In Manns Welt

von 
Tagebuch
zuerst erschienen im März 2005 in Der Freund Nr. 3
Ein engagiertes Haarausfalltagebuch im snuggy Berliner Gesellschaftswinter. Diskutiert: Das Backfett Crisco, Brut Lancasters Gehör, Neumark in Pommern, Softporngraphie, die späte Milch des Verlegers Malchow, Plappermaschine Yoga, was man bei der WamS so trinkt, Wolfgang Tillmans, „Schützt die Umwelt“, Alpecin, intensiver Hundegeruch, fuzzy’n frizzy, Jude Laws E-Mailadresse, Beziehungsgoodies wie I-Sight, Glatzenrechner. Nicht diskutiert: Morrissey

Mittwoch, 12.01., 09.02 Uhr

„Cut And Coffee“

Beim Schnellfriseur ziehe ich die Wartenummer 61 und gerate an einem Mann, der mich an meine Tage als Barkeeper in der Hamburger Homosexuellendisko „Front“ erinnert: Sein kräftiger Schnauzbart sieht aus, als klebten noch Reste des amerikanischen Backfetts „Crisco“ darinnen. Während der Kopfwäsche massiert er besonders eingehend die vorderen Partien meines Haupthaares. Mit jeder seiner kreisförmigen vermutlich einfühlsam gemeinten Fingerbewegungen zerrt er, so rechne ich mit, ein paar durchaus noch lebensfähige Haare aus den Wurzeln. Ich schwitze leicht, wie stets beim Friseur, und ich gebe ihm hinterher ein üppiges Trinkgeld (3 Euro).

Donnerstag, 13.01., 9.47 Uhr

Fahrrad

Ein Plakat weist auf den Globalisierungsgegnerfilm „Die fetten Jahre sind vorbei“ hin. Zu sehen sind eine hässliche junge Frau und zwei Männer mit dem, was mir mein Kollege Dr. Ulf Poschardt einmal als „blöde Mitte-Frisur“ untersagte: asymmetrische halblange Fetthaare. Ich fahre jetzt etwas schneller.

Freitag, 14.01., 18.32 Uhr

Redaktion Berliner Kindl

Der Tag, an dem die Nachricht von Rudolf Mooshammers gewaltsamen Tod um die Welt geht. „Noch am vergangenen Samstagabend hatte er in einem Schwabinger Nobelrestaurant mit Sänger Roberto Blanco und dessen Ehefrau Mireille öffentlich deren Versöhnung gefeiert“, schreibt eine Nachrichtenagentur. Dabei klatschte der Sänger einer südamerikanischen Tänzerin auf den Po, während Mooshammer, im Jahre 2000 mit den Martinsmantel des katholischen St. Michaelsbundes geehrt, applaudierte. Dazwischen saß die ungeschminkte Frau Blanco, die der heitere Entertainer nur tageweise zur psychischen Erholung in ein Sanatorium ließ. „Wenn man in bestimmten Kreisen verkehrt, ist es halt gefährlich“, wird ein Nachbar zitiert. Und: „Mooshammers Homosexualität sei ein offenen Geheimnis gewesen.“

Bei einem Interview im verspiegelten Hinterzimmer seines Geschäfts auf der Maximilianstraße – im Verkaufsbereich nur dünne, eher preisgünstig aussehende Jünglinge – sprang mir vor einigen Jahren sein Zwerg-Yorkshire-Terrier „Daisy“ auf de Schoß und begann, meine rechte Hand zu lecken. Noch nie hatte ich einen kleinen Hund erlebt, der so intensiv roch.

Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, blicke ich in eine Glaswand, hinter der ein Schrank aus hellbraunen Furnierholz steht, ich blicke in einen Panasonic-Fernseher und auf eine große Fensterscheibe. So sehe ich mein Spiegelbild mal von der Holzmaserung strukturiert, mal vom Bildschirm verzerrt, mal von den Lichtern Berlins durchschienen. Was ich durch die Verzerrungseffekte nicht sehe, aber weiß: mein Haupthaar wird dünn.

