Doppelgänger

Reportage
zuerst erschienen 2007 in Feld Hommes, S. 138-147
Fassung des Autors

Der Anruf, ein Rückruf, schon lange nicht mehr erwartet, kommt am Dienstag nachmittag. Es geht ganz schnell. Nur ein paar Sätze, eigentlich nur einer, und nach dreizehn Jahren wird plötzlich alles geklärt. Die Pressesprecherin des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland in Berlin sagt und lässt damit alles zusammenfallen: „Es gibt und gab im diplomatischen Dienst niemanden, der Gert Munz hieß.“ Sicher? Ganz sicher. Wow! „Ja, faszinierend“, sagt sie, weil sie ja in den Vorwochen erklärt bekommen hatte, worum es bei der Frage geht. Ihr freundliches „Auf Wiederhören“, aus dem deutlich Mitleid herauszuhören ist, und alles ist vorbei. Angefangen hat es 1994. Manchmal war alles vergessen, aber immer wieder kam es hoch. Immer wieder, als sei es eine Sucht, hervorgerufen durch ein Buch.

Eine der Zwischenstationen: in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 endet das Ultimatum, das US-Präsident Georg Bush jr. Saddam Hussein gestellt hat. Etwa zwei Stunden später treffen amerikanische Marschflugkörper Bagdad. Explosionen. Am nächsten Tag heißt es in vielen Medien, Saddam Hussein sei tot, vielleicht tot, wahrscheinlich tot. Doch am nächsten Tag läuft überall ein etwas runzliges Video, es zeigt Saddam, der eine Rede voller Hinweise auf die Bombardierung hält, Hinweise, die so nicht vorab gesprochen sein können. Da kommt die Idee, sie kommt bei allen: Könnte ein Doppelgänger sein. Saddams Ohren sind viel größer, ist in der Folge zu lesen und zu hören. Sei offensichtlich. Doppelgänger? Oh nein, nicht schon wieder. Doppelgänger, bitte nicht.

Es geht wieder los, in der Hamburger Staatsbibliothek. Wühlen in den Fernleihekatalogen, nach Jahren wieder mit den Suchworten Doppelgänger, Enver Hodscha, Stalin, Ceaucescu, Diktatoren, Double, dazu diesmal noch Saddam Hussein. Wie damals, ein Rückfall. Wieder zeigt sich: es gibt wissenschaftliche Bücher mit Titeln wie „Doppelgängerphantasie“ oder „Doppelgänger – von endlosen Spielarten eines Phänomens“. Aber es gibt keinen einzigen belegten Doppelgänger. Immer nur Theorien, Ideen, Phantasien, Andeutungen. Da scheint was zu sein, aber es ist nicht greifbar. Scheint ein tiefsitzender Wunsch zu sein: neben dem echten muss es einen falschen geben. Auffallend: viele angelsächsische Werke wie „The Doppelgänger – double visions in German literature“ deuten darauf hin, dass es einen deutschen Hang zu Doppelgänger-Theorien gibt. Ingesamt gibt es nicht viel Neues seit damals. Die Literatur ist immer noch schwer zu finden, weil die Wortkombinationen mit Doppelgänger kaum den Buchtiteln oder Stichworten auftauchen. Die Erfahrung lehrt: am meisten findet man, wenn man möglichst viele Diktatorenbiografien liest. Am besten Ostblock-Diktatoren. Warten bis die Bücher per Fernleihe kommen, aus Zürich, New York, München, Heidelberg, Berlin, Amsterdam.

