Ramones – Die weisen Idioten

Interviewportrait
zuerst erschienem im April 1985 in Spex Nr. 4, S. 30-31

It’s ten years for us this year! Lange lange schon gibt’s die Ramones, fast so lange wie die Rolling Stones, oder? Eine Dekade Gabba Gabba Hey. Frisch wie am ersten Tag schwenkt Joey sein Schild mit dem strohdummen Schlachtruf, zur Freude der Fans, die entweder die letzten 10 Jahre im Frischhaltefach verbrachten oder … tatsächlich nachgewachsen sind. Sie wirken knackig und körperlich fit. Das müssen Neue sein. Bei den Ramones kann man halt jederzeit einsteigen. Kennst du eine Platte, kennt du alle (naja) und alle sind gut. Die bescheidenen Brüder (der Schlagzeuger ist leider Gottes ein Wechselbalg, dessen Name momentan Richie ist) bezeichnen ihre gesammelten Werke als schön lauten Rock’n’Roll, doch wir alle wissen ja, daß in dem breiten Spektrum zwischen Blitzkrieg Bop (Irrwitz) und 7—11 (Melancholie) zahllose wunderbare Klassiker siedeln. Die oftmals als imbezil geschmähten Brüder mischen mit sicherer Mund unglaubliche Doofheit mit unverhofftem Tiefsinn, immer wieder, immer nach dem gleichen Rezept und schon hat’s wieder hingehauen. Wenn sie mal zu tiefsinnig werden, kann man ein Auge zudrücken. Gabba.

Mit den Jahren hat auch in der Ramone-Familie die Vernunft Einzug gehalten. Wie in dem Rock’n’Roll High-school-Film bereits vorausgeahnt, ist die schädliche Pizza höchstens ein Fan-Souvenir. Die schädlichen Drogen werden kategorisch abgelehnt. Ebenso der schädliche Alkohol. Dee Dee trinkt mit wachsender Begeisterung zwei Gläser Milch. Joeys  Sandwichgarnierung  sieht verdächtig nach vitaminreichem Kressesalat aus. Die Ramones sehen trotz alldem total hinüber aus, ziemlich mies, wie echte New Yorker. Weil sie das gesunde Leben schließlich nicht führen, um gesund auszusehen, sondern rein aus Vernunftgründen.

Auf der Bühne verfliegt dieser gesetzte Eindruck, weggefegt von unbeugsamer Raserei und sakralem Gabba Hey-Gesang. Die Sache ist magisch. Als ich verspätet wie immer in Richtung Lyceum eilte, spürte ich schon 200 Meter vorher ein deutliches Beben. 50 Meter weiter erklang verheißungsvolles Dröhnen. Im Foyer befiel mich der angenehme Eindruck, mit dem Hörgerät neben den Boxen zu stehen. Entspannten Schrittes bewegte ich mich zum Zentrum des (Lärms? Göttlichen Irrsinns? Orkans?), gelangte zur Bühne und war schweißgebadet. Etwas explodierte. Emotionen wurden freigesetzt, die sich sonst nur in Extremsituationen Bahn brechen — nach tagelangem Überlebenskampf auf einem Mausdach im sumpfigen Süden Amerikas, unter den strafenden Himmel, der alles Wasser der Welt auf deine Kate ergießt — wenn man im Erdreich verbuddelt den allesvernich-renden Feuersturm erwartet — beim Heavy-Metal-Festival in Reading … äußerlich war ich eiskalt und ruhig, doch in meinem Inneren kochte es. Magisch, magisch.

Wenn ich ‘76 siebzehn gewesen wäre, hätte ich mir schon damals die erste LP gekauft. Dann wäre ich jetzt schon 26! So zuckte es mir dämlich durch den Kopf, ein verzeihlicher Aussetzer. Und weiter: Wie lange ist es her, daß du dir freiwillig von Wilden, die wie Punkrocker aussehen, die Schuhe ruinieren läßt? Ewig. Wie lange hast du schon keine Lust mehr, den Ellbogen deines schweißigen Vordermanns aufs Kinn zu kriegen? Desgleichen.