Zum ersten Mal fiel mir das auf, als ich in die Schneidezahnlücke eines jungen Österreichers schaute, der sich als Hairstylist selbständig machen wollte. Neben ihm tragen Madonna, Arnold Schwarzenegger und der Publizist Franz-Josef Wagner diese Lücke. Sie steht also für Willenskraft und Kreativleistung. Um so schmerzhafter war die Erkenntnis, daß ich, wenn ich meinen Haaren glauben darf, die besten Tage schon hinter mir habe. Andere werden die für übertrieben halten, doch für mich ist eine receding hairline was die Schritte aus der Nachbarwohnung für Burt Lancaster in Viscontis „Gewalt und Leidenschaft“ sind: Vorboten des Endes.

Dabei stamme ich aus einer väterlicherseits gesegneten Familie. Meine Oma, eine sittenstarke Bäuerin aus Neumark in Pommern, trug ihre Haare unter einem zarten Netz verborgen und für ihre eigenen moral values überraschend kurz. Sie waren bis über das 90. Lebensjahr hinaus fast pechschwarz. Und auch mein Vater ist erst in den letzten Jahren zögerlich ergraut. Ich könnte schwören, er hat heute mehr Haare auf dem Kopf als ich. Auf einer Tasse mit dem Schriftzug „Schützt unsere Umwelt“, die ich fast täglich bei der Redaktionsarbeit nutze, küssen sich eine Schildkröte und ein Frosch. Dieser gleicht dem aufgeblasenen Exemplar, das zwei Jungen in dem Film „Schrei in der Stille“ durch einen Steinschleuderschuß zum Platzen bringen, so daß die Aphibieninnereien einer zufällig des Feldweges daherkommenden Witwe ins Gesicht platzen. Ein schönes Bild, aber ein schwacher Trost.

Freitag, 14.01., 20.23 Uhr

U2

„Habe ich nicht viele Haare?“, fragt Wolfgang Joop in der „Weltwoche“: „Das liegt daran, daß ich keine Brusthaare habe“. Auch ich habe nicht sehr viele Brusthaare. Als ich trotzdem den ersten Schwund, den Ansatz von Geheimratsecken entdeckte, war mein erster Impuls, die kläglichen Reste abzurasieren. Seit mein Partner jedoch nach New York gezogen ist, muß ich sie wieder lassen wachsen. Mit dem Internet-Bildtelefon i-Sight, entwickelt von Steve Jobs, kontrolliert er fast täglich, ob sie schon weder „schön lang“ sind, wie er es nennt, geworden sind.

Samstag, 15.01., 19.05 Uhr

Münzclub

Nach der Ausstellungseröffnung von Luc Tuymans besuche ich meine Yoga-Lehrerin Kristin Rübesamen und ihren Mann, den Spiegel-Autor Thomas Hüetlin, zum Abendessen. Es gibt Spanferkelbraten mit „rescher“ Kruste und einen Kartoffelsalat nach einem Rezept von Alfons Schubeck. Hüetlin, der ungern aber exzellent kocht, hat statt Frühlingszwiebeln Knoblauch hinzugefügt. Den ganzen Abend verlieren beide kein Wort über meine Haare. Im Münzclub begegne ich Philipp Selzer, einem Mitarbeiter der Galerie carlier I gebauer. Seine receding hairline ist unübersehbar, doch da er das Haar kurz und im Kaminlicht rötlich schimmernd trägt, wirkt er wie ein britischer Bankangesteller aus ursprünglich eher einfachen Verhältnissen, der nach einigen Lager zu vielem bereit ist.

Sonntag, 16.01., 7.32 Uhr

Panorama Bar

Das Haupthaar des jungen Brasilianers, der in der Panorama Bar unter der überlebensgroßen rasierten Vagina von Wolfgang Tillmans steht, ist von einer weichen Drahtigkeit, die auf negroide Wurzeln hinweisen. Da meine Begleitung im Darkroom verschwunden ist, gähne ich verstohlen in mein Beck’s und streiche über meinen Adlerfederanhänger von Marc Jacobs. Elton John, der zeitweise keine zehn Minuten ohne eine „line“ Kokain ertrug, schwört, daß er ein anderer Mensch ist, seitdem er hair implants trägt. Der Vorteil: Er muß im Gegensatz zu Udo Lindenberg keinen Hut mehr tragen. Der Nachteil: Die Implantate sind recht wulstig geraten.