Mit diesem Buch fing alles an: Der Reportageband „Biografi“, der 1993 in England und 1994 in Deutschland als „Der Mann, der Enver Hodscha war“ im Hanser-Verlag erscheint, ist ein großes Buch, gut geschrieben, spannend, wahrhaftig. Eine gigantische Reportage über Albanien nach dem Tod Enver Hodschas, eine Beschreibung der Suche nach dessen Doppelgänger von Lloyd Jones. Und die Suche ist ein Trick, das Land zu beschreiben, Menschen zu interviewen. Jones findet ihn, Petar Shapallo, mit Hilfe des deutschen Botschafters. Der hat Shapallo unter den Flüchtlingen, die sich 1991, als das Land zusammenbricht, in die deutsche Botschaft flüchteten, entdeckt, lange mit ihm gesprochen. Allerdings geht Shapallo dann verloren, er entstellt sein Gesicht mit einem Rasiermesser, damit ihn die Landsleute in Ruhe lassen, nicht mehr als Schatten des Diktators sehen, hassen, malträtieren. Jones sucht lange, beschreibt dabei Albanien, den seelischen Zustand der Menschen. Ostblock nur noch trister, das schildert er. Findet Shapallo im Süden, erfährt von ihm die ganze Geschichte. 1986, Hodscha stirbt und sein Doppelgänger ist überflüssig, hat keine Aufgabe mehr. Seine Familie ist tot, er hat nichts mehr und niemanden mehr. Er muss um sein Leben fürchten, hungern, sich verstecken. Er überlebt, um seine Geschichte zu erzählen, taucht 1991 in der deutschen Botschaft auf, nachdem das Regime von Hodschas Nachfolger zusammenbricht..

Sommer 1998, an den Rand Tiranas, der hässlichen, heruntergewirtschafteten Stadt mit wenig Grün, zuviel Stein, Beton und Smog, ein paar geschleiften Denkmälern. Und so vielen missmutigen Gesichtern. „Bullshit“, sagt die hübsche, großnasige, dunkelhaarige Nevila. „Bullshit.“ Die mit schwarzen Skimasken und Kalashnikovs bewehrten Polizisten durchsuchen an der Straßensperre die Insassen des Rost-Mercedes. Besser gesagt, sie durchsuchen den Fahrer des Autos und den Fotografen, die sich an das Dach lehnen und die Beine spreizen müssen. Mich nicht, weil ich einen Anzug anhabe. Nevila hatte am Vortag gesagt: wenn möglich, zieht Anzüge an oder wenigstens Jackets, Krawatten. Sie ist ein alter Profi. Kleidung ist eine Botschaft. Die Polizisten durchsuchen natürlich auch nicht Nevila. Albanien ist, wenn auch nahe an Italien, der Schweiz und Deutschland, heute ein muslimisches Land, da würde doch kein Polizist eine Frau durchsuchen.

„Bullshit, absolute Bullshit“, sagt Nevila wieder. Was für einen Profi wie sie etwas Besonderes ist. Bei Kontrollen verhält man sich eher ruhig. Sie sagt, während die Polizisten die Papiere kontrollieren, „Hodscha hatte keinen Doppelgänger, das ist Fantasie.“ Aber hey, Nevila, in diesem Buch wird der deutsche Botschafter zitiert, er spricht über Petar Shapallo, seitenlang. „Bullshit“, ruft Nevila zu laut und wild. Einer der Polizisten dreht sich zu ihr hin, die Kalashnikov vor seinem Körper schwingt sich auch in unsere Richtung. Sie spricht perfekt englisch, hat, als die Journalisten aus aller Welt kamen nach Albanien, in den köchelnden Bürgerkrieg, lange für CNN gearbeitet, für englische Zeitungen, für die International Harald Tribune. Für alle, die eine Dolmetscherin und Stringerin brauchten, jemanden, der sich auskannte, der jeden kannte, der genau wusste, wer, wo und wie. Damals als jeder Albaner, nachdem die staatlichen Waffenlager geplündert worden waren, zwei oder drei Kalashnikovs besaß. Als plötzlich an jeder Ecke die Blutrache, die Enver Hodschas Regime unterdrückt hatte, wieder tobte. Als Mord und Totschlag in Mode waren. Als Bedrohung beim bloßen Atmen zu spüren war. Wenn Nevila, die nun für die Soros Foundation arbeitet, also jeden Tag acht, neun englische Zeitungen und Magazine im Büro lesen und mit englischen Mitarbeitern Konversation üben kann, wenn sie „Bullshit“ ruft, klingt sie nicht wie vom Balkan, sonst wie aus Oxford.

