebäude vermittelt?

Für mich wohnt in diesem Haus ein Drogenbaron aus Kolumbien. Überlegen Sie sich einmal diese unsolide Ausstrahlung! Diese Feriengestimmtheit mit diesen Dächlein und den Topfpflanzen!

Es ist eben ein postmodernes Gebäude.

Das ist es nicht nur! Das kennen Sie doch, wenn Sie bei Menschen etwas sehen, das unsolide wirkt; wenn einer Spoiler hat am Auto. Da denkt man sich: War das nötig? Es gibt eben keinen Begriff dafür, wie etwas auszusehen hat. Es herrscht doch völlige Gleichgültigkeit. Es herrscht vor allem Individualität. Die Museen sind für uns nicht mehr gangbar. Die sollen so bleiben, mit allem was darinnen ist – aber wir wollen das nicht. Ich möchte da nicht mehr dazu gehängt werden. Das ist nicht mehr mein Ziel. Ad Reinhardt spottete einmal darüber: Nicht mit diesen Kerlen! Aber an diesem Punkt sind jetzt auch wir: Nicht mit diesen Kerlen! Es nützt nichts mehr, es gibt auch keinen Erfolg mehr, denn in dem Augenblick, in dem sie in diesem Kontext hängen, haben sie keinen Erfolg mehr. Außer dem sinnlos ökonomischem Erfolg.

Woher nehmen wir das Korrektiv der Furcht?

Eben keine Furcht! Das meine ich eben nicht. Bewußtsein.

Woher soll das Bewußtsein kommen?

Lernen. Kenntnis. Denn glauben tut ja niemand mehr. Es ist ja nicht einmal mehr zynisch, das Spiel. Galeristen sind infantil. Und ich denke schon, daß dieses Schisma sich abzeichnet. Das sehe ich. Das sehe ich kommen. Ich glaube es schon. Ich lese es Ihnen vor: „300 Jahre früher bei Galilei. Die Wahrheit ist nun nicht mehr, was sich zeigt, sondern Resultat des Gesucht- und Gefundenseins. Und er fordert uns auf, den eigenen Sinnen Gewalt anzutun. Man glaube nicht, daß es um die tiefen Begriffe zu fassen, die in jenen Karten des Himmels geschrieben stehen, genügt, den Glanz der Sonne und der Sterne in sich aufzunehmen und ihren Auf- und Niedergang zu betrachten, denn dies alles liegt auch vor den Augen der Tiere und vor denen des ungebildeten Haufens offen zu Tage. Hinter dem allen aber verbergen sich so tiefe Geheimnisse und so erhabene Gedanken, daß die Mühen und Nachtwachen von Hunderten und Hunderten der schärfsten Geister in tausendjähriger Forscherarbeit sie noch nicht völlig zu durchdringen vermochten. So ist daß, was der bloße Sinn des Sehens uns gibt, so gut wie nichts im Vergeich zu den Wundern, die der Verstand uns beschert”.

Beim Essen sprachen Sie von der Phase des Überganges, als die Futuristen zu Klassizisten wurden - ist es das, was Sie fordern: Einen Ordungsruf?