Montag, 17.01., 20.04 Uhr

Wohnung Heinz

Heinz Peter Knes, der Fotograf, trägt die Haare recht kurz. Auf seiner jüngsten Serie, die ihn bei zahlreichen sexuellen Aktivitäten in der spanischen U-Boot-Metropole Caragena zeigen, glichen sie noch einem ausgedünnten Bob. Was zurück führt in eine Zeit, als ich von einem Vidal-Sassoon-Friseur zusammen wohnte. Sein Modevorbild war der viel zu früh ertrunkene Asthmatiker Brian Jones („Lead-Gitarrist“ der Rolling Stones). Nur daß R. nicht dessen Stämmigkeit hatte, wodurch sein volles Haar seine ganze Erscheinung zu dominieren schien. Zu R. in den Salon kam ich im Sommer 1993 mit Robin X., der zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Conga-Spielerin der New Yorker Spaßband Dee-Lite. Sie trug eine voluminöse, wenngleich verfilzte Perücke. Der Salonleiter hat den prominenten Gast auf einen Ehrenplatz und hob dann, unter den erstaunten Blicken der gesammelten Belegschaft mit spitzen Fingern den Kunsthaarschopf. Das sich fettig über die Kopfhaut schlängelnde spärliche Echthaar war ein milder Schock für alle Anwesenden. Ob es auch roch, konnte ich aus der Entfernung nicht beurteilen. Diese Szene mag der Grund sein, warum ich beim Friseur schwitzen muss.

Dienstag, 18.01., 21.47 Uhr

Yoga-Zentrum Spirit

Yogi Tee

In den vom anthroposophischen Architekten Hinrich Baller gestalteten Rosenhöfen sitze ich nach der Yoga-Stunde in einem von der Farbe Rosa dominierten Dachgeschoß und trinke recht streng schmeckenden Yogi-Tee. Im New Yorker Yoga-Underground wird die receding hairline heftig diskutiert. Manche lehnen wegen ihres Haarausfalls allzu viele Kopfstände ab. Andere glauben, daß gerade dadurch die Haare quasi am Kopf festgedrückt werden. Baller war der vielleicht andrucksvollste meiner Architekturleher. In seinen frei assoziierten und angenehm richtungslosen Vorlesungen trug er zu seinem sehr langen, grau durchzogenem Haupthaar eine enge Lederhose, ein weißes, nicht eben hochgeschlossenes Rüschenhemd, sowie ziemlich elegante Lackschuhe. Er ähnelte Klaus Kinski in dem von ihm selbst produzierten, softpornografischen Biopic „Paganini“. Bis auf daß Ballers linkes Auge sich nur einmal alle zehn Minuten öffnete.

Donnerstag, 20.01., 10.55 Uhr

Wohnung Yasmine & Alexander

Erwachte neben einem Rotweinfleck bei Yasmine Gauster und Alexander Schröder. Gestern viel zu lange unter anderem über Yasmines fuzzy und frizzy Haar gesprochen, während der Chihuahua Tobi an einem Kalbsknochen nagte und wir nach und nach den 4 Meter hohen Weihnachtsbaum mit einer Axt zerlegten und im Kamin verbrannten.

Donnerstag, 20.01., 20.35 Uhr

Einstein/Kurfürstenstraße

Grüner Veltliner (Bründlmeyer)

Ein Glücksfall: meine beiden Lieblingsdialekte an einem Abend. Zunächst hält der Verleger Helge Malchow eine Begrüßungsansprache in seinem milchig plätschernden Kölsch. Danach liest Eva Menasse aus ihrem Roman „Vienna“. Wie jede Wienerin aus gutem Haus klingt sie wie Condoleeza Rice: artikuliert, musisch, nicht ungefährlich. Während Menasse also von den Bridgepartien ihrer Großmutter berichtet, fällt mir der Internet-Glatzenrechner ein, mit dem die Firma Alpecin angeblich bereits über eine Million deutscher Männer dazu gebracht hat, sich ihre persönliche Haarausfallprognose erstellen zu lassen.