Sie sieht nett und lieb aus, spricht formvollendet, damenhaft, aber sie ruft „Bullshit“ bei zwei Themen: Hodschas Doppelgänger und bei den Gesprächen über Barry Levinsons Film „Wag the dog“. Der, damals neu, handelt von einem Hollywood Spin Doctor, der dem von medial verbreiteten Sexaffären geplagten US-Präsidenten – ja, es war die Lewinski-Zeit - vor der Wahl hilft, indem er einen kleinen Krieg startet, gegen, na, irgendein kleines Land. Nehmen wir eines, das keiner kennt, nehmen wir doch Albanien. Wenn Nevila darüber spricht, kann sie lachen, das sei schon lustig. Und klar, das Land war 30 Jahre lang völlig abgekapselt vom Rest der Welt, der einzige Verbündete Nord-Koreas beispielsweise. Enver Hodscha, der Diktator, sah Mao als Abweichler vom Weg zum wahren Kommunismus. Stalin war in Ordnung, alle, die nach ihm kamen, nur noch Revisionisten. Am Ende gab es nur ein wirklich kommunistisches Land auf Erden: Albanienen eben. Es ärgert Nevila ein bisschen, dass es Albanien erwischt hat in „Wag the dog“, aber ok, da dürfe man sich nicht wundern. Aber dieses Doppelgängerbuch. „Bullshit“. Ihr Vater war ein höheres Tier bei der Luftwaffe, General, Kommandant. Die Familie war Nomenklatura. Nevila wuchs in den Siedlungen auf, in denen nur Hochkaräter mit ihren Familien lebten. Sie sagt, es gab keinen Doppelgänger, es gebe zuviele Geschichten von früher im neuen Albanien..

Wieder mal in Büchereien und wieder Nichts. Nur Vermutungen, Andeutungen von Pseudowissenden. Kein Beleg, aber zwei verständliche Gründe für Diktatoren-Doppelgänger. Erstens: Sicherheitsstreben. Wenn ein Attentat droht und tatsächlich kommt, soll es nicht den echten treffen, sondern den falschen. Klingt logisch. Aber: es gab beispielsweise im Ostblock nie ein Attentat auf einen Herrscher. Gut, es gab die Angst davor. Aber nicht einen einzigen Doppelgänger, der bekannt ist. Liege wahrscheinlich in der Natur der Idee. Was es gibt ist Fiktion: Ira Levins „Boys from Brazil“ ist das beste Buch. Und Filme. Einer wird oft genannt: „Titanien oder die Nacht des Doppelgängers“, wirkt nicht wie ein Spielfilm. Er handelt von Nicolai Ceaucescu, dem rumänischen Diktator. Der Film passt wegen des Titels. Nur: schon mal gesehen? Es ist mühevoll, ihn aufzutreiben, dauert Jahre. Jahre für nichts. Denn der Titel und der Inhalt, naja, es geht nicht um einen Doppelgänger. So oft der Film auch für die Doppelgängertheorien benutzt wurde, er ist nur „allegorisch“.