Und warum wünschst du also, du mögest mitsamt deinem Balkönchen herunterstürzen in den Hexenkessel vor der Bühne? Darum: It’s the danger of love … gute alte Ramones. Sie sind unsterblich und immer neu. Mick Farren, bitte schreiben sie: ‘Let’s sink the Titanic now‘. Morgen ist wieder Punk-Rock. Ehem.

A propos: Natürlich hat meine Oma recht und so. Anders als auf der Platte hören sich alle Stücke total gleich an. Auf der Bühne herrscht ein einziges Gebratze. Schließlich können sie jetzt noch schneller spielen als früher. Was solls. Dave Stewart hat für die Albumversion von „Howling At The Moon“ gute Arbeit geleistet, aber auf einer Bühne mit den Ramones hat er nichts zu suchen. Kehren wir mal zurück zum vernünftigen und — im Nachhinein muß man’s sagen — sehr netten Dee Dee Ramone, der gerade über diesen Eurythmics-Stewart sagt: „Er mag die Ramones und alle mögliche Musik. Er ist ein netter Kerl. Ja, er ist ein sehr netter Mann und auch gerissen. Er ist gut im Studio. Aber weißt du, wir konnten nicht jedes Stück so machen. Immerhin hat er’s nicht so sehr anders gemacht. Das hätte er uns nicht angetan — er ist nicht verrückt, meine ich.“

War das ein Versuch . . ?

„Was? Zurück zum Punk?“

Eh — die Ramones ein bißchen aufzupolieren, zu modernisieren?

„Naja, wir haben’s versucht. Aber ich finde Planet Earth 1988 auch modern. Vielleicht … ich weiß nicht. Wir wollen nicht zu modern werden. Die Texte sind das, was im heutigen Leben passiert, keine Erinnerungen an Teenagerzeiten, sondern ernstzunehmende Texte über das, was auf der Welt passiert.“ (Der Dee Dee ist ja ein richtiger Dichter geworden, kam es dann auch Gerald Hündgen beim Anhören von Planer Earth bewundernd über die Lippen — immerhin geißelt er in dem Stück Rassendiskriminierung, Terrorismus, Aufrüstung und andere Ungerechtigkeiten etwas holprig, aber irgendwie wahrhaft.) „Aber die Musik wollen wir nicht ändern . , . Ich glaube, wir sind sehr kreativ. Joey und ich gehen ganz in der Musik auf — wenn ich zuhause in New York bin, gehe ich jeden Tag zur Klavierstunde, und wenn ich dann heimkomme, sitze ich in meinem Zimmer, schnappe mir die Gitarre und fange an, Musik zu schreiben. Wir haben schon ein anderes Album fertig. Es ist erstaunlich. Wir haben sogar ein paar wirklich gute Sachen. Ein Stück, was wir mit einem Freund von Joey geschrieben haben — er ist Gitarrist bei einer Band namens Shrapnell … Wir arbeiten viel mit anderen Musikern, das macht uns Spaß. In New York stehen alle Musiker auf gutem Fuß miteinander, wir gehen zu Sessions von anderen Leuten und spielen da — irgendwie ist immer einer mit irgendwem befreundet. Aber auch wenn du deine Fähigkeit ausbaust, mußt du die Art Musik beibehalten, denn anderenfalls wären wir nicht mehr die Ramones. Wir wollen eine laute Rock’n’Roll-Band sein, das ist alles.“

Nicht nur, das die Texte länger werden (wie Schatten in der untergehenden Sonne …), wie oben gesagt wirken sie auch reifer.

„Ja, ich denke, es gehört zu meinen besten Arbeiten … dann andererseits, ich mag all unsere Sachen, ich mag das erste Album immer noch: Du mußt einfach hart arbeiten und keine vermurksten Stücke schreiben, und du bist fein raus. Hahaha.“

Hat Joey Ramone sich verändert? Es war ihm zwar immer gegeben, ein Stück zu, hm, interpretieren, aber auf „Tod Tough To Die“ hört er sich manchmal fast an wie ein richtiger Sänger.

„Er ist ein Sänger! Er kann singen! Er arbeitet an sich, wie wir alle. Ich übe auch jeden Tag an meinem Baß, um schwierige Parts zu lernen — was sollte ich sonst anfangen? Ich bin Musiker. Es macht Spaß. Ich muß vorwärtsgehen, nicht rückwärts.“

Die Texte sind ja teils etwas misanthropisch ausgefallen. Hat sich deine allgemeine Stimmung in der Hinsicht verändert?