In den Zwanziger Jahren ist es diesem trostlosen Cocteau gelungen, diesen Schlachtruf zu formulieren: Rapell á l’ordre. In Italien: Il Chiamo al Ordime. Der Abschied von dieser vulgären Avantgarde. Das hat auch etwas Entlastendes. Jetzt ist die Zeit weiter, als sie für mich vor 15 oder 20 Jahren war. Als man noch aufhorchte, als – kann man sich noch vorstellen, daß Kunst denunziert wurde unter dem Begriff des Elitären? Das muß man sich einmal vorstellen! Wenn man heute sieht, an was Adorno gestorben ist. Daß waren doch tatsächlich die Brüste dieser Studentinnen. Als er die Polizei rufen mußte, sich selbst verraten mußte, sich nach Sils Maria zurückzog und an dem Herzschlag starb. Das hat er nicht mehr verkraftet! Wenn man sieht, wie grandios seine Überlegungen zur Musik waren; in den Minima Moralia – vieles ist vergangen, aber trotzdem ist es… diese verletzlichen Augenblicke! In den Minima Moralia, das Kapitel „Wenn dich die bösen Buben locken”: Das bleibt!  Diese Sachen über Musik, die werden bleiben. Über Schönberg. Und was er für Thomas Mann getan hat, das wird auch bleiben. Solche Leute haben wir nicht viele gehabt. Und dann tauchen plötzlich diese zwei blöden Brüste auf. So einfach ist das! Seitdem ist die Luft verwirbelt. Ich habe mir gerade eine Kassette gekauft mit einer Dokumentation über Adorno und man spürt richtig, das ist eine Bruchstelle in unserer deutschen Geschichte. Wie Adorno aus dem Exil zurückkommt, sein Institut hat, dort versucht, etwas zu machen und plötzlich unterläuft sich das von der anderen Seite und von da an herrscht Klamauk. Dieses Fanal der blöden Brüste. 14 Tage später war Adorno tot. Er hat gemerkt, daß die Sache aus dem Ruder läuft. Elitär! Man mußte sich wirklich von jedem anpfeifen lassen. Wenn man – wie ich aufgebrochen bin – Kunst auf eigene Kosten macht, als wenn man da der Gesellschaft irgendetwas schuldig wäre! Das ist eine Sache, die mir vermehrt zu schaffen macht: In Berlin kam ein weltbekannter Galerist zu mir und sagte bei der Eröffnung der Ausstellung, wie toll er meine Arbeit findet. Ich bin vollkommen ausgerastet. Ich habe zu ihm gesagt: „Sie sind ein grenzenloses Arschloch! Ich verbiete mir solche Töne, ich bin 56 Jahre alt und so redet kein Mensch mehr mit mir.” Da sagte er: „Man darf doch wohl mal eine Arbeit gut finden!” Sage ich: „Das darf man schon! Wenn man mein Freund ist. Aber wenn man Abstand zu mir hat, spricht man mich überhaupt nicht mehr an!” Es ist eine Bodenlosigkeit, permanent seine Meinung auszuteilen. Weil man den Mißklang hat, daß eine Arbeit, bloß weil sie in einem öffentlichen Raum ausgestellt wird und die Gesellschaft ist, wie sie nun einmal ist, das Gefühl bekommt, zu urteilen. Sie haben aber nichts dazu beigetragen! Ich bin kein subventionierter Künstler. Es war ein Alleingang. Ich brauche eine absolute Zurückhaltung des Urteils. Mit Freunden ist das anders, da höre ich es gerne. Ich genieße es und freue mich, wenn es jemandem gefällt. Bei anderen erlebe ich es als Verletzung, als Übergriff. Ja, so ist es. Alles, was ich zu sagen habe, steht in diesem Vortrag, den ich neulich in München gehatlten habe. Vielleicht ist es in letzter Zeit noch etwas trauriger geworden… “Kennen Sie das Gefühl? In einer Buchhandlung. Ich habe gefunden, was der Arbeit nützlich ist und aus Leichtsinn beginne ich in Kunstzeitschriften zu blättern. Schleichend erfasst mich ein Unbehagen, ich raffe meine Bücher zusammen, die vor Sekunden noch ein großes Versprechen waren, verlasse die Buchhandlung verstimmt und es dauert eine gewisse Zeit, bis sich Erleichterung einstellt.” Kennen Sie das Gefühl? Dieser Leichtsinn, wenn man heute Kunstbücher anschaut, ganz krank. Magazine. Man geht, gut gestimmt von der eigenen Arbeit herein und plötzlich, ganz rätselhaft, wie einen das Unbehagen erfasst und man gar nichts mehr tun kann, daß das verschwindet. Da bleibt einem nur die Zeit, ein paar Stunden, Vergessen, Ablenkung, bis sich das wieder ablebt. Da merkt man, wie anfällig das eigene System für Störungen geworden ist. Wenn man wirklich etwas machen will, kann man sich die ganze Gesellschaft nicht mehr oft zumuten: „Die gleiche Verstimmtheit stellt sich ein, wenn man mit mir über Kunst in dieser und jener Stadt spricht. Gladius Dei – Die Kunst blüht, die Kunst ist eine Herrschaft, München leuchtete. Sie alle kennen den von der Schellingstraße, Hieronymus wird er von Thomas Mann genannt, er macht sich auf den Weg zu einer Kunsthandlung am Odeonsplatz und nach kurzem Hin und Her verlangt er die Zerstörung der angebotenen Kunstwerke. Schnell fand er sich durch eine fuchtbare Übermacht auf der Straße wieder, er verstummte und sah gegen eine gelbliche Wolkenwand, die von der Theatinerstraße heraufgezogen war und in der es leise donnerte. Gladius Dei Superterramo. 1914 erschien diese Novelle auf welcher Seite sind ihre Sympathien? Gehören sie zu der furchtbaren Übermacht? Können sie Hieronymus verstehen? Ich verstehe Hieronymus. Wer könnte dieser Hieronymus sein? 1911 kommt ein trauriger Jüngling aus Paris in München an und läßt sich in der Barerstraße nieder. Dieser Jüngling war in Paris für das erste als mittelmäßiger Maler anerkannt, andere hatten bessere Startfenster. Picasso, Braque – mehr braucht man nicht zu sagen. Er hatte sich vorgenommen, der Kunst den Verstand zurückzugeben. Und vor den großen Werken der Münchner Pinakothek fragte er sich, ob ähnliches in der Gegenwart auch zu vollbringen sei.” Das ist der Punkt: daß Duchamp überhaupt kein Avantgardekünstler ist.