Der zweite Grund für Doppelgänger, der in der Literatur auftaucht: man kann mit ihrer Hilfe den Anschein von Allgegenwart erwecken. Kann? Könne. Das baut auf Erich Kästners „Schule der Diktatoren auf“, der massenhaft Diktatorendoubles auftreten lässt, damit die überall und ständig sichtbar sind. Allgegenwart bedeutet: der Diktator kann innerhalb von ein paar Stunden überall auftauchen, theoretisch gleichzeitig wo sein, Gotthaft wirken, mächtig zumindest. So wie ein amerikanischer Präsident, wenn er auf Europareise ist und hier ein paar Stunden, da ein paar und dann dort noch ein paar auftaucht. Berlin, Warschau, Riga und dann Weiterflug nach „bitte einfach was einsetzen“. Dabei immer topfit und frisch. Jedoch: es gab, da kann man suchen, so lange man will, gar keinen Diktator, der ständig überall war. Die Auftritte der Diktatoren im Ostblock und auf dem Balkan waren meist eher selten dosiert und deshalb immer was Besonderes, Beeindruckendes, lieferten Szenen, an denen man ruminterpretieren konnte. Etwa so: Stalin hat Molotov nicht angeschaut, das hat was zu bedeuten. Tito hat keine Hand geschüttelt, vermutlich zittert er zu stark. Weniger war da mehr. Allgegenwart aber, das könnte man heute, in Zeiten der elektronischen Medien, leichter haben. Dieselben Bilder immer wieder, das ist doch schon Allgegenwart.

Lloyds Jones Buch wird, als es erscheint, gelobt in den Kritiken. „Von derart starker Reiseprosa ist das deutsche Publikum nicht gerade verwöhnt“, schreibt die TAZ. Die Geschichte sei so gut, steht in der FAZ, man müsse sich bei der Lektüre ein paar Mal versichern, dass auf dem Buchumschlag nicht Roman steht. Doch „nein, es ist ein wahrhaftiger Reisebericht. Jeder, der schon einmal hier gewesen ist, kann es bestätigen.“ Ähnlich der Tagesspiegel, dessen Rezensent nach der Lektüre der „grausamen, unglaublichen Begebenheiten“ nachdenklich wird und zu dem Schluss kommt: „Aber die mühevollen Recherchen von Jones sind wahr“. Lloyd Jones Reportage, das spürt man, die stimmt, solche Details kann sich niemand ausdenken.

2004: Der Irak-Krieg ist, von amerikanischer Seite zumindest offiziell verlautbart, zu Ende. Es erscheint in verschiedenen Zeitungen die Geschichte von Al Bashir. Der war Saddams Arzt, ein Chirurg und Bildhauer. Was für eine Kombination, zumal er auch Schönheitsoperationen machte. Er muss damit leben, dass noch heute in den irakischen Zeitungen steht, er habe Saddam-Doppelgänger geschaffen. Was er abstreitet. „Bashir lachte bitter und sagte, dass eine weitere Geschichte kursiere, in der es heißt, er sei mit Saddam geflohen, habe ihn operiert und sei dann von Saddam getötet worden, damit seine Identität geheim bleibe“, erzählt der Reporter des New Yorker, Jon Lee Anderson, in seinem Buch „The Fall of Bagdad“. Noch so ein Mythos, die neue Identität. Es sei im Fall Saddam Hussein nichts dran. Da ist sie wieder, die Sucht, die Frage nach Enver Hodschas Doppelgänger.

Es gibt nur einen Bedarf an Doppelgängern. Weil die eine gute Geschichte bieten, weil sie die Fantasie anregen, weil wir, quasi als Konsumenten, sie wollen. Ausnahme war wohl Enver Hodscha, Albaniens Diktator, der ja sowieso seltsamer als andere war. Der Mann hat für jeden Albaner einen Platz in einem Bunker geschaffen, das Land überzogen mit diesen pilzartigen Betonhalbkugeln. Wo man steht in Albanien, man sieht mindestens einen Bunker. Auch Hodschas Drang, sich mit allen anzulegen war bizarr. Mao und den chinesischen Kommunismus zu verdammen als Revisionisten, den sowjetischen sowieso, Titos jugoslawischen Weg auch, jede Art von Kommunisums. Einer gegen alle, das ist seltsam. Das Land vierzig Jahre völlig zu isolieren, Grenzen dicht zu machen, ein Terra Incognita in Europa zu schaffen, die Zeit still stehen zu lassen. Den Bewohnern eines kargen steinigen Landes klar zu machen, dass sie im Mittelpunkt der Welt leben, dass sie wehrhaft sein müssen, weil alle anderen gerne ihr Land überfallen, in ihr Paradies eindringen wollen. In ein Paradies, in dem man karg lebt. Wahnsinn. Da wäre ein Doppelgänger noch am folgerichtigsten, weil in Albanien alles nahe am Irrsinn war. Wenn Doppelgänger, dann in Albanien, dem Land der Skipetaren, das keiner kennt, wo niemand war.