Freitag, 21.01., 9.35 Uhr

Redaktion

Espresso Macchiato

„Wenn Sie Ihren täglichen Haarausfall bestimmen wollen, achten Sie bitte auf Folgendes: Zählen Sie morgens die Haare, die Sie auf dem Kopfkissen vorfinden, kämmen Sie anschließend über dem Waschbecken Ihre Haare im Kamm und im Becken. Wiederholen Sie den Vorgang abends vor dem Schlafengehen und bilden die Summe aus den drei Zählungen“. Da ich auf derartig komplizierte Anweisungen nicht vorbereitet war, muß ich schätzen. So gebe ich bei www.alpecin.de/glatzenrechner/popup.html auf die frage, wie viele Haare mir täglich ausfallen, die Kategorie „sehr stark“ an (mehr als 120 Haare). Die Dr.- Kurt-Wolff-Forschung hat diesen Test entwickelt, das Ergebnis ist in meinem Fall wie erwartet: „Ihren Angaben entsprechend werden Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit  im Alter von 44 Jahren ein Glatze bekommen oder größere Mengen Ihrer Haare verloren haben.“ Immerhin: Mit „After Shampoo Liquid“ (5,49 Euro) und „Aktiv Shampoo A3“ (3,79 Euro) kann ich diesen Prozeß möglicherweise abbremsen.

Samstag, 22.01., 19.04 Uhr

Staatsoper Berlin

Piccolo

Im ersten Rang sitzt der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, die Mähne milde zerzaust, den Vollbart unbeirrt vor sich hertragend. Die Besetzung des Stücks „Katja Kabanova“ hat ingesamt ein Haarproblem. Kann man mit Halbglatze jugendlichen Liebesüberschwang noch überzeugen darstellen?

Danach esse ich mit Adrian Runhoff im Cantamaggio, am Nebentisch sitzt, mit verräterisch kurzen Haaren, der Kunstwerke-Gründer und MoMA-Kurator Klaus Biesenbach. Runhof ist einer der Designer der Münchner Modemarke Talbot Runhof, bekannt aus der „Bunten“. Bei dem Versuch, eine Liste der besten Modedesigner aller Zeiten zu erstellen, geraten wir uns fast in die Haare: Er plädiert für Geoffrey Beene und lässt sich nur ungnädig davon überzeugen, Yves Saint Laurent aufzunehmen. Dann sitzen wir in der Wohnung einer gütigen Frau, deren gesamte Küche voller Piccolo-Flaschen Moët Chandon steht. Es müssen Tausende sein. Die zufällig anwesenden dänischen Fotomodelle sind recht schweigsam.

Sonntag, 23.01., 20.30 Uhr

Wohnung Richard

Jude-Law-Debatte, mit dem Werbefilmproducer Richard Rossmann. Vor kurzem wurde der Schauspieler vom Magazin „People“ zum „sexiest man alive“ ernannt. Zu spät, wie ich meine. Seine Bestform hatte er sicherlich in dem Fiom „Gattaca“, in dem er in einer Villa von Tadao Ando im Rollstuhl saß und sterben wollte. Heute dagegen spielt er in vielen eher ominösen Filmen mit und seine receding hairline ist mehr als auffällig. Schicke eine E-Mail an jude@naturalnylon.com: „Dear Jude Law: For the German/Nepalese magazine DER FREUND I am writing a story called „In Manns Welt“. Would you like to contribute something to that subject? Needless to say, I am a fan of yours since „Gattaca“. Best wishes: Adriano Sack.

P.S. Check: www.alpecin.de/glatzenrechner“.

Dienstag, 25.01., 13.37 Uhr, Margaux

Kopfsalatpüree & Pochiertes Ei

Im auf Unbehaglichkeit runtergekühlten Margaux sitzt die nach wie vor rothaarige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczoreck-Zeul, von der ich träumte, sie habe ich vor Jahren nach einem aufgekratzten Abendessen in einem Frankfurter Nobelrestaurant mit einem hochrangigen Bänker auf der Kühlerhaube seines Autos vergnügt. Am Nachbartisch: Lea Rosh, deren Haare so dunkel sind wie seit Jahrzehnten nicht. „Heidi Klum kann ein Lächeln anschalten wie eine Maschine“, sagt die Stilkritikerin Gabriele Thiels anerkennend, wenn auch nachdenklich. Und ein Freund, der Autor und Publizist Clark Parkin, erklärt, wie man erkennt, ob jemand Haar-Implantate trägt. „Kreisförmige Haarteile werden aus dem Halsbereich gestanzt und oben wieder eingepflanzt“, erläutert er bei einem Sauvignon blanc aus Menetou-Salon an der Loire: „Nebeneinander gepflanzt sehen die Segmente aus wie eine Haarbürste“.