Er gilt doch eher als Spaßvogel!

Das ist eben falsch! Duchamp ist der Leonardo des 20. Jahrhunderts. Duchamp ist der klassischste Künstler, der wichtigste Künstler im 20. Jahrhundert. Die Fehlrezeption hat ihn zum Spaßvogel gemacht. Er ist absolut der seriöseste Künstler, den das 20. Jahrhundert hatte. Aber es ist harte Kost. Um das zu erkennen, muß man so viel tun. Kein Künstler hat derart hochwertige Rezensionen heraufbeschworen, wie Duchamp. Haben Sie von Oktavio Paz die „Nackte Erscheinung” gelesen? Ich bin so neidisch auf Duchamp. Wenn einem das als Künstler geschieht: Von so etwas konnte Picasso nur träumen! Da hat man jetzt die Schere, die sich schon für Nietzsche auftut: Picasso hat zwar allen Gesellschaftsruhm – aber keinen Atelierruhm. Nietzsche war der Erste, der die Qualitätsunterschiede des Ruhmes feststellen konnte – im Fall von Wagner. Daß es Gesellschaftsruhm und Atelierruhm gibt. Für den zukünftigen Künstler kann es nur noch um den Atelierruhm gehen. Das lässt die gegenwärtigen Künstler ausgehöhlt erscheinen; die bekommen lediglich Gesellschaftsruhm. Und Picasso merkte, daß er keinen Atelierruhm bekam. Jeder Künstler, der recht bei Trost ist, ist nicht von Picasso beeinflusst. Aber alle von Duchamp.

Halten Sie deshalb Böll, Grass und Beuys für steindumm? Weil die mit dem Anspruch, durch ihre Kunst die Gesellschaft zu verändern, voll auf den Gesellschaftruhm aus waren ?

Nein, das will ich ihnen nicht anlasten. Das würde ich als zeitbedingt sehen. Aber die haben alle keinen Atelierruhm. Wenn ich Ihnen sage „Von Benn habe ich Erstausgaben” - das ist doch ein Wort. Wie finden sie es dagegen, wenn ich sage: „Ich habe die Erstausgabe von Ansichten eines Clowns”? Es gibt nichts Erstrebenswerteres als den Atelierruhm. Gesellschaftsruhm ist Dreck. Wertlos.

Gelingt es Ihnen, all das ihren Studenten zu vermitteln?