Wieder Lesetage, Suchen. Saddam Hussein taucht nochmal auf. Besser, sein Sohn Odai. Der habe einen Doppelgänger gehabt. Der schreibt ein Buch. „Ich war Saddams Sohn. Als Doppelgänger im Dienst des irakischen Diktators Hussein“. Es gibt nicht viel her, ist reißerisch, wirkt nicht wirklich glaubhaft. Und reitet gar nicht mal so arg auf dem Doppelgängertum herum, sondern erzählt, dass Odai eher einen Schatten haben wollte, jemand, der ihm ähnlich sah und immer neben ihm stand. Vielleicht aus Sicherheitsgründen. Vielleicht aber, naja, wer will das verstehen? Latif Yahia jedenfalls haut ab und flieht nach Jordanien, was der These, der Doppelgänger ist wichtig, muss immer zur Hand sein, nicht wirklich hilft. Doppelgänger, das ist ein Mythos, benutzt um ein Buch zu verkaufen.

Rückblick: sieben Jahre nach Jones in Tirana. Vor einem großen dicken Holztor. Das Haus wirkt wie eine Festung. Der Sohn von Enver Hodscha macht auf, der jüngere. Hodscha hatte zwei. Er öffnet, sagt auf französisch, dass er genervt sei, wie oft ich denn noch anfrage. Er sage nein und fertig. Und ich lüge ihn an, sage, ich werde noch einen Monat hier sein und anrufen und klopfen. Täglich. Wir könnten uns doch jetzt kurz zusammensetzen. Er will nicht, reagiert auch nicht auf die Fragen. Erst als ich sage auf englisch, weil ich das Wort Doppelgänger auf französisch nicht kenne, sage, mich würde eigentlich vor allem interessieren, ob es den Doppelgänger seines Vaters wirklich gab, wirkt er etwas offener. Seine Gesichtszüge, die verbissenen, entspannen sich.. „Nein“, sagt er, „das ist absoluter Blödsinn.“ Aber es wurde als wahre Geschichte präsentiert. „Es ist gelogen.“ Der deutsche Botschafter wird zitiert, sage ich, der kann sich sowas doch nicht ausdenken. Hodscha junior sagt: „Ach, ich müsste es doch besser wissen.“ Bumm, die Holztür knallt zu.

Am Vortag in der deutschen Botschaft von Tirana. Der Botschafter sei in Urlaub, heiße …, die Diplomatin nennt den Namen. Sie sei erst sechs Monate hier, den Namen des Vorgängers weiß sie auch. Aber Gert Munz habe sie noch nie gehört. Sie fragt herum, kommt nach zehn Minuten zurück. Nein, keiner kenne den Namen, hier sei aber niemand mehr, der Anfang der 90er Jahre hiergewesen sei, als es hier rund ging. Gert Munz, der Name taucht auf als der, der Shapallo, dem Doppelgänger hilft, der Jones, den Autor von „Der Mann, der Enver Hodscha war“ zu ihm bringt. In ihrem Büro gibt es Kaffee und die Aussage: „Keine Ahnung, ich hab das Buch gelesen, es klang wahr, finde ich.“ Aber sie habe noch nie nachgefragt, hätte noch nie Zweifel gehabt. Sie werde sich erkundigen und anrufen, zur Not nach Deutschland. Der Anruf kam nie. Das ist mein Knackpunkt: hier hätte man alles klären können. Ganz einfach. Ein Anruf beim Auswärtigen Amt, nach Gert Munz fragen, ganz einfach. Warum nicht? Spielt das Unterbewusstsein mit? Ein Verdrängen? Ein Glaubenwollen?