„Nein. Manchmal schreibe ich bewußt und manchmal bin ich einfach inspiriert. Ich nehme die Gitarre, knalle es einfach so raus und schreibe direkt den Text dazu und dann hab ich’s. Andere Texte brauchen einen ganzen Monat. Planet Earth war ein „Kurzes“, weil ich die Emotion für dieses Stück sofort gespürt [31] habe, es lag alles genau in meinem Kopf. Ein „Langes“ war z.B. Endless Vacation, weil es ein sehr ernstes Stück ist und der Text war, sehr schwierig zu schreiben.“

Was ist der Anstoß für ein „kurzes“ Stück?

„Keine Ahnung, Deshalb bin ich eben ein Künstler — weil ich kreativ bin!“

Na? Ist das nun der Hammer? Der große Gong? DEE DEE RAMONE IST EIN KÜNSTLER. Von wegen Idioten mit der Kettensäge, von wegen — damals gab es im NME einen himmlischen Erlebnisbericht von Tony Parsons, in dem am Beispiel von Joey Ramones lockerem Zahn der Beweis für die Debilität der Brüder erbracht wurde. Daran erinnert, werden Dee Dees Augen derart umflort, daß man wirklich den Eindruck hat, da sei doch etwas hängengeblieben, ein bitterer Stachel — der „Darum-bin-ich-Künstler“-Blick vertieft sich und wird durch eine trotzige Komponente bereichert, die selbst durch die Sonnenbrille unübersehbar ist. „Wir waren nie so, wie Tony Parsons gesagt hat. Wir sind keine Idioten. Ich halte mich für intelligent, ich bin eben menschlich …“

Verdammt. Er sagt das so ernsthaft und aufrichtig, als hätte ich gerade versucht, ihm die Bürgerlichen Ehrenrechte abzusprechen oder ihn angeschaut wie einen Regenwurm. Mir dämmert die herzerwärmende Ahnung, daß Dee Dee Ramone ein sensibler, fein empfindender, um Erfüllung ringender Mensch ist, ein echter Künstler sozusagen. Er bat den Charakter eines Künstlers, dabei bleibts, und sei die Lyrik noch so holprig.

„Einen Film wie Rock’n’Roll High-school würden wir heute nicht mehr machen. Lieber einen richtigen Film. Ich muß ein gutes Script finden. Ich hatte ein Angebot für eine Rolle in „Eddie and the Cruisers“, aber ich hab’s abgelehnt, wegen der Musik. Gegen Bruce Springsteen selbst ist nichts zu sagen, aber die ganzen Songs, die sie da sangen, waren wie Springsteen-Songs, so ähnlich. Also wollte ich da nicht mitspielen.“

Schreib dir selbst etwas passendes. „Weeell, vielleicht mach ich’s — ich schreibe grade ein Buch. Ich schreibe viel. Tatsächlich würde ich gerne aufs College gehen und kreatives Schreiben studieren, wenn ich etwas freie Zeit hätte.“

Das sagt er so nebenbei. Wirklich Idioten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Inzwischne [sic] malt sich größtmögliche Freude auf Dee Dees ansonsten, gelinde gesagt, verschlossenes Gesicht und er verkündet stolz: „Das ist meine Frau.“ Vera Ramone kommt von der Kensington High Street und trägt zwei große Tüten voller Überraschungen. Sie verschwindet aufs Zimmer und ihr Gatte zeigt sich geneigt, ihr zu folgen. Er schaut ganz benommen.

„Ich hatte angefangen, ein Journal zu führen, wie ein Tagebuch und dann kleine Geschichten zu schreiben, Fantasy-Stories oder Beschreibungen des Tags in beinahe psychedelischen Details und so begann ich mich mit dem Schreiben zu beschäftigen. Ich habe ganze Stapel Notizbücher. Auf einer zweimonatigen Tour habe ich drei Hefte vollgeschrieben. William Burroughs will mit mir zusammen ein Buch rausbringen, aber ich weiß nicht, ob ich das machen soll. Ich bin mir nicht sicher, ob alle dieses Zeug kennen sollen. Ich habe auch ‚ne Menge Gedichte geschrieben. Da gibt’s diesen Künstler, Maler, Arturo Vega, er möchte, daß ich die Gedichte auf die Bilder schreibe. Das soll dann als Buch rauskommen. Es ist bestimmt ganz gut, aber vielleicht sind die Gedichte zu privat.“

Gibt es Sachen, die du mit den Ramones nicht verwirklichen kannst?