Natürlich nicht. Aber irgendwann ist die Schale dünn. Es ist doch merkwürdig, daß in uns ein Gewissen schlägt, das immer dann bohrt, wenn man gelogen hat. Wenn Sie jung sind, sind Sie ja noch nicht routiniert. Daher möchten meine Studenten schon geklärt haben „What To Paint”. Und sie ahnen schon, daß sie umgeben sind von Fälschern. Von geborgten Gefühlen. Von Simulakren. Plötzlich wird wichtig, wie man eine Methode finden könnte, die die Materie scheiden kann. Wo ist das legitime Kunstwerk? Weil je länger Sie leben, um so mehr kommt Ihnen abhanden. Ich hatte schon hundertmal so viele Bücher wie jetzt. Es dampft ein. Es ist das besondere an unserer Zeit, daß Mittelwerte keine Sympathien mehr haben. Für mich war das noch anders. Ich hatte immer eine Sympathie für Mittelwerte. Wenn heute ein Gespräch über Kunst noch Sinn hat, dann nur noch über das Tun am äußersten Rand. Mittelwerte sind für Conaisseure. Feuilletonistische Wichtigtuerei. Wir brauchen eine Kunst, die sich am äußersten Rand bewegt. Die ist ja ganz selten. Das Jahrhundert dampft ein auf fünf Namen. Gleichzeitig wird in Berlin die Sammlung Flick gekauft mit 2700 Bildern. Und davor die Mazzorasammlung mit 3500 Bildern. Alles Kunst der letzten 20 Jahre. Noch nie hat es in der Kunstgeschichte eine solche Epochegegeben: Überschießend. Überschießend! Die Museen sind randvoll mit Müll. Jetzt fragt man sich, wie man sich davon befreien könnte. Tja. Dieser Text von TS Eliot „Tradition und individuelle Begabung” ist von 1919. Ein Text, der sich an Dichter wendet, die über das 25. Lebensjahr hinaus tätig sein wollen. Bildende Künstler sind genauso gemeint. Duchamp hat diesen Text unglaublich geschätzt. Es war für ihn eine große Möglichkeit. “Es war immer gleich: Nur ein einziges Museum, das gedacht war wie ein Institut für Kältephysik. Dazu eine Galerie und eine Akademie. Der Rest kann sein wie er will oder muß und wenn nicht – im Dunkeln leben, im Dunkeln tun was wir können. Benn: Wir tragen den Traum allein. Es bleibt dabei: Nur in ihrer radikalen Grundlosigkeit kann Kunst Kunst sein. Formulieren wir diese These auf das Rücksichtsloseste und auch das mit dem Bewußtsein Gottfried Benns: Sie tapezieren mit sich selbst und nichts kann sie erlösen. Weiter sagt er: Geben sie kein SOS – erstens hört sie keiner und zweitens wird ihr Ende sanft sein, nach so viel Warten. Die ganze Anstrengung, der Kampf mit dem Ideal, verkrampftes Streben nach Vollkommenheit, nach dem Reinen, Zeitlosen, Absoluten. Mallarmé sagt: Ein Würfelwurf wird niemals den Zufall aufheben. Das Ideal: Ein Würfelwurf, ein vergeblich und ruhiger Traum von Vollkommenheit, ewige Leere. Gelungene Kunst ist seit fünfhundert Jahren die Ausnahme, und mein einziges Interesse ist die Ausnahme. Im 19. Jahrhundert von Manet, Czecanne, Seurat – sie wurden dunkel, steril unverständlich, elitär und volkfern genannt. Es waren eben Künstler, die nicht nur die Hand beschäftigten, man ist Künstler nur in seltenen Augenblicken, in denen man an das ideale heranreicht oder es versucht.” Genau so „Verweigerung heißt die Zahl der Lösungen, die man verwirft. Die Möglichkeiten, die man sich verbietet, der hohe Grad an Bewußtsein, die Scheu und die Besorgnis, mit denen wir die zukünftigen Urteile des Publikums entgegensehen. Also ein Publikum, das nicht Anstrengung fürchtet. Valéry sagt über die kleine Schar von Mallarmélesern: Nachdem sie ihn gelesen hatten, schien ihnen alles andere naiv und matt. Kunst ist eine Arbeit, die nicht dem Provisorischen dienen möchte, eine Realisierung, zu der der Geist zurückkehren möchte und bei der er sich ohne Bedauern ein wenig aufhalten kann. Ortega y Gasset: Ich zitierte viele Tote und ich sage dazu: Stets wiederholt das Machen das Gemachte, dabei ist zwischen Einfluß und Nachahmung zu unterscheiden. Denn die Nachahmung von Prinzipien, die ein anderer gefunden hat, ist zwecklos. Genauso zwecklos ist aber auch die Anarchie der individuellen Anstrengung. TS Eliot bemerkt zum gleichen Sachverhalt: Die toten Dichter stehen uns deshalb so fern, weil wir so viel mehr wissen, als sie. Das stimmt, und zwar sind sie selbst das, was wir wissen. 