Irgendwann mal wieder ein Anfall. Im Internet: David Jones aus Liverpool lobt in einer der Amazon-Laienbesprechungen das Buch von Lloyd Jones als toll. Ja, ist es ja auch. Aber es sei falsch. Schon mal einen David Jones in Liverpool gesucht? Per Telefon? Damals, 2000, war das Internet noch nicht das, was es heute ist. David Jones in Liverpool suchen, das dauert, das sind viele Anrufe. Ist wie Hans Mayer in München. Nach Monaten hab ich einen dran, der mir sagt, ja, „great book but a fake“. Das Problem des Telefongesprächs ist seine Aussprache. Ich verstehe ihn kaum. Woher er es weiß? Ein Satz mit „fact“. Ob er verwandt sei mit Jones, dem Neuseeländer? Irgendwas und zu verstehen nur das Ende: „als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, hat er es zugeben, ein Fake“. Woher er es wisse? Wer ist David Jones? Vertrauenswürdig? Wer, der einem Verwandten eins auswischen will? Lässt sich nicht klären.

Noch ein paar Jahre später in New York: die Frau des britischen Fotografen Andrew Tesla ist Albanierin. Ah sag ich, da war ich mal. Ob sie die Geschichte kenne von dem Doppelgänger, Petar Shapallo? Im Wohnzimmer in Brooklyn Hights sitzend lacht sie, mit dem Baby auf dem Arm. Der Kleine schreit und sie erklärt, dass sie es nicht glaube. Shapallo sei in Albanien ein Name wie Miller in den USA. „Petar Shapallo, nein, das mit dem Doppelgänger, das ist Satire.“ Ich hab sie gefragt, weil ein Jahr zuvor das Buch, ursprünglich bei Hanser erschienen war, als Taschenbuch beim Wagenbach Verlag herauskam. Nur steht nicht mehr „Reportage“ auf dem dem Umschlag, sondern „Roman“. Schrecklich. Aber da ist dieses „Was nicht sein darf, darf nicht sein Gefühl“. Es setzt sich durch. Die Pressestellen beider Verlage, die Lektoren auch, wissen von nichts. Warum nun Roman darauf stehe statt Reportage? Keine Ahnung sagen sie. Sei ja lange her mit dem Buch. Ab jetzt ist es nicht nur ein kaum wahrnehmbares Gefühl, nun ist es starker Zweifel: es gab keinen Falschen, nur den Echten.

Wieder lesen. Doch, es riecht, es schmeckt, man fühlt die Geschichte. Der Stil ist klar und simpel, kein Wort zuviel, „lakonisch“, nennen es die Rezensenten. Es zeigt viel Einfühlen, viel Nachvollziehen, viel Logik, viel Überraschung, die perfekte Mischung. Ich erkenne Bilder wieder, die ich in Albanien gesehen habe. Die Wirklichkeit, manchmal ist sie wirklich wirklich niedergeschrieben. Das Leben schreibt die besten Geschichten. So ein Buch ist es. Es ist gut und ob es wahr ist, ist egal. Sag ich mir. Und glaube immer noch daran. Sommer 2007, eine miese Nacht. Die mit der Idee, die schon neun Jahre im Kopf ist, sonst wäre ich nicht in die Deutsche Botschaft in Tirana marschiert, die Idee, immer unterdrückt, setzt sich am Morgen durch. Anruf beim Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland. Die Pressestelle bitte. Buchstabiere den Namen Gert Munz. Erzähl die Geschichte. Mach mich lächerlich. Tagelang, wochenlang höre ich nichts. Dann der Anruf, der es beendet. Es gab und gibt keinen Gert Munz. Ich lege auf. „Bullshit!“ Die Sucht ist besiegt.