„Ich schreibe ein Stück für ein Mädchen, ein Stück, das von einem Mädchen gesungen werden soll. Vielleicht für die GoGos oder Cindy Lauper oder die Bangles. Meine Frau hat mir geholfen, es zu schreiben. Ich habe sie gefragt, was ein Mädchen wohl darüber denken würde: Das Stück handelt von zwei Jungen, die sich um ein Mädchen streiten, und heißt „Leave Me Out Of Your Fight“. Es ist irgendwie richtig hübsch. Es ist immer noch „ramone“, ein bißchen, aber sehr hübsch. Ich würde auch gerne einen Gedichtband rausbringen.“

Ich war zu spät in der Hotelhalle aufgekreuzt, um einen schweren Anfall von Johnny-Ramone-Fieber mitzuerleben, der Dee Dee um Haaresbreite in den Wahnsinn getrieben hätte. Johnny nämlich hatte auf Befragen verkündet, das er keine Ahnung hätte, was für Texte die anderen schrieben (sogar Richie hat einen beigesteuert) und sich auch nicht die Mühe mache, sie auf der Plattenhülle nachzulesen. Woraufhin sich Dee Dee anschickte, ihn zu erwürgen bzw. die Band aufzulösen oder ähnliches. „Johnny schreibt nie was. Er weiß nicht wie. Es interessiert ihn nicht. Wahrscheinlich hat er nichts zu sagen.“ Oder, frei übersetzt: ‘Der Heckenpenner kann nichtmal seinen Namen richtig schreiben.“ „lch habe etwas zu sagen. Gerade im Moment möchte ich Liebeslieder schreiben. Fröhliche Lieder. Nur fröhliche Lieder. Sonst deprimiere ich die Leute noch zu sehr. Hehe.“

Och. Eure Stücke haben doch selbst bei traurigen Inhalten was …

„… Abenteuerliches, würde ich sagen. Ich muß gehen, meine Frau …“

Was mag in den Tüten gewesen sein? Ein neues schmuckloses T-Shirt? Eine Jeans? Eine dunkle Sonnenbrille? Auf der Kensington High Street kann man einiges kaufen, aber nichts für die Ramones.

Joey stürzt jetzt mit der Geschwindigkeit in die Hotelhalle, die sonst für Kontinentverschiebungen angesagt ist, greift sich einen Delikatessenteller und beteuert, Interviewgeben sei ihm ein elementares Bedürfnis und höchstes Vergnügen, während er unentwegt an seinem garnierten Sandwich friemelt. Die Band würde sich keinesfalls auflösen und er könne alle prima leiden, Dee Dee und Richie besonders. Es gibt halt wirklich in jeder Band ein unglaublich dummes…das kennt ihr ja … selbst bei den Ramones. Wie immer ganz unverständlich und verfremdet von Joeys gebeimnisvollem Humor werden wir informiert über seine Sympathie für den U-Bahn-Rächer (sonnenklar), New York im Allgemeinen, Rock’n’Roll: „Ich bin ein Fan, ich bin ein Fan …“ und seine Absicht, demnächst die superharte wundervolle Solo-LP einzuspielen — schließlich ist er auch kreativ und Musik ist sein Leben. Y’knooow? Mein Kollege möchte wissen, wo die Rockmusik hinsteuert, wenn Manager den Künstlern ins Handwerk pfuschen und Joey meint: In tiefste Abgründe! Ach komm. Das sind doch gerade die ollen Kamellen, die wir nicht brauchen: good old rock’n’roll? Ich hab nie danach geschrien. Und richtig: bei den Ramones liegt’s ganz woanders. Auf halbem Weg zwischen

„It Was Sparkling, Sparkling, Sparkling

Sparkling In The Night

I Took The Law & Threw It Away Cause There’s Nothing Wrong

It’s Just For Play“

und

„On My Last Leg Just Gettin‘ By

Halo Round My Head Too Tough To

Die“,

zwischen reiner Poesie und harten Scherzen.