1951 meint Ortega y Gasset im Gespräch mit Octavio Paz, daß die einzig mögliche Tätigkeit in der modernen Welt das Denken sei. Die Literatur ist tot, der Laden hat dicht gemacht, auch wenn man das in Paris noch nicht weiß. Und daß man, um denken zu lernen, griechisch können müsse oder wenigstens deutsch. Und er schließt hart und apodiktisch: Alles andere können sie vergessen.” Das war dann der Schluß: „1908 endet das Erste Futuristische Manifest von Marinetti mit dem Ruf Kopf hoch! Aufrecht auf den Gipfeln der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu! 90 Jahre später habe ich die Hoffnung, daß die Sterne endlich die Funktion von Kunst in die rechtmäßigen Bahnen lenken möchten. Nämlich dorthin, wo die Philosophen und die reinen Wissenschaftler die Welt der Ideen und nicht die Welt der Sinne erforschen. Schluß mit dem Spiel der Kunstformen! Kunst ist nichts für große und kleine Kinder. Und Kultur ist schon gar nicht gemeint. Sondern eine Trennlinie zwischen allem anderen. Und der Kunst als radikale Ausnahme. Die Kunst als radikale Ausnahme war nie frei. Sie hat sich Beschränkungen auferlegt. Die Welt stand dem Künstler nur zum Schein offen. Diese Scheinöffnung ist und war die Ursache eines grundlosen Blütentums, das jene Staubwolke von Werken erzeugt, die nichts mehr bedeuten. Eduardo Persico hat sie vorausgesagt. „What to Paint?”, fragt Barnett Newman. Eine Frage nach Welt- und Menschenbild: Gilt für alle Regionen auf der Erde das Hauptgefühl der totalen Verlassenheit? Der radikalen Fremdheit? Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten. Er rollt vom Mittelpunkt weg ins „durchbohrende Gefühl seines Nichts” (Nietzsche) und kann, meint Wissenschaft und meine Wichtigkeit, die Notstege des Zynismus und der Ironie verfallend, der äußere Raum ist denunziert, verdächtig rückwärtsgewandtes Denken klassischer Stil und Elitäres zu meiden. Nur die Erforschung der sozialen und psychischen Räume scheint legitim zu sein, ein Abbau aller Architektonik. Zur gleichen Zeit ist es ein Kampf gegen die Privilegierung der Netzhautbilder und der Momentaufnahme. Ich habe die Hoffnung, eine Trennlinie zwischen allem andern und der Kunst als radikale Ausnahme ziehen zu können „Heard melodies are sweet, but those unheard are sweeter” (Keats). Zum Schluß also eine Schönheit, die nur gedacht werden kann. Die unmöglich allgemeinen Beifall findet. Und zum Trotz ein Trost: „Er wollte, daß der Tempel leer sei. Also traget das von dannen – Johannes, 2, 11.” Oder: “Nichts existiert als die Atome und der leere Raum. Nur in der Meinung besteht das Süße, das Kalte, die Farbe. In Wahrheit besteht nichts als die Atome und der leere Raum” (Demokrit). Das waren so Überlegungen.

Wie kamen die an?

Weiß ich nicht.

Gab es Beifall?

Weiß ich nicht, ich war so erkältet.

Kann man nicht ohnehin sagen, was man will? Es wird doch alles hingenommen.

Daher könnte ich gar nicht sagen, wie… danach geht man was essen. Mit den Leuten.

Es löst sich in der Essensstimmung auf, man redet nicht weiter darüber.

Alles wohlgestimmt. Dann geht man in sein Hotelzimmer. Legt eine Schicht Fernsehen drüber. Dann ist man müde. Und am nächten Tag hat man ein solches Scheißgefühl. Wenn man im Zug sitzt. Und zurückfährt. Das war es dann. Öffentlichkeit ist eine fragwürdige